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Social-politische Blätter. 4. Lieferung. Berlin, 9. April 1873.

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Zur Unterhaltung und Belehrung. 88
[Beginn Spaltensatz]

-- Jch bitte Dich darum, er sieht so betrübt aus.

-- So geschehe es auf Deinen Wunsch.., wenn auch gegen
meinen Willen.

-- Einen Kuß noch, Mutter!

-- Nein, böses Kind, laß mich..

-- Einen Kuß, lieb Mütterchen, ich bitte Dich darum.

-- Sieh doch die Thräne in seinem Auge. Könntest Du
den Muth haben, ihm den Kuß zu versagen?

-- So küsse mich und gehe, böses Kind, aber komm bald
wieder.

Gerd ging und trocknete seine Augen; mehrmals kehrte er
sich um, nach seiner Mutter zu sehen, und verschwand endlich.
Der Tag verging, Gerd kam nicht wieder. Plötzlich tritt sein
Bruder Kord bei Anbruch der Nacht laut weinend ein und spricht:

-- Vater, Vater, ein großes Unglück hat uns getroffen.

-- Was ist Dir? Was hast Du, Kord? Warum diese
Thränen? Was ist meinem Gerd widerfahren?

-- Lies, lies das kleine Pergament, das Toms, der Hirt,
mitgebracht hat.

-- Verflucht sei der Wanderer mit seinen Landstreichern;
[Spaltenumbruch] er hat mein armes Kind bezaubert. Die Eifen sind Schuld an
Allem..

Jens las folgende Worte:

" Mein guter Vater und meine gute Mutter, wenn Jhr dies
lesen werdet, bin ich, Euer Sohn Gerd, weit fort von unserem
Hause. Jch bat Toms, den Hirten, dem ich früh auf dem Felde
begegnete, Euch dies Pergament erst nach zwölf Stunden zu
überbringen, damit ich Euren Nachforschungen entgehe. Jch ziehe
mit Beerwulf zu den Landstreichern, um gegen die Ritter und
die Bischöfe zu kämpfen. Jch will nicht müßig in Dithmarsen
bleiben, dem einzigen freien Lande Angelsachsens, ohne zu ver-
suchen, die Knechtung unseres geliebten Vaterlandes zu rächen.
Guter Vater und gute Mutter, Jhr behaltet ja bei Euch den
Bruder und die Schwester, zürnet mir also nicht. Und Du.
Großvater, der Du mich so sehr liebtest, erwirke mir Verzeihung,
damit meine lieben Eltern nicht fluchen ihrem Sohne

    Gerd."

Zur selben Stunde, als Jens, der alte Dithmarse, halb
voll Trauer, halb voll Stolz, den kühnen Entschluß seines Enkels
las, wanderten der greise Beerwulf und der junge Gerd durch
den grünen Wald zum Sammelplatze der Landstreicher.

    ( Fortsetzung folgt. )

[Ende Spaltensatz]

Die Gräuesthaten der Bourgeoisie gegen die Gefangenen des Juniaufstandes von 1848.
( Erzählt von Louis Blanc. )
[Beginn Spaltensatz]

Es waren etwa tausend Gefangene in dem engen Souter-
rain der Terasse am Flusse. Die mephitische und unathembare
Luft dieses Kellers zwang die Gefangenen, sich den Luftlöchern
zu nähern, um ein wenig Luft einzuathmen. Sofort schossen die
Schildwachen nach den Luftlöchern. -- Man brachte unter die
Gefangenen einen Greis, welcher weinte und versicherte, daß er
kein Jnsurgent, sondern nur nach Paris gekommen sei, um seinen
Sohn zu besuchen. Ein Nationalgardist schoß ihm eine Kugel
durch die Schulter, ein anderer hieb ihn mit seinem Säbel nie-
der und ein dritter machte mit einem Schusse seinem Leben den
Garaus, indem er scherzte: "Nun kann ich wenigstens sagen, daß
ich auch Einen todt gemacht habe!" Der Leichnam blieb zwei
Tage auf der Treppe liegen.

Ein verwundeter Jnsurgent lag auf seinem Strohlager; da
warfen Kannibalen Feuer in das Stroh und verbrannten den
mit dem Tode Ringenden lebendig.

Uebrigens waren die begangenen Grausamkeiten auch das
Verbrechen Derer, welche sie durch falsche Erzählungen, durch
schändliche Erfindungen hervorriefen, wie z. B. der von den
Herren Veron und Charles Merruau redigirte "Constitutionnel"
solches that. Welcher Wuth mußte man nicht die Pforten öffnen,
wenn man in den Zeitungen schrieb und zwar lügnerischer Weise
schrieb: "Man hat gefangenen Dragonern die Daumen abge-
schnitten, andere zwischen zwei Bretter geklemmt und mit den-
selben zersägt." Die zehntausend Verhaftungen, welche vorge-
nommen sind, die zahllosen abgehörten Zeugen, die eifrigen Nach-
forschungen des Kriegsgerichts haben keinen Beweis für diese
Mährchen liefern können. -- "Auf dem Platz des Pantheon,"
fuhren die schändlichen Lügner fort, "haben Jnsurgentenweiber
Officieren der Mobil=Garde den Kopf abgeschnitten." -- " Zwölf-
bis funfzehnjährige Mobil=Gardisten sind an den Laternenpfählen
aufgehängt." -- "Budenweiber haben vergifteten Branntwein
ausgetheilt," u. s. w. u. s. w. Alle diese mit teuflischer Kunst
ausgedachten Abscheulichkeiten brachten unglücklicher Weise nur
zu wahre Abscheulichkeiten hervor.

Daher entstand ein Schrecken ohne Grenzen, die alte Herr-
schaft des Verdachts er stand wieder auf, die Häuser wurden dem
ersten Besten geöffnet, der in Uniform erschien, eine Wuth der
Angeberei entsprang, wie sie bis jetzt beispiellos gewesen ist und
auch nie wieder in gleichem Maße vorkommen kann. Wollte
man einen Konkurrenten vernichten, einen Nebenbuhler verderben,
eine persönliche Rache befriedigen, so sagte man von seinem Feinde:
"Er ist auf den Barrikaden gewesen!" und das war hinreichend.

[Spaltenumbruch]

Jn den ersten Tagen des Belagerungszustandes wurden
alle Straßen von bewaffneten Bourgeois abgesperrt, und Paris
strotzte von lebendigen Barrikaden. Als der in den letzten Zü-
gen liegende Handel es erreicht hatte, daß die Straßen dem
Verkehr wieder geöffnet wurden, da begann man die in den
Gebäuden aufzusuchen, welche man im Vorübergehen nicht mehr
ergreifen konnte. Wilde und rachsüchtige Patrouillen durchforsch-
ten Alles mit wahnsinniger Barbarei. Das Geheimniß mancher
friedlichen Wohnung wurde auf unwürdige Weise durch die Tra-
banten irgend eines ungekannten und neuen Tyrannen entweiht.
Sie hielten die Stadtwagen an, um die Reste der Jnsurrection
in ihnen zu suchen; sie warfen Flammenblicke in dieselben und
hätten sie gern mit den Spitzen der Bajonnette durchsucht. --
Wehe dem, welcher Worte des Mitleids laut werden zu lassen
wagte. Die Verirrung der Jnsurgenten beklagen, daran erinnern,
daß viele von ihnen durch den Hunger zum Kampfe verleitet
wären, das hieß, sich zu dem Mitschuldigen derselben machen.
Seine Eltern, seine Freunde durfte man nicht einmal beweinen,
wenn dieselben zufällig in den Aufstand verwickelt und gefallen
waren. Es war in der großen und doch ganz mit Leichen er-
füllten Stadt für die Besiegten ein Verbrechen, ihre Verluste
zu betrauern. Man erschoß ein junges Mädchen, weil man es
Charpie zupfend, vielleicht für ihren Vater, oder für ihren Ge-
liebten, bei einem Haufen verwundeter Jnsurgenten betroffen
hatte! Es ist wahr, daß nicht geplündert wurde, daß man keine
Kinder an den Wänden der Häuser zerschmetterte, wie in Magde-
burg einst, als es von Tilly's Kroaten, oder in Cremona, als
es von des Antonius Cohorten eingenommen war, allein, was
an den Ausbrüchen der Wuth fehlte, das wurde reichlich durch
die Schande ersetzt. Spione hießen wachsame Leute, Verräther
der Freundschaft nannte man wackere Bürger, Meuchelmörder
galten für tapfere Männer. Dazu kamen an jedem Abend beim
Anbruch der Nacht große Versammlungen der Bewaffneten, weil
verdächtige Erscheinungen bemerkt waren, weil man gespenstigen
Verschwörungsspuk durch die Lüfte hatte schweben sehen. Mit
Unruhe vermuthete man in einer hinter einem Fenster bewegten
Lampe ein geheimnißvollen Verschworenen fernhin gegebenes
Signal. Auf dem Dache des Hauses, in welchem ich wohnte,
untersuchte man eines Abends argwöhnisch einen durch die Strah-
len des Mondes hervorgebrachten Widerschein! Der Zorn war
bis zum Geistersehen, der Haß bis zu optischen Täuschungen
gediehen. O der Erniedrigung für mein Vaterland! Es schien,
als wäre Paris nur noch von wüthenden Narren bewohnt.

[Ende Spaltensatz]

Zur Unterhaltung und Belehrung. 88
[Beginn Spaltensatz]

— Jch bitte Dich darum, er sieht so betrübt aus.

— So geschehe es auf Deinen Wunsch.., wenn auch gegen
meinen Willen.

— Einen Kuß noch, Mutter!

— Nein, böses Kind, laß mich..

— Einen Kuß, lieb Mütterchen, ich bitte Dich darum.

— Sieh doch die Thräne in seinem Auge. Könntest Du
den Muth haben, ihm den Kuß zu versagen?

— So küsse mich und gehe, böses Kind, aber komm bald
wieder.

Gerd ging und trocknete seine Augen; mehrmals kehrte er
sich um, nach seiner Mutter zu sehen, und verschwand endlich.
Der Tag verging, Gerd kam nicht wieder. Plötzlich tritt sein
Bruder Kord bei Anbruch der Nacht laut weinend ein und spricht:

— Vater, Vater, ein großes Unglück hat uns getroffen.

— Was ist Dir? Was hast Du, Kord? Warum diese
Thränen? Was ist meinem Gerd widerfahren?

— Lies, lies das kleine Pergament, das Toms, der Hirt,
mitgebracht hat.

— Verflucht sei der Wanderer mit seinen Landstreichern;
[Spaltenumbruch] er hat mein armes Kind bezaubert. Die Eifen sind Schuld an
Allem..

Jens las folgende Worte:

„ Mein guter Vater und meine gute Mutter, wenn Jhr dies
lesen werdet, bin ich, Euer Sohn Gerd, weit fort von unserem
Hause. Jch bat Toms, den Hirten, dem ich früh auf dem Felde
begegnete, Euch dies Pergament erst nach zwölf Stunden zu
überbringen, damit ich Euren Nachforschungen entgehe. Jch ziehe
mit Beerwulf zu den Landstreichern, um gegen die Ritter und
die Bischöfe zu kämpfen. Jch will nicht müßig in Dithmarsen
bleiben, dem einzigen freien Lande Angelsachsens, ohne zu ver-
suchen, die Knechtung unseres geliebten Vaterlandes zu rächen.
Guter Vater und gute Mutter, Jhr behaltet ja bei Euch den
Bruder und die Schwester, zürnet mir also nicht. Und Du.
Großvater, der Du mich so sehr liebtest, erwirke mir Verzeihung,
damit meine lieben Eltern nicht fluchen ihrem Sohne

    Gerd.“

Zur selben Stunde, als Jens, der alte Dithmarse, halb
voll Trauer, halb voll Stolz, den kühnen Entschluß seines Enkels
las, wanderten der greise Beerwulf und der junge Gerd durch
den grünen Wald zum Sammelplatze der Landstreicher.

    ( Fortsetzung folgt. )

[Ende Spaltensatz]

Die Gräuesthaten der Bourgeoisie gegen die Gefangenen des Juniaufstandes von 1848.
( Erzählt von Louis Blanc. )
[Beginn Spaltensatz]

Es waren etwa tausend Gefangene in dem engen Souter-
rain der Terasse am Flusse. Die mephitische und unathembare
Luft dieses Kellers zwang die Gefangenen, sich den Luftlöchern
zu nähern, um ein wenig Luft einzuathmen. Sofort schossen die
Schildwachen nach den Luftlöchern. — Man brachte unter die
Gefangenen einen Greis, welcher weinte und versicherte, daß er
kein Jnsurgent, sondern nur nach Paris gekommen sei, um seinen
Sohn zu besuchen. Ein Nationalgardist schoß ihm eine Kugel
durch die Schulter, ein anderer hieb ihn mit seinem Säbel nie-
der und ein dritter machte mit einem Schusse seinem Leben den
Garaus, indem er scherzte: „Nun kann ich wenigstens sagen, daß
ich auch Einen todt gemacht habe!“ Der Leichnam blieb zwei
Tage auf der Treppe liegen.

Ein verwundeter Jnsurgent lag auf seinem Strohlager; da
warfen Kannibalen Feuer in das Stroh und verbrannten den
mit dem Tode Ringenden lebendig.

Uebrigens waren die begangenen Grausamkeiten auch das
Verbrechen Derer, welche sie durch falsche Erzählungen, durch
schändliche Erfindungen hervorriefen, wie z. B. der von den
Herren Veron und Charles Merruau redigirte „Constitutionnel“
solches that. Welcher Wuth mußte man nicht die Pforten öffnen,
wenn man in den Zeitungen schrieb und zwar lügnerischer Weise
schrieb: „Man hat gefangenen Dragonern die Daumen abge-
schnitten, andere zwischen zwei Bretter geklemmt und mit den-
selben zersägt.“ Die zehntausend Verhaftungen, welche vorge-
nommen sind, die zahllosen abgehörten Zeugen, die eifrigen Nach-
forschungen des Kriegsgerichts haben keinen Beweis für diese
Mährchen liefern können. — „Auf dem Platz des Pantheon,“
fuhren die schändlichen Lügner fort, „haben Jnsurgentenweiber
Officieren der Mobil=Garde den Kopf abgeschnitten.“ — „ Zwölf-
bis funfzehnjährige Mobil=Gardisten sind an den Laternenpfählen
aufgehängt.“ — „Budenweiber haben vergifteten Branntwein
ausgetheilt,“ u. s. w. u. s. w. Alle diese mit teuflischer Kunst
ausgedachten Abscheulichkeiten brachten unglücklicher Weise nur
zu wahre Abscheulichkeiten hervor.

Daher entstand ein Schrecken ohne Grenzen, die alte Herr-
schaft des Verdachts er stand wieder auf, die Häuser wurden dem
ersten Besten geöffnet, der in Uniform erschien, eine Wuth der
Angeberei entsprang, wie sie bis jetzt beispiellos gewesen ist und
auch nie wieder in gleichem Maße vorkommen kann. Wollte
man einen Konkurrenten vernichten, einen Nebenbuhler verderben,
eine persönliche Rache befriedigen, so sagte man von seinem Feinde:
„Er ist auf den Barrikaden gewesen!“ und das war hinreichend.

[Spaltenumbruch]

Jn den ersten Tagen des Belagerungszustandes wurden
alle Straßen von bewaffneten Bourgeois abgesperrt, und Paris
strotzte von lebendigen Barrikaden. Als der in den letzten Zü-
gen liegende Handel es erreicht hatte, daß die Straßen dem
Verkehr wieder geöffnet wurden, da begann man die in den
Gebäuden aufzusuchen, welche man im Vorübergehen nicht mehr
ergreifen konnte. Wilde und rachsüchtige Patrouillen durchforsch-
ten Alles mit wahnsinniger Barbarei. Das Geheimniß mancher
friedlichen Wohnung wurde auf unwürdige Weise durch die Tra-
banten irgend eines ungekannten und neuen Tyrannen entweiht.
Sie hielten die Stadtwagen an, um die Reste der Jnsurrection
in ihnen zu suchen; sie warfen Flammenblicke in dieselben und
hätten sie gern mit den Spitzen der Bajonnette durchsucht. —
Wehe dem, welcher Worte des Mitleids laut werden zu lassen
wagte. Die Verirrung der Jnsurgenten beklagen, daran erinnern,
daß viele von ihnen durch den Hunger zum Kampfe verleitet
wären, das hieß, sich zu dem Mitschuldigen derselben machen.
Seine Eltern, seine Freunde durfte man nicht einmal beweinen,
wenn dieselben zufällig in den Aufstand verwickelt und gefallen
waren. Es war in der großen und doch ganz mit Leichen er-
füllten Stadt für die Besiegten ein Verbrechen, ihre Verluste
zu betrauern. Man erschoß ein junges Mädchen, weil man es
Charpie zupfend, vielleicht für ihren Vater, oder für ihren Ge-
liebten, bei einem Haufen verwundeter Jnsurgenten betroffen
hatte! Es ist wahr, daß nicht geplündert wurde, daß man keine
Kinder an den Wänden der Häuser zerschmetterte, wie in Magde-
burg einst, als es von Tilly's Kroaten, oder in Cremona, als
es von des Antonius Cohorten eingenommen war, allein, was
an den Ausbrüchen der Wuth fehlte, das wurde reichlich durch
die Schande ersetzt. Spione hießen wachsame Leute, Verräther
der Freundschaft nannte man wackere Bürger, Meuchelmörder
galten für tapfere Männer. Dazu kamen an jedem Abend beim
Anbruch der Nacht große Versammlungen der Bewaffneten, weil
verdächtige Erscheinungen bemerkt waren, weil man gespenstigen
Verschwörungsspuk durch die Lüfte hatte schweben sehen. Mit
Unruhe vermuthete man in einer hinter einem Fenster bewegten
Lampe ein geheimnißvollen Verschworenen fernhin gegebenes
Signal. Auf dem Dache des Hauses, in welchem ich wohnte,
untersuchte man eines Abends argwöhnisch einen durch die Strah-
len des Mondes hervorgebrachten Widerschein! Der Zorn war
bis zum Geistersehen, der Haß bis zu optischen Täuschungen
gediehen. O der Erniedrigung für mein Vaterland! Es schien,
als wäre Paris nur noch von wüthenden Narren bewohnt.

[Ende Spaltensatz]

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[88/0016] Zur Unterhaltung und Belehrung. 88 — Jch bitte Dich darum, er sieht so betrübt aus. — So geschehe es auf Deinen Wunsch.., wenn auch gegen meinen Willen. — Einen Kuß noch, Mutter! — Nein, böses Kind, laß mich.. — Einen Kuß, lieb Mütterchen, ich bitte Dich darum. — Sieh doch die Thräne in seinem Auge. Könntest Du den Muth haben, ihm den Kuß zu versagen? — So küsse mich und gehe, böses Kind, aber komm bald wieder. Gerd ging und trocknete seine Augen; mehrmals kehrte er sich um, nach seiner Mutter zu sehen, und verschwand endlich. Der Tag verging, Gerd kam nicht wieder. Plötzlich tritt sein Bruder Kord bei Anbruch der Nacht laut weinend ein und spricht: — Vater, Vater, ein großes Unglück hat uns getroffen. — Was ist Dir? Was hast Du, Kord? Warum diese Thränen? Was ist meinem Gerd widerfahren? — Lies, lies das kleine Pergament, das Toms, der Hirt, mitgebracht hat. — Verflucht sei der Wanderer mit seinen Landstreichern; er hat mein armes Kind bezaubert. Die Eifen sind Schuld an Allem.. Jens las folgende Worte: „ Mein guter Vater und meine gute Mutter, wenn Jhr dies lesen werdet, bin ich, Euer Sohn Gerd, weit fort von unserem Hause. Jch bat Toms, den Hirten, dem ich früh auf dem Felde begegnete, Euch dies Pergament erst nach zwölf Stunden zu überbringen, damit ich Euren Nachforschungen entgehe. Jch ziehe mit Beerwulf zu den Landstreichern, um gegen die Ritter und die Bischöfe zu kämpfen. Jch will nicht müßig in Dithmarsen bleiben, dem einzigen freien Lande Angelsachsens, ohne zu ver- suchen, die Knechtung unseres geliebten Vaterlandes zu rächen. Guter Vater und gute Mutter, Jhr behaltet ja bei Euch den Bruder und die Schwester, zürnet mir also nicht. Und Du. Großvater, der Du mich so sehr liebtest, erwirke mir Verzeihung, damit meine lieben Eltern nicht fluchen ihrem Sohne Gerd.“ Zur selben Stunde, als Jens, der alte Dithmarse, halb voll Trauer, halb voll Stolz, den kühnen Entschluß seines Enkels las, wanderten der greise Beerwulf und der junge Gerd durch den grünen Wald zum Sammelplatze der Landstreicher. ( Fortsetzung folgt. ) Die Gräuesthaten der Bourgeoisie gegen die Gefangenen des Juniaufstandes von 1848. ( Erzählt von Louis Blanc. ) Es waren etwa tausend Gefangene in dem engen Souter- rain der Terasse am Flusse. Die mephitische und unathembare Luft dieses Kellers zwang die Gefangenen, sich den Luftlöchern zu nähern, um ein wenig Luft einzuathmen. Sofort schossen die Schildwachen nach den Luftlöchern. — Man brachte unter die Gefangenen einen Greis, welcher weinte und versicherte, daß er kein Jnsurgent, sondern nur nach Paris gekommen sei, um seinen Sohn zu besuchen. Ein Nationalgardist schoß ihm eine Kugel durch die Schulter, ein anderer hieb ihn mit seinem Säbel nie- der und ein dritter machte mit einem Schusse seinem Leben den Garaus, indem er scherzte: „Nun kann ich wenigstens sagen, daß ich auch Einen todt gemacht habe!“ Der Leichnam blieb zwei Tage auf der Treppe liegen. Ein verwundeter Jnsurgent lag auf seinem Strohlager; da warfen Kannibalen Feuer in das Stroh und verbrannten den mit dem Tode Ringenden lebendig. Uebrigens waren die begangenen Grausamkeiten auch das Verbrechen Derer, welche sie durch falsche Erzählungen, durch schändliche Erfindungen hervorriefen, wie z. B. der von den Herren Veron und Charles Merruau redigirte „Constitutionnel“ solches that. Welcher Wuth mußte man nicht die Pforten öffnen, wenn man in den Zeitungen schrieb und zwar lügnerischer Weise schrieb: „Man hat gefangenen Dragonern die Daumen abge- schnitten, andere zwischen zwei Bretter geklemmt und mit den- selben zersägt.“ Die zehntausend Verhaftungen, welche vorge- nommen sind, die zahllosen abgehörten Zeugen, die eifrigen Nach- forschungen des Kriegsgerichts haben keinen Beweis für diese Mährchen liefern können. — „Auf dem Platz des Pantheon,“ fuhren die schändlichen Lügner fort, „haben Jnsurgentenweiber Officieren der Mobil=Garde den Kopf abgeschnitten.“ — „ Zwölf- bis funfzehnjährige Mobil=Gardisten sind an den Laternenpfählen aufgehängt.“ — „Budenweiber haben vergifteten Branntwein ausgetheilt,“ u. s. w. u. s. w. Alle diese mit teuflischer Kunst ausgedachten Abscheulichkeiten brachten unglücklicher Weise nur zu wahre Abscheulichkeiten hervor. Daher entstand ein Schrecken ohne Grenzen, die alte Herr- schaft des Verdachts er stand wieder auf, die Häuser wurden dem ersten Besten geöffnet, der in Uniform erschien, eine Wuth der Angeberei entsprang, wie sie bis jetzt beispiellos gewesen ist und auch nie wieder in gleichem Maße vorkommen kann. Wollte man einen Konkurrenten vernichten, einen Nebenbuhler verderben, eine persönliche Rache befriedigen, so sagte man von seinem Feinde: „Er ist auf den Barrikaden gewesen!“ und das war hinreichend. Jn den ersten Tagen des Belagerungszustandes wurden alle Straßen von bewaffneten Bourgeois abgesperrt, und Paris strotzte von lebendigen Barrikaden. Als der in den letzten Zü- gen liegende Handel es erreicht hatte, daß die Straßen dem Verkehr wieder geöffnet wurden, da begann man die in den Gebäuden aufzusuchen, welche man im Vorübergehen nicht mehr ergreifen konnte. Wilde und rachsüchtige Patrouillen durchforsch- ten Alles mit wahnsinniger Barbarei. Das Geheimniß mancher friedlichen Wohnung wurde auf unwürdige Weise durch die Tra- banten irgend eines ungekannten und neuen Tyrannen entweiht. Sie hielten die Stadtwagen an, um die Reste der Jnsurrection in ihnen zu suchen; sie warfen Flammenblicke in dieselben und hätten sie gern mit den Spitzen der Bajonnette durchsucht. — Wehe dem, welcher Worte des Mitleids laut werden zu lassen wagte. Die Verirrung der Jnsurgenten beklagen, daran erinnern, daß viele von ihnen durch den Hunger zum Kampfe verleitet wären, das hieß, sich zu dem Mitschuldigen derselben machen. Seine Eltern, seine Freunde durfte man nicht einmal beweinen, wenn dieselben zufällig in den Aufstand verwickelt und gefallen waren. Es war in der großen und doch ganz mit Leichen er- füllten Stadt für die Besiegten ein Verbrechen, ihre Verluste zu betrauern. Man erschoß ein junges Mädchen, weil man es Charpie zupfend, vielleicht für ihren Vater, oder für ihren Ge- liebten, bei einem Haufen verwundeter Jnsurgenten betroffen hatte! Es ist wahr, daß nicht geplündert wurde, daß man keine Kinder an den Wänden der Häuser zerschmetterte, wie in Magde- burg einst, als es von Tilly's Kroaten, oder in Cremona, als es von des Antonius Cohorten eingenommen war, allein, was an den Ausbrüchen der Wuth fehlte, das wurde reichlich durch die Schande ersetzt. Spione hießen wachsame Leute, Verräther der Freundschaft nannte man wackere Bürger, Meuchelmörder galten für tapfere Männer. Dazu kamen an jedem Abend beim Anbruch der Nacht große Versammlungen der Bewaffneten, weil verdächtige Erscheinungen bemerkt waren, weil man gespenstigen Verschwörungsspuk durch die Lüfte hatte schweben sehen. Mit Unruhe vermuthete man in einer hinter einem Fenster bewegten Lampe ein geheimnißvollen Verschworenen fernhin gegebenes Signal. Auf dem Dache des Hauses, in welchem ich wohnte, untersuchte man eines Abends argwöhnisch einen durch die Strah- len des Mondes hervorgebrachten Widerschein! Der Zorn war bis zum Geistersehen, der Haß bis zu optischen Täuschungen gediehen. O der Erniedrigung für mein Vaterland! Es schien, als wäre Paris nur noch von wüthenden Narren bewohnt.

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Zitationshilfe: Social-politische Blätter. 4. Lieferung. Berlin, 9. April 1873, S. 88. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_social04_1873/16>, abgerufen am 21.11.2024.