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Social-politische Blätter. 2. Lieferung. Berlin, 3. Februar 1873.

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Zur Unterhaltung und Belehrung. 39
[Beginn Spaltensatz]

-- Wer hat die Tapferkeit geerbt, die Landstreicher, die
Wölfe, da sie allein noch kämpfen gegen die Unterdrücker.

-- Und wir werden gehetzt und verfolgt wie Thiere des
Waldes.

-- Sie nennen uns Räuber.

-- Mörder.

-- Kirchenschänder.

-- Brüder, wenn man uns so anklagt, sündigt man gegen
die Ehrfurcht, die man unseren Herrn schuldig ist; wir folgen ja
nur deren Beispiele; sie morden, wir thun es auch; sie rauben,
wir auch..

-- Wir wollen lustig und schnell leben, Schwestern, und dann
schnell und jung sterben, sagte eine der Frauen. Willst Du sterben,
mein Wolf?

-- Wann, Schatz?

-- Morgen mit dem ersten Sonnenstrahle, wenn die Vögel
erwachen. Willst Du mit sterben? Wir gehen mit einander
in die andere Welt, wo unsere Vorfahren uns erwarten.

-- Bist Du der Liebe schon so müde, meine schöne Nonne?

-- Fürchtest Du den Tod?

-- Jch fürchte nur eins: das Leben ohne Dich.

-- Morgen also sterben wir mit einander.

-- Darum lebe die Liebe bis Morgen früh! Auf Abschlag
einen Kuß, nicht wahr?

Der Jäger nahm sich den Kuß.

Nach Beendigung des Mahles begann ein wilder lustiger
Tanz der Landstreicher und ihrer Mädchen. Der Eremit hatte
schweigend zugesehen und zugehört und saß neben der kleinen
Gudrun, der er seinen väterlichen Schutz angedeihen lassen zu
wollen schien. Das Kind hatte das Kinn in die Hand gestützt,
blickte nach dem Monde hinauf und schien nichts zu beachten, was
um sie her vorging. Siegfried endlich trat zu ihr und forderte
sie auf, mit ihm und dem Freunde unter einer großen Eiche Platz
zu nehmen. Sie that es und begann leise ein Lied vor sich hin-
zusummen, bis sie allmälig einschlummerte.

-- Armes Kind! sagte Siegfried, indem er sie sorgsam mit
seinem Mantel zudeckte; sie ist ermattet.

-- Siegfried, sagte der Eremit mit einem forschenden Blick
auf seinen Gefährten, dies Lied hat mir Thränen in die Augen
gelockt.

-- Mir auch.

-- Was bewegt Dich dabei?

-- Eine Familienerinnerung, wenn ein Wolf, ein Heimath-
loser, eine Familie hat.

-- Welches ist die Familienerinnerung?

-- Die Helden=Jungfrau Frigga, von welcher das Lied er-
zählt, gehörte meiner Familie an.

-- Woher weist Du das?

-- Mein Vater hat es früher mir gesagt; er erzählte in
meiner Kindheit Geschichten aus vergangenen Zeiten.

-- Wo ist dein Vater jetzt?

-- Das weiß ich nicht; er war unter den Landstreichern,
vielleicht ist er es noch, wenn er nicht gestorben. Jch werde das
erst erfahren, wenn wir uns in andern Welten wieder sehen.

-- Bist Du schon lange von Deinem Vater getrennt?

-- Lassen wir das; es ist traurig, und ich bin lieber heiter.
Gleichwohl fühle ich mich zu Dir hingezogen, und Du bist nicht
lustig.

-- Wir leben in Zeiten, wo man, um heiter zu sein, eine
sehr starke oder sehr schwache Seele haben muß.

-- Jch halte Dich für stark und schwach zu gleicher Zeit;
aber dein Vater..

-- Du willst durchaus von ihm reden?

[Spaltenumbruch]

-- Ja wohl.

-- So sei es. Mein Vater war in seiner Jugend Seekönig
und später, als die Ritter uns Landstreicher tauften, ist er ein
Landstreicher geworden. Der Kampf blieb derselbe, nur der
Name wechselte.

-- Und Deine Mutter?

-- Unter Wölfen kennt man seine Mutter wenig; ich habe
die meinige nie gekannt. So weit ich zurückdenken kann, war
ich etwa sieben oder acht Jahre alt; ich begleitete meinen Vater
auf den Wanderungen bald nach Friesland, bald nach Jütland,
zu Lande wie zur See. So wuchs ich heran. Ostmals waren
wir gezwungen, ruhig zu liegen. Bisweilen versammelten sich
die Ritter, die gegen uns aufgebracht waren, mit ihren Mannen,
um Jagd auf uns zu machen. Die Armen der Gegend, die uns
liebten, meldeten uns die Bewegungen der Feinde, und wir zogen
uns in unzugängliche Zufluchtsörter zurück, wo wir uns einige
Tage lang todt stellten, während die Ritter in der Gegend um-
hersuchten, ohne einen Schatten von uns zu sehen. Jn dieser
Ruhezeit, in einer Einöde, erzählten wir, wie gesagt, Geschichten
aus der vergangenen Zeit, und ich erfuhr da, daß unsere Familie
aus Ditmarsen stamme, wo sie vielleicht noch lebt, weil die Dänen
dahin zu dringen noch nicht vermocht haben.

-- Warum aber hat Dein Vater dies freie, friedliche Land
verlassen?

-- Mein Vater war siebenzehn Jahr alt. Eines Tages nahm
seine Familie einen reisenden Handelsmann gastlich auf, der von
dem Unglücke des Angelsachsenlandes und von dem abenteuerlichen
Leben der Seekönige erzählte. Meinen Vater langweilte das
Leben auf dem Felde; er hatte ein warmes Herz und einen feurigen
Sinn und in der Wiege den Haß gegen die Dänen eingesogen.
Die Erzählungen des Fremden reizten seine Lust gegen die Dä-
nen=Ritter zu kämpfen und sich den Seekönigen anzuschließen,
er verließ deshalb das elterliche Haus und suchte den Handels-
mann auf, der eine Stunde weiterhin ihn erwartete. Beide ge-
langten nach einem zweitägigen Marsche an eine Bucht der Nord-
see und trafen ein Freibeuterschiff. Mein Vater war jung und
rüstig, also willkommen. So gelangte er von Meer zu Meer.
Als die Dänen in Angelsachsenland weiter vordrangen, blieb er
im Lande, um es Schritt für Schritt zu vertheidigen. Das Land
war dem Gewerbe günstig, voll Wäldern, Sümpfen und Strömen.

-- Wann bist Du von Deinem Vater getrennt worden?

-- Vor drei Jahren. Einige Mannen des Dänenkönigs er-
hoben Abgaben. Obgleich zahlreich und wohlbewaffnet, reisten
sie doch nur am hellen Tage. Wir warteten das Ende ihrer
Ernte ab, um unserseits zu ernten. Eine Nacht blieben sie in
einer kleinen offnen Stadt. Die Gelegenheit reizte meinen Vater;
wir wollten die Dänen überfallen, aber sie waren auf ihrer Hut.
Nach einem erbitterten Kampfe wurden wir verfolgt. Während
dieses nächtlichen Angriffs wurde ich von meinem Vater getrennt,
und ich weiß es heute noch nicht, ob er gefallen, ob er ver-
wundet oder in die Gefangenschaft gerathen ist. Alle meine
Bemühungen, etwas über sein Schicksal zu erfahren, blieben ver-
geblich. Seitdem haben meine Gefährten mich zu ihrem Anführer
gewählt. Das ist meine Geschichte, und Du kennst mich nun.

-- Ja, mehr als Du meinst. Dein Vater hieß Beerwulf.

-- Woher weißt Du das?

-- Der Vater Deines Vaters hieß Siegmund. Wenn er
mit seinem älteren Sohne Siegmundsen und seiner Tochter Frigga
noch lebt in Dithmarsen, wohnt er in der Nähe der heiligen
Steine auf dem schwarzen Warf.

-- Wer hat Dir gesagt...?

-- Einer Deiner Vorfahren hieß Thorstensen der Sohn
[Ende Spaltensatz]

Zur Unterhaltung und Belehrung. 39
[Beginn Spaltensatz]

— Wer hat die Tapferkeit geerbt, die Landstreicher, die
Wölfe, da sie allein noch kämpfen gegen die Unterdrücker.

— Und wir werden gehetzt und verfolgt wie Thiere des
Waldes.

— Sie nennen uns Räuber.

— Mörder.

— Kirchenschänder.

— Brüder, wenn man uns so anklagt, sündigt man gegen
die Ehrfurcht, die man unseren Herrn schuldig ist; wir folgen ja
nur deren Beispiele; sie morden, wir thun es auch; sie rauben,
wir auch..

— Wir wollen lustig und schnell leben, Schwestern, und dann
schnell und jung sterben, sagte eine der Frauen. Willst Du sterben,
mein Wolf?

— Wann, Schatz?

— Morgen mit dem ersten Sonnenstrahle, wenn die Vögel
erwachen. Willst Du mit sterben? Wir gehen mit einander
in die andere Welt, wo unsere Vorfahren uns erwarten.

— Bist Du der Liebe schon so müde, meine schöne Nonne?

— Fürchtest Du den Tod?

— Jch fürchte nur eins: das Leben ohne Dich.

— Morgen also sterben wir mit einander.

— Darum lebe die Liebe bis Morgen früh! Auf Abschlag
einen Kuß, nicht wahr?

Der Jäger nahm sich den Kuß.

Nach Beendigung des Mahles begann ein wilder lustiger
Tanz der Landstreicher und ihrer Mädchen. Der Eremit hatte
schweigend zugesehen und zugehört und saß neben der kleinen
Gudrun, der er seinen väterlichen Schutz angedeihen lassen zu
wollen schien. Das Kind hatte das Kinn in die Hand gestützt,
blickte nach dem Monde hinauf und schien nichts zu beachten, was
um sie her vorging. Siegfried endlich trat zu ihr und forderte
sie auf, mit ihm und dem Freunde unter einer großen Eiche Platz
zu nehmen. Sie that es und begann leise ein Lied vor sich hin-
zusummen, bis sie allmälig einschlummerte.

— Armes Kind! sagte Siegfried, indem er sie sorgsam mit
seinem Mantel zudeckte; sie ist ermattet.

— Siegfried, sagte der Eremit mit einem forschenden Blick
auf seinen Gefährten, dies Lied hat mir Thränen in die Augen
gelockt.

— Mir auch.

— Was bewegt Dich dabei?

— Eine Familienerinnerung, wenn ein Wolf, ein Heimath-
loser, eine Familie hat.

— Welches ist die Familienerinnerung?

— Die Helden=Jungfrau Frigga, von welcher das Lied er-
zählt, gehörte meiner Familie an.

— Woher weist Du das?

— Mein Vater hat es früher mir gesagt; er erzählte in
meiner Kindheit Geschichten aus vergangenen Zeiten.

— Wo ist dein Vater jetzt?

— Das weiß ich nicht; er war unter den Landstreichern,
vielleicht ist er es noch, wenn er nicht gestorben. Jch werde das
erst erfahren, wenn wir uns in andern Welten wieder sehen.

— Bist Du schon lange von Deinem Vater getrennt?

— Lassen wir das; es ist traurig, und ich bin lieber heiter.
Gleichwohl fühle ich mich zu Dir hingezogen, und Du bist nicht
lustig.

— Wir leben in Zeiten, wo man, um heiter zu sein, eine
sehr starke oder sehr schwache Seele haben muß.

— Jch halte Dich für stark und schwach zu gleicher Zeit;
aber dein Vater..

— Du willst durchaus von ihm reden?

[Spaltenumbruch]

— Ja wohl.

— So sei es. Mein Vater war in seiner Jugend Seekönig
und später, als die Ritter uns Landstreicher tauften, ist er ein
Landstreicher geworden. Der Kampf blieb derselbe, nur der
Name wechselte.

— Und Deine Mutter?

— Unter Wölfen kennt man seine Mutter wenig; ich habe
die meinige nie gekannt. So weit ich zurückdenken kann, war
ich etwa sieben oder acht Jahre alt; ich begleitete meinen Vater
auf den Wanderungen bald nach Friesland, bald nach Jütland,
zu Lande wie zur See. So wuchs ich heran. Ostmals waren
wir gezwungen, ruhig zu liegen. Bisweilen versammelten sich
die Ritter, die gegen uns aufgebracht waren, mit ihren Mannen,
um Jagd auf uns zu machen. Die Armen der Gegend, die uns
liebten, meldeten uns die Bewegungen der Feinde, und wir zogen
uns in unzugängliche Zufluchtsörter zurück, wo wir uns einige
Tage lang todt stellten, während die Ritter in der Gegend um-
hersuchten, ohne einen Schatten von uns zu sehen. Jn dieser
Ruhezeit, in einer Einöde, erzählten wir, wie gesagt, Geschichten
aus der vergangenen Zeit, und ich erfuhr da, daß unsere Familie
aus Ditmarsen stamme, wo sie vielleicht noch lebt, weil die Dänen
dahin zu dringen noch nicht vermocht haben.

— Warum aber hat Dein Vater dies freie, friedliche Land
verlassen?

— Mein Vater war siebenzehn Jahr alt. Eines Tages nahm
seine Familie einen reisenden Handelsmann gastlich auf, der von
dem Unglücke des Angelsachsenlandes und von dem abenteuerlichen
Leben der Seekönige erzählte. Meinen Vater langweilte das
Leben auf dem Felde; er hatte ein warmes Herz und einen feurigen
Sinn und in der Wiege den Haß gegen die Dänen eingesogen.
Die Erzählungen des Fremden reizten seine Lust gegen die Dä-
nen=Ritter zu kämpfen und sich den Seekönigen anzuschließen,
er verließ deshalb das elterliche Haus und suchte den Handels-
mann auf, der eine Stunde weiterhin ihn erwartete. Beide ge-
langten nach einem zweitägigen Marsche an eine Bucht der Nord-
see und trafen ein Freibeuterschiff. Mein Vater war jung und
rüstig, also willkommen. So gelangte er von Meer zu Meer.
Als die Dänen in Angelsachsenland weiter vordrangen, blieb er
im Lande, um es Schritt für Schritt zu vertheidigen. Das Land
war dem Gewerbe günstig, voll Wäldern, Sümpfen und Strömen.

— Wann bist Du von Deinem Vater getrennt worden?

— Vor drei Jahren. Einige Mannen des Dänenkönigs er-
hoben Abgaben. Obgleich zahlreich und wohlbewaffnet, reisten
sie doch nur am hellen Tage. Wir warteten das Ende ihrer
Ernte ab, um unserseits zu ernten. Eine Nacht blieben sie in
einer kleinen offnen Stadt. Die Gelegenheit reizte meinen Vater;
wir wollten die Dänen überfallen, aber sie waren auf ihrer Hut.
Nach einem erbitterten Kampfe wurden wir verfolgt. Während
dieses nächtlichen Angriffs wurde ich von meinem Vater getrennt,
und ich weiß es heute noch nicht, ob er gefallen, ob er ver-
wundet oder in die Gefangenschaft gerathen ist. Alle meine
Bemühungen, etwas über sein Schicksal zu erfahren, blieben ver-
geblich. Seitdem haben meine Gefährten mich zu ihrem Anführer
gewählt. Das ist meine Geschichte, und Du kennst mich nun.

— Ja, mehr als Du meinst. Dein Vater hieß Beerwulf.

— Woher weißt Du das?

— Der Vater Deines Vaters hieß Siegmund. Wenn er
mit seinem älteren Sohne Siegmundsen und seiner Tochter Frigga
noch lebt in Dithmarsen, wohnt er in der Nähe der heiligen
Steine auf dem schwarzen Warf.

— Wer hat Dir gesagt...?

— Einer Deiner Vorfahren hieß Thorstensen der Sohn
[Ende Spaltensatz]

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[39/0015] Zur Unterhaltung und Belehrung. 39 — Wer hat die Tapferkeit geerbt, die Landstreicher, die Wölfe, da sie allein noch kämpfen gegen die Unterdrücker. — Und wir werden gehetzt und verfolgt wie Thiere des Waldes. — Sie nennen uns Räuber. — Mörder. — Kirchenschänder. — Brüder, wenn man uns so anklagt, sündigt man gegen die Ehrfurcht, die man unseren Herrn schuldig ist; wir folgen ja nur deren Beispiele; sie morden, wir thun es auch; sie rauben, wir auch.. — Wir wollen lustig und schnell leben, Schwestern, und dann schnell und jung sterben, sagte eine der Frauen. Willst Du sterben, mein Wolf? — Wann, Schatz? — Morgen mit dem ersten Sonnenstrahle, wenn die Vögel erwachen. Willst Du mit sterben? Wir gehen mit einander in die andere Welt, wo unsere Vorfahren uns erwarten. — Bist Du der Liebe schon so müde, meine schöne Nonne? — Fürchtest Du den Tod? — Jch fürchte nur eins: das Leben ohne Dich. — Morgen also sterben wir mit einander. — Darum lebe die Liebe bis Morgen früh! 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Jch werde das erst erfahren, wenn wir uns in andern Welten wieder sehen. — Bist Du schon lange von Deinem Vater getrennt? — Lassen wir das; es ist traurig, und ich bin lieber heiter. Gleichwohl fühle ich mich zu Dir hingezogen, und Du bist nicht lustig. — Wir leben in Zeiten, wo man, um heiter zu sein, eine sehr starke oder sehr schwache Seele haben muß. — Jch halte Dich für stark und schwach zu gleicher Zeit; aber dein Vater.. — Du willst durchaus von ihm reden? — Ja wohl. — So sei es. Mein Vater war in seiner Jugend Seekönig und später, als die Ritter uns Landstreicher tauften, ist er ein Landstreicher geworden. Der Kampf blieb derselbe, nur der Name wechselte. — Und Deine Mutter? — Unter Wölfen kennt man seine Mutter wenig; ich habe die meinige nie gekannt. So weit ich zurückdenken kann, war ich etwa sieben oder acht Jahre alt; ich begleitete meinen Vater auf den Wanderungen bald nach Friesland, bald nach Jütland, zu Lande wie zur See. So wuchs ich heran. Ostmals waren wir gezwungen, ruhig zu liegen. Bisweilen versammelten sich die Ritter, die gegen uns aufgebracht waren, mit ihren Mannen, um Jagd auf uns zu machen. Die Armen der Gegend, die uns liebten, meldeten uns die Bewegungen der Feinde, und wir zogen uns in unzugängliche Zufluchtsörter zurück, wo wir uns einige Tage lang todt stellten, während die Ritter in der Gegend um- hersuchten, ohne einen Schatten von uns zu sehen. Jn dieser Ruhezeit, in einer Einöde, erzählten wir, wie gesagt, Geschichten aus der vergangenen Zeit, und ich erfuhr da, daß unsere Familie aus Ditmarsen stamme, wo sie vielleicht noch lebt, weil die Dänen dahin zu dringen noch nicht vermocht haben. — Warum aber hat Dein Vater dies freie, friedliche Land verlassen? — Mein Vater war siebenzehn Jahr alt. Eines Tages nahm seine Familie einen reisenden Handelsmann gastlich auf, der von dem Unglücke des Angelsachsenlandes und von dem abenteuerlichen Leben der Seekönige erzählte. Meinen Vater langweilte das Leben auf dem Felde; er hatte ein warmes Herz und einen feurigen Sinn und in der Wiege den Haß gegen die Dänen eingesogen. Die Erzählungen des Fremden reizten seine Lust gegen die Dä- nen=Ritter zu kämpfen und sich den Seekönigen anzuschließen, er verließ deshalb das elterliche Haus und suchte den Handels- mann auf, der eine Stunde weiterhin ihn erwartete. Beide ge- langten nach einem zweitägigen Marsche an eine Bucht der Nord- see und trafen ein Freibeuterschiff. Mein Vater war jung und rüstig, also willkommen. So gelangte er von Meer zu Meer. Als die Dänen in Angelsachsenland weiter vordrangen, blieb er im Lande, um es Schritt für Schritt zu vertheidigen. Das Land war dem Gewerbe günstig, voll Wäldern, Sümpfen und Strömen. — Wann bist Du von Deinem Vater getrennt worden? — Vor drei Jahren. Einige Mannen des Dänenkönigs er- hoben Abgaben. Obgleich zahlreich und wohlbewaffnet, reisten sie doch nur am hellen Tage. Wir warteten das Ende ihrer Ernte ab, um unserseits zu ernten. Eine Nacht blieben sie in einer kleinen offnen Stadt. Die Gelegenheit reizte meinen Vater; wir wollten die Dänen überfallen, aber sie waren auf ihrer Hut. Nach einem erbitterten Kampfe wurden wir verfolgt. Während dieses nächtlichen Angriffs wurde ich von meinem Vater getrennt, und ich weiß es heute noch nicht, ob er gefallen, ob er ver- wundet oder in die Gefangenschaft gerathen ist. Alle meine Bemühungen, etwas über sein Schicksal zu erfahren, blieben ver- geblich. Seitdem haben meine Gefährten mich zu ihrem Anführer gewählt. Das ist meine Geschichte, und Du kennst mich nun. — Ja, mehr als Du meinst. Dein Vater hieß Beerwulf. — Woher weißt Du das? — Der Vater Deines Vaters hieß Siegmund. Wenn er mit seinem älteren Sohne Siegmundsen und seiner Tochter Frigga noch lebt in Dithmarsen, wohnt er in der Nähe der heiligen Steine auf dem schwarzen Warf. — Wer hat Dir gesagt...? — Einer Deiner Vorfahren hieß Thorstensen der Sohn

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Zitationshilfe: Social-politische Blätter. 2. Lieferung. Berlin, 3. Februar 1873, S. 39. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_social02_1873/15>, abgerufen am 21.11.2024.