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Social-politische Blätter. 3. Lieferung. Berlin, 6. März 1873.

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Zur Unterhaltung und Belehrung. 62
[Beginn Spaltensatz]

-- Es lebe das unfehlbare Gericht des Herrn! riefen die
Leute voll Bewunderung aus.

-- Jch sagte es ja, setzte der Ritter hinzu; die beiden Diebe
waren im Einverständnisse mit einander. Morgen soll beiden
ein Ohr abgeschnitten, auch sollen sie gefoltert werden, bis sie
gestehen, wo sie das Gestohlene versteckt haben.

-- Schweig, Ritter, rief ihm Jens im heftigsten Schmerze
wüthend zu, die Diebe, die Räuber seid Jhr. Hätte ich die
Kelle gestohlen, hätte ich doch nur einen Dieb bestohlen, aber ich
habe sie nicht gestohlen, so wahr ich den Gott verläugne, der
mich verurtheilt.

-- Unseliger! Lästerer, Gottesleugner! Jch, sein Diener,
befehle Dir in seinem Namen..

-- Schweig, Pfaffe, Du betrügst mich nicht mehr. Dein
Gott zeugt gegen Unschuldige. O, der Schmerz, der Schmerz!

-- Diese Leiden sind Andeutungen dessen, was Du in der
Hölle leiden wirst, wo Du ewig brennen mußt, gotteslästerlicher
Dieb! Gott thut Dein Verbrechen dar, und Du hast die Keck-
heit, gegen sein Urtheil Dich aufzulehnen!

-- Schweig, Pfaff. Dein Gott ist gar nicht, oder wenn
er ist, lügt er wie die Heuchler und Betrüger, die sich seine
Priester nennen.

-- Willst Du, Bösewicht, den Zorn des Himmels auf
dieses Haus herabrufen? Ach, Herr Ritter, ich zittere schon vor
dem Unglück, das uns droht, wenn der Frevler seine Lästerungen
fortsetzt.

Olaf war schon vor diesen Warnungen seines Geistlichen
über die lästerlichen Reden des Leibeigenen erschrocken, und er
zitterte bei dem Gedanken, daß der Teufel durch die entsetzlichen
Lästerungen des Verurtheilten herbeigerufen werden und plötzlich
erscheinen könnte, um den Frevler zu holen, bei dieser Gelegen-
heit aber ihn selbst mitnehmen würde. Deshalb fragte er plötzlich:

-- Schmied, Deine Zangen liegen noch in der Glut und
glühen?

-- Ja, Herr Ritter.

-- Der Verfluchte soll nicht länger lästern und uns der
Gefahr aussetzen, daß der Teufel in meiner Burg erscheine.
Man ergreife den Gotteslästerer und reiße ihm mit der Zange
die Zunge aus. Pfaff, meinst Du, daß der Herr durch diese
Strafe wohl beruhigt werde. Glaubst Du, daß der Teufel noch
immer Gelegenheit habe, zu kommen, auch wenn er solche läster-
liche Worte nicht mehr hört?

-- Jch glaube, Herr Ritter, daß für den Verfluchten da
keine Strafe schrecklich genug sei. Gott zu verleugnen und seine
Diener Heuchler und Betrüger nennen!

-- Soll ich ihn viertheilen lassen, um den Teufel noch
sicherer von meiner Burg abzuhalten?

-- Die Strafe, die Du ihm auferlegst, genügt. Der Ver-
urtheilte wird damit an dem Theile gestraft, mit welchem er
sündigte. Seine gottlose Zunge hat gefrevelt; sie wird es dann
nicht mehr thun.

-- Hältst Du aber diese Strafe für hinreichend? Sage
die Wahrheit, Pfaff. Der Leibeigene ist mein bester Koch, aber
ich würde mich nicht bedenken, ihn viertheilen zu lassen, wenn
Du es wegen des Teufels für nöthig hältst.

-- Nein, sage ich Dir, edler Ritter, die Strafe genügt.
Wir wollen nicht den Tod des Sünders.

-- Nun, wenn Du die Strafe für hinreichend hälst, so
ziehe ich sie auch vor, denn er ist brauchbar. Die Zunge braucht
er als Koch nicht.

Dem Leibeigenen wurde also die Zunge mit der glühenden
Zange ausgerissen. Der Ritter aber, der wegen des Erscheinens
des Teufels nun ziemlich beruhigt war, wollte doch die Furcht
[Spaltenumbruch] ganz vergessen und betäubte sich mehr und mehr durch Wein.
Er kehrte deshalb mit seinen Leuten in den Speisesaal zurück,
ehe er sich zu seinen Weibern begab.



Ortrun, die fünfte Frau des Ritters, befand sich, während
ihr Herr und Gemahl Olaf mit seinen Leuten noch trank, ihrer
Gewohnheit gemäß, in ihrem Zimmer und spann unter ihren
Dienerinnen bei dem Scheine einer kupfernen Lampe. Ortrun
war noch jung, aber zart und schwächlich; ihr Gesicht sah wachs-
bleich aus, und ihr langes, blaßblondes, geflochtenes und halb
unter der Haube von Gold=und Silberstoff verhülltes Haar fiel
auf ihre Schultern, die entblößt waren, wie ihre Arme. Jhre
weit vorgerückte Schwangerschaft gab ihren sanften, traurigen
Zügen einen Ausdruck des Leidens. Sie trug den Anzug der
vornehmen dänischen Frauen: ein langes, ausgeschnittenes Kleid
mit offenen, hängenden Aermeln, das durch eine Schärpe zusam-
mengehalten wurde; ihre Arme waren mit goldenen, mit Edel-
steinen besetzten Armbändern geschmückt. Etwas aber machte
diesen Anzug seltsam: obwohl nämlich Ortrun schwächlich und
klein war, schien doch das kostbare Kleid, welches sie trug, für
eine sehr große und sehr starke Frau gemacht zu sein. Etwa
zwanzig, ärmlich gekleidete Leibeigene, die am Boden auf den
Blättern saßen, mit welchen derselbe bestreut war, umringten die
Frau des Ritters, welche in einem Armsessel saß, der mit einem
silbergestickten Teppiche belegt war. Mehrere unter den Diene-
rinnen waren hübsch; einige spannen gleich ihrer Gebieterin,
andere beschäftigten sich mit Nadelarbeiten und bisweilen plau-
derten sie unter einander in angelsächsischer Sprache, welche ihre
Gebieterin nicht wohl verstand. Eine, Hilda genannt, ein schönes
Mädchen mit schwarzem Haar, sprach geläufig die Sprache der
Eroberer.

-- Du hast sie also tödten sehen, Hilda? fragte die Edel-
frau, indem sie den Rocken auf den Schooß legte.

-- Ja. Sie trug an diesem Tage dasselbe grüne Kleid mit
silbernen Blumen, das Jhr jetzt tragt, und auch das schöne Hals-
band, wie die kostbaren Armbänder.

Ortrun schaudert und warf unwillkürlich einen ängstlichen
Blick auf ihre Armbänder und ihr Kleid, das für sie doppelt zu
groß war.

-- Warum aber hat er sie getödtet?

-- Er hatte an jenem Abende mehr als gewöhnlich getrun-
ken und erschien hier, wo wir sind, ganz unsicher auf den Beinen.
Es war Winter.. Jm Kamine brannte Feuer. Seine Frau
Wisigarde saß daneben. Der Herr hatte damals unter uns eine
Beischläferin, eine Wäscherin, Martine. An jenem Abende
konnte er, wie gesagt, kaum auf den Beinen stehen und sagte zu
Martine: Komm, wir wollen zu Bett gehen, und Du, Wisigarde,
setzte er, zu seiner Frau gewandt, hinzu, nimm die Lampe und
leuchte uns.

-- Das war eine große Schmach für Wisigarde.

-- Um so mehr, edle Frau, als sie ein stolzes Herz und einen
ungestümen Charakter hatte. Sie schlug uns, ja sie biß uns
häufig und nicht minder oft zankte sie heftig mit dem Herrn.

-- Wie, Hilda? Sie wagte mit ihm zu zanken?

-- O, sie war durch gar nichts einzuschüchtern, durch nichts.
Wenn sie aufgebracht war, schrie sie und knirschte mit den Zäh-
nen wie eine Bärin.

-- Eine schreckliche Frau!

-- An jenem Abende nun gehorchte Wisigarde dem Einfalle
des Herrn nicht, nahm nicht die Lampe, um ihn nebst Martine
zum Bette zu geleiten, sondern sie schimpfte auf beide.

[Ende Spaltensatz]
Zur Unterhaltung und Belehrung. 62
[Beginn Spaltensatz]

— Es lebe das unfehlbare Gericht des Herrn! riefen die
Leute voll Bewunderung aus.

— Jch sagte es ja, setzte der Ritter hinzu; die beiden Diebe
waren im Einverständnisse mit einander. Morgen soll beiden
ein Ohr abgeschnitten, auch sollen sie gefoltert werden, bis sie
gestehen, wo sie das Gestohlene versteckt haben.

— Schweig, Ritter, rief ihm Jens im heftigsten Schmerze
wüthend zu, die Diebe, die Räuber seid Jhr. Hätte ich die
Kelle gestohlen, hätte ich doch nur einen Dieb bestohlen, aber ich
habe sie nicht gestohlen, so wahr ich den Gott verläugne, der
mich verurtheilt.

— Unseliger! Lästerer, Gottesleugner! Jch, sein Diener,
befehle Dir in seinem Namen..

— Schweig, Pfaffe, Du betrügst mich nicht mehr. Dein
Gott zeugt gegen Unschuldige. O, der Schmerz, der Schmerz!

— Diese Leiden sind Andeutungen dessen, was Du in der
Hölle leiden wirst, wo Du ewig brennen mußt, gotteslästerlicher
Dieb! Gott thut Dein Verbrechen dar, und Du hast die Keck-
heit, gegen sein Urtheil Dich aufzulehnen!

— Schweig, Pfaff. Dein Gott ist gar nicht, oder wenn
er ist, lügt er wie die Heuchler und Betrüger, die sich seine
Priester nennen.

— Willst Du, Bösewicht, den Zorn des Himmels auf
dieses Haus herabrufen? Ach, Herr Ritter, ich zittere schon vor
dem Unglück, das uns droht, wenn der Frevler seine Lästerungen
fortsetzt.

Olaf war schon vor diesen Warnungen seines Geistlichen
über die lästerlichen Reden des Leibeigenen erschrocken, und er
zitterte bei dem Gedanken, daß der Teufel durch die entsetzlichen
Lästerungen des Verurtheilten herbeigerufen werden und plötzlich
erscheinen könnte, um den Frevler zu holen, bei dieser Gelegen-
heit aber ihn selbst mitnehmen würde. Deshalb fragte er plötzlich:

— Schmied, Deine Zangen liegen noch in der Glut und
glühen?

— Ja, Herr Ritter.

— Der Verfluchte soll nicht länger lästern und uns der
Gefahr aussetzen, daß der Teufel in meiner Burg erscheine.
Man ergreife den Gotteslästerer und reiße ihm mit der Zange
die Zunge aus. Pfaff, meinst Du, daß der Herr durch diese
Strafe wohl beruhigt werde. Glaubst Du, daß der Teufel noch
immer Gelegenheit habe, zu kommen, auch wenn er solche läster-
liche Worte nicht mehr hört?

— Jch glaube, Herr Ritter, daß für den Verfluchten da
keine Strafe schrecklich genug sei. Gott zu verleugnen und seine
Diener Heuchler und Betrüger nennen!

— Soll ich ihn viertheilen lassen, um den Teufel noch
sicherer von meiner Burg abzuhalten?

— Die Strafe, die Du ihm auferlegst, genügt. Der Ver-
urtheilte wird damit an dem Theile gestraft, mit welchem er
sündigte. Seine gottlose Zunge hat gefrevelt; sie wird es dann
nicht mehr thun.

— Hältst Du aber diese Strafe für hinreichend? Sage
die Wahrheit, Pfaff. Der Leibeigene ist mein bester Koch, aber
ich würde mich nicht bedenken, ihn viertheilen zu lassen, wenn
Du es wegen des Teufels für nöthig hältst.

— Nein, sage ich Dir, edler Ritter, die Strafe genügt.
Wir wollen nicht den Tod des Sünders.

— Nun, wenn Du die Strafe für hinreichend hälst, so
ziehe ich sie auch vor, denn er ist brauchbar. Die Zunge braucht
er als Koch nicht.

Dem Leibeigenen wurde also die Zunge mit der glühenden
Zange ausgerissen. Der Ritter aber, der wegen des Erscheinens
des Teufels nun ziemlich beruhigt war, wollte doch die Furcht
[Spaltenumbruch] ganz vergessen und betäubte sich mehr und mehr durch Wein.
Er kehrte deshalb mit seinen Leuten in den Speisesaal zurück,
ehe er sich zu seinen Weibern begab.



Ortrun, die fünfte Frau des Ritters, befand sich, während
ihr Herr und Gemahl Olaf mit seinen Leuten noch trank, ihrer
Gewohnheit gemäß, in ihrem Zimmer und spann unter ihren
Dienerinnen bei dem Scheine einer kupfernen Lampe. Ortrun
war noch jung, aber zart und schwächlich; ihr Gesicht sah wachs-
bleich aus, und ihr langes, blaßblondes, geflochtenes und halb
unter der Haube von Gold=und Silberstoff verhülltes Haar fiel
auf ihre Schultern, die entblößt waren, wie ihre Arme. Jhre
weit vorgerückte Schwangerschaft gab ihren sanften, traurigen
Zügen einen Ausdruck des Leidens. Sie trug den Anzug der
vornehmen dänischen Frauen: ein langes, ausgeschnittenes Kleid
mit offenen, hängenden Aermeln, das durch eine Schärpe zusam-
mengehalten wurde; ihre Arme waren mit goldenen, mit Edel-
steinen besetzten Armbändern geschmückt. Etwas aber machte
diesen Anzug seltsam: obwohl nämlich Ortrun schwächlich und
klein war, schien doch das kostbare Kleid, welches sie trug, für
eine sehr große und sehr starke Frau gemacht zu sein. Etwa
zwanzig, ärmlich gekleidete Leibeigene, die am Boden auf den
Blättern saßen, mit welchen derselbe bestreut war, umringten die
Frau des Ritters, welche in einem Armsessel saß, der mit einem
silbergestickten Teppiche belegt war. Mehrere unter den Diene-
rinnen waren hübsch; einige spannen gleich ihrer Gebieterin,
andere beschäftigten sich mit Nadelarbeiten und bisweilen plau-
derten sie unter einander in angelsächsischer Sprache, welche ihre
Gebieterin nicht wohl verstand. Eine, Hilda genannt, ein schönes
Mädchen mit schwarzem Haar, sprach geläufig die Sprache der
Eroberer.

— Du hast sie also tödten sehen, Hilda? fragte die Edel-
frau, indem sie den Rocken auf den Schooß legte.

— Ja. Sie trug an diesem Tage dasselbe grüne Kleid mit
silbernen Blumen, das Jhr jetzt tragt, und auch das schöne Hals-
band, wie die kostbaren Armbänder.

Ortrun schaudert und warf unwillkürlich einen ängstlichen
Blick auf ihre Armbänder und ihr Kleid, das für sie doppelt zu
groß war.

— Warum aber hat er sie getödtet?

— Er hatte an jenem Abende mehr als gewöhnlich getrun-
ken und erschien hier, wo wir sind, ganz unsicher auf den Beinen.
Es war Winter.. Jm Kamine brannte Feuer. Seine Frau
Wisigarde saß daneben. Der Herr hatte damals unter uns eine
Beischläferin, eine Wäscherin, Martine. An jenem Abende
konnte er, wie gesagt, kaum auf den Beinen stehen und sagte zu
Martine: Komm, wir wollen zu Bett gehen, und Du, Wisigarde,
setzte er, zu seiner Frau gewandt, hinzu, nimm die Lampe und
leuchte uns.

— Das war eine große Schmach für Wisigarde.

— Um so mehr, edle Frau, als sie ein stolzes Herz und einen
ungestümen Charakter hatte. Sie schlug uns, ja sie biß uns
häufig und nicht minder oft zankte sie heftig mit dem Herrn.

— Wie, Hilda? Sie wagte mit ihm zu zanken?

— O, sie war durch gar nichts einzuschüchtern, durch nichts.
Wenn sie aufgebracht war, schrie sie und knirschte mit den Zäh-
nen wie eine Bärin.

— Eine schreckliche Frau!

— An jenem Abende nun gehorchte Wisigarde dem Einfalle
des Herrn nicht, nahm nicht die Lampe, um ihn nebst Martine
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[Ende Spaltensatz]
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Wir wollen nicht den Tod des Sünders. — Nun, wenn Du die Strafe für hinreichend hälst, so ziehe ich sie auch vor, denn er ist brauchbar. Die Zunge braucht er als Koch nicht. Dem Leibeigenen wurde also die Zunge mit der glühenden Zange ausgerissen. Der Ritter aber, der wegen des Erscheinens des Teufels nun ziemlich beruhigt war, wollte doch die Furcht ganz vergessen und betäubte sich mehr und mehr durch Wein. Er kehrte deshalb mit seinen Leuten in den Speisesaal zurück, ehe er sich zu seinen Weibern begab. Ortrun, die fünfte Frau des Ritters, befand sich, während ihr Herr und Gemahl Olaf mit seinen Leuten noch trank, ihrer Gewohnheit gemäß, in ihrem Zimmer und spann unter ihren Dienerinnen bei dem Scheine einer kupfernen Lampe. Ortrun war noch jung, aber zart und schwächlich; ihr Gesicht sah wachs- bleich aus, und ihr langes, blaßblondes, geflochtenes und halb unter der Haube von Gold=und Silberstoff verhülltes Haar fiel auf ihre Schultern, die entblößt waren, wie ihre Arme. Jhre weit vorgerückte Schwangerschaft gab ihren sanften, traurigen Zügen einen Ausdruck des Leidens. Sie trug den Anzug der vornehmen dänischen Frauen: ein langes, ausgeschnittenes Kleid mit offenen, hängenden Aermeln, das durch eine Schärpe zusam- mengehalten wurde; ihre Arme waren mit goldenen, mit Edel- steinen besetzten Armbändern geschmückt. Etwas aber machte diesen Anzug seltsam: obwohl nämlich Ortrun schwächlich und klein war, schien doch das kostbare Kleid, welches sie trug, für eine sehr große und sehr starke Frau gemacht zu sein. Etwa zwanzig, ärmlich gekleidete Leibeigene, die am Boden auf den Blättern saßen, mit welchen derselbe bestreut war, umringten die Frau des Ritters, welche in einem Armsessel saß, der mit einem silbergestickten Teppiche belegt war. Mehrere unter den Diene- rinnen waren hübsch; einige spannen gleich ihrer Gebieterin, andere beschäftigten sich mit Nadelarbeiten und bisweilen plau- derten sie unter einander in angelsächsischer Sprache, welche ihre Gebieterin nicht wohl verstand. Eine, Hilda genannt, ein schönes Mädchen mit schwarzem Haar, sprach geläufig die Sprache der Eroberer. — Du hast sie also tödten sehen, Hilda? fragte die Edel- frau, indem sie den Rocken auf den Schooß legte. — Ja. Sie trug an diesem Tage dasselbe grüne Kleid mit silbernen Blumen, das Jhr jetzt tragt, und auch das schöne Hals- band, wie die kostbaren Armbänder. Ortrun schaudert und warf unwillkürlich einen ängstlichen Blick auf ihre Armbänder und ihr Kleid, das für sie doppelt zu groß war. — Warum aber hat er sie getödtet? — Er hatte an jenem Abende mehr als gewöhnlich getrun- ken und erschien hier, wo wir sind, ganz unsicher auf den Beinen. Es war Winter.. Jm Kamine brannte Feuer. Seine Frau Wisigarde saß daneben. Der Herr hatte damals unter uns eine Beischläferin, eine Wäscherin, Martine. An jenem Abende konnte er, wie gesagt, kaum auf den Beinen stehen und sagte zu Martine: Komm, wir wollen zu Bett gehen, und Du, Wisigarde, setzte er, zu seiner Frau gewandt, hinzu, nimm die Lampe und leuchte uns. — Das war eine große Schmach für Wisigarde. — Um so mehr, edle Frau, als sie ein stolzes Herz und einen ungestümen Charakter hatte. Sie schlug uns, ja sie biß uns häufig und nicht minder oft zankte sie heftig mit dem Herrn. — Wie, Hilda? Sie wagte mit ihm zu zanken? — O, sie war durch gar nichts einzuschüchtern, durch nichts. Wenn sie aufgebracht war, schrie sie und knirschte mit den Zäh- nen wie eine Bärin. — Eine schreckliche Frau! — An jenem Abende nun gehorchte Wisigarde dem Einfalle des Herrn nicht, nahm nicht die Lampe, um ihn nebst Martine zum Bette zu geleiten, sondern sie schimpfte auf beide.

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Zitationshilfe: Social-politische Blätter. 3. Lieferung. Berlin, 6. März 1873, S. 62. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_social03_1873/14>, abgerufen am 21.11.2024.