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Social-politische Blätter. 2. Jahrgang, 7. Lieferung, Nr. 3. Berlin, 18. Juli 1874.

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Zur Unterhaltung und Belehrung. 171
[Beginn Spaltensatz] hüllter als andere Menschenkinder, sie blicken eben hinter die
Coulissen des Lebens, wo sich Alles ungeschminkter, natürlicher
abspielt. Der Arzt bemerkte auch, wie die tiefbekümmerte Mutter
jetzt in wirklichem Neglig e erschien, wie ihr Haar nicht geschei-
telt, ihre Bänder und Chemisetten nicht sorgfältig geglättet
waren, wie sie nur Aug' und Ohr und Sorge für das so schwer
kranke Kind und nicht für sich selber hatte. Dieses lag vollkom-
men marastisch, fast hoffnungslos darnieder; der kleine dünne
Lebensfaden schien in jeder Minute reißen zu wollen.

Eines Spätabends, nach abgehaltener Consultation, verkün-
deten die Aerzte dem Vater, der besorgt aber gefaßt war, ihre
Befürchtung daß eine Katastrophe in der folgenden Nacht ein-
treten könnte. Ohne die Schreckenskunde gehört zu haben, aus
purem Jnstinct, von innerer Seelenangst getrieben, bat die
Mutter mit schluchzender Stimme und händeringend den Haus-
arzt, er möge in der Villa übernachten. Es war eine Nacht
voll peinlicher, beklemmender Gedanken und Empfindungen.
Das Halbdunkel des Krankenzimmers, das eintönige Picken der
Uhr, das unheimliche, vergebliche Singen eines schwermüthigen
Schlafliedes, das leise, kaum hörbare Athmen des Kindes und
die von Thränen erstickte Stimme der Mutter, es war ein Bild
des unsäglichsten Kummers. Und der Arzt soll in Mitte alle der
Trauer und Wehmuth, des Jammers und der Verzweiflung "die
Ruhe beobachten," er soll und darf es nicht zur Schau tragen,
wie weh ihm selber dabei im Herzen ist; oft doppelt weh ob der
Begrenzung, ob der Ohnmacht seiner Kunst.

Der Morgen dämmerte, die Sonne kam und beleuchtete
den Schatten eines Gesichtchens, ganz bläulich gefärbt, das
Auge erloschen, das Athmen nur mit Mühe sichtbar, der Puls
kaum fühlbar -- nur noch eine kurze Weile, und ein milder
Todesengel hat das arme, kleine Kind erlöst von seinen Schmerzen
und Qualen. Jn früher Morgenstunde schon kam die kinderärzt-
liche Autorität zur Consultation. Der Ordinarius lispelte ihr
zu: " Est moribunda." ( Es muß sterben. ) Ein markerschütternder
Aufschrei folgte diesen beiden, so verhängnißvollen Worten, welche die
Mutter gehört und verstanden hatte, trotzdem dieselbe ganz leise ge-
sprochen wurden. Der Consiliarius, dem gewöhnlich die schmerzliche-
ren Momente der ärztlichen Praxis erspart bleiben, ging; der Ordi-
narius, mit der Trauer, mit dem Leidwesen der Familien mehr
vertraut, inniger verwachsen, blieb. Die Klagen waren ver-
stummt, die Thränen waren versigt, und eine ganz eigenthüm-
liche, psychologisch=räthselhafte Wandlung schien nun in dem
Seelenleben der schwer geprüften Mutter vorzugehen. Sie ver-
ließ das Kranken= und Sterbelager der kleinen Cornelia, kniete
in einiger Entfernung von demselben nieder, faltete die Hände
inbrünstig zum Gebete, scheinbar ruhig, resignirt, ganz in sich
und in ihre Andacht versunken. Das währte so länger denn drei
Stunden. Es war bereits ein voller Tag, daß sich die beklagens-
werthe Frau keine Minute der Ruhe gegönnt, daß keine Speise,
kein Trank über ihre Lippen gekommen war -- zu der beängsti-
genden Besorgniß um das Kind hatte sich für den Gatten und
Arzt jene um die Mutter gesellt.

Mit Bitten und Beschwören und mehr noch mit sanfter Ge-
walt gelang es, die für die Eindrücke der Außenwelt verlorene,
ganz erschöpfte Frau in das ebenerdige Geschoß des Landhauses
zu bringen. Willenlos. mechanisch sank die unglückliche Frau
auf ein Ruhebett nieder -- der Mann blieb ihr zur Seite.
Oben war der Arzt von wahrhast rührender Dienertreue um-
geben. Es schien ein Ruhepunkt, eine Pause in den so hilf-
und trostlosen Momenten der Agonie eingetreten zu sein. Um
nicht ein ganz passiver Zuschauer des düsteren Schauspiels zu
sein, und gewissermaßen nur, um Etwas zu thun, griff der Arzt
nach der Saugflasche, füllte sie mit frischem Wasser und einer
winzigen Beigabe von anregendem Vanille=Liquer, legte sie an
die kalten, todtbleichen Lippen des Kindes -- und siehe da, es
erfolgten zum Staunen des Arztes und seiner Umgebung erst
einige kaum hör= und sichtbare Züge, die nach einer Weile immer
merkbarer und kräftiger wurden. Mit größter Vorsicht, mit
unsäglicher Geduld wurden die scheinbar lebensrettenden Experi-
mente fortgesetzt. Aeußerst langsam nur, Linie um Linie, Hauch
um Hauch, kam eine kleine Besserung, eine geringe Erleichterung.
-- Die Last, die auf der Brust des armen Kindes lag, der Athem,
der es beengte, die eisige Kälte der Extremitäten, die bläuliche
Färbung des ganz verzogenen Gesichtchens, sie milderten sich in
etwas, kurz, schon nahe dem Grabesrande schien der düstere Gott
mit der Grabesfackel Barmherzigkeit walten zu lassen.

Der Arzt, wenn auch schwankend zwischen Furcht und Hoff-
[Spaltenumbruch] nung, ging doch zur Mutter hinab, die ganz regungslos, ganz
gebrochen darniederlag -- die arme Frau hatte keine Klagen,
keine Thränen mehr. Nur äußerst zurückhaltend und behutsam,
ließ er den Hoffnungsstrahl durch die Worte schimmern, die ihm
selbst das Herz bewegten. Jhr den Arm zur Stütze leihend,
führte er die Mutter zu dem Kinde, und als sie das Kind sah,
wie es mit Hast, sich fast überstürzend, die Flüssigkeit Zug um
Zug zu sich nahm, brach sie unter einem heißen Thränenstrome
in die erschütternden Worte aus: Mein liebes, mein theures,
mein herziges Kind -- es lebt!



Mehr denn drei Jahre sind seit der Schreckensnacht in der
Villa Emilien's vorübergegangen, und unsere kleine Cornelia
ist zum blühenden, reizenden Kinde herangewachsen. Der August-
Monat des Jahres 1870 führte einen gründlichen, doppelten
Heilungsprozeß in dem engen Familienkreise herbei; materiell,
körperlich für das Kind, geistig und sittlich für die Mutter. Die
Putz= und Gefallsucht, der leichte Sinn und die Eitelkeit sind
aus diesem Frauenherzen ausgezogen, und dafür die wahre, echte
Mutterliebe mit ihren über Alles beseligenden Empfindungen
eingekehrt. Am Krankenbette des Kindes ist ein Mutterherz ge-
sundet.     ( N. Fr. Pr. )



Wer hat die meiste Tinte verbraucht?

Der 1793 geborene, noch in Prag lebende, vormalige Kaiser
Ferdinand I. von Oesterreich, war schon 1830, noch zu Lebzeiten,
seines Vaters, des Kaisers Franz, zum Könige von Ungarn --
als Ferdinand V. -- gekrönt worden und machte dann Rund-
reisen durch Ungarn. So kam er auch nach der jungfräulichen
Festung Komorn an der Donau und Waag, wo man ihm zu
Ehren glänzende Paraden abhielt und alle die Fortifikations-
Arbeiten zeigte. Als der junge, für sehr naiv geltende König
mit dem Generalstabe allein war, sagte er: "Jch hab immer ge-
meint, daß die Festung Komorn schwarz angestrichen sei!" Man
wagte zu lächeln und unterthänigst zu fragen. weshalb Se. kö-
nigliche Majestät das geglaubt haben? "Ja, sehen's, ich hab
auch in der geheimen Kriegskanzlei wie jeder Andre arbeiten
müssen, und da fand ich in den Jahresrechnungen stets: "der
Fortifikation von Komorn jährlich für Tinte 10,000 Gulden!"
Eine bessere Charakteristik als diese naive Anschauung über die
österreichische Bureaukratie ist kaum denkbar!



Feine Geistesgegenwart.

Der Herzog von Grammont war einer der gewandtesten
und witzigsten Hofleute seiner Zeit. Eines Tages betrat er un-
angemeldet das Gemach des Kardinals Mazarin. Seine Emi-
nenz ergötzte sich, mit gleichen Füßen hohe Sprünge zu machen.

Den ersten Minister in einer so knabenhaften Belustigung zu
überraschen, war gefährlich. Ein weniger gewandter Hofmann
würde, Entschuldigungen stammelnd, sich zurückgezogen haben.
Der Herzog hingegen trat mit festem Schritt näher und sprach:
"Jch wette hundert Franken, daß ich höher springe als Eure
Eminenz!" Und nun begannen Beide aus Leibeskräften zu
springen. Grammont indessen nahm sich wohl in Acht, immer
einige Zoll niedriger zu springen als der Kardinal; und sechs
Monate nachher -- war Grammont Marschall von Frankreich.



Ein gutes Mittel.

Ein Pfarrer klagte einem zum Besuche anwesenden Kollegen,
daß die Mitglieder seiner Gemeinde die üble Gewohnheit hätten,
stets vor Beendigung seiner Predigt die Kirche zu verlassen.
"Das würde mir nicht passiren", antwortete der Freund zuver-
sichtlich. -- Der Pfarrer, wohl wissend, daß sein Frennd kein
Cicero war, bot demselben eine Wette an, daß die Zuhörer der
Predigt des Gastes ein gleiches Schicksal bereiten würden, wie
der seinigen. Der fremde Geistliche ging keck auf diese Wette
ein und begann am nächsten Tage seine Predigt mit folgender
Einleitung: "Brüder in Christo! Meine Predigt zerfällt in zwei
[Ende Spaltensatz]

Zur Unterhaltung und Belehrung. 171
[Beginn Spaltensatz] hüllter als andere Menschenkinder, sie blicken eben hinter die
Coulissen des Lebens, wo sich Alles ungeschminkter, natürlicher
abspielt. Der Arzt bemerkte auch, wie die tiefbekümmerte Mutter
jetzt in wirklichem Neglig é erschien, wie ihr Haar nicht geschei-
telt, ihre Bänder und Chemisetten nicht sorgfältig geglättet
waren, wie sie nur Aug' und Ohr und Sorge für das so schwer
kranke Kind und nicht für sich selber hatte. Dieses lag vollkom-
men marastisch, fast hoffnungslos darnieder; der kleine dünne
Lebensfaden schien in jeder Minute reißen zu wollen.

Eines Spätabends, nach abgehaltener Consultation, verkün-
deten die Aerzte dem Vater, der besorgt aber gefaßt war, ihre
Befürchtung daß eine Katastrophe in der folgenden Nacht ein-
treten könnte. Ohne die Schreckenskunde gehört zu haben, aus
purem Jnstinct, von innerer Seelenangst getrieben, bat die
Mutter mit schluchzender Stimme und händeringend den Haus-
arzt, er möge in der Villa übernachten. Es war eine Nacht
voll peinlicher, beklemmender Gedanken und Empfindungen.
Das Halbdunkel des Krankenzimmers, das eintönige Picken der
Uhr, das unheimliche, vergebliche Singen eines schwermüthigen
Schlafliedes, das leise, kaum hörbare Athmen des Kindes und
die von Thränen erstickte Stimme der Mutter, es war ein Bild
des unsäglichsten Kummers. Und der Arzt soll in Mitte alle der
Trauer und Wehmuth, des Jammers und der Verzweiflung „die
Ruhe beobachten,“ er soll und darf es nicht zur Schau tragen,
wie weh ihm selber dabei im Herzen ist; oft doppelt weh ob der
Begrenzung, ob der Ohnmacht seiner Kunst.

Der Morgen dämmerte, die Sonne kam und beleuchtete
den Schatten eines Gesichtchens, ganz bläulich gefärbt, das
Auge erloschen, das Athmen nur mit Mühe sichtbar, der Puls
kaum fühlbar — nur noch eine kurze Weile, und ein milder
Todesengel hat das arme, kleine Kind erlöst von seinen Schmerzen
und Qualen. Jn früher Morgenstunde schon kam die kinderärzt-
liche Autorität zur Consultation. Der Ordinarius lispelte ihr
zu: „ Est moribunda.“ ( Es muß sterben. ) Ein markerschütternder
Aufschrei folgte diesen beiden, so verhängnißvollen Worten, welche die
Mutter gehört und verstanden hatte, trotzdem dieselbe ganz leise ge-
sprochen wurden. Der Consiliarius, dem gewöhnlich die schmerzliche-
ren Momente der ärztlichen Praxis erspart bleiben, ging; der Ordi-
narius, mit der Trauer, mit dem Leidwesen der Familien mehr
vertraut, inniger verwachsen, blieb. Die Klagen waren ver-
stummt, die Thränen waren versigt, und eine ganz eigenthüm-
liche, psychologisch=räthselhafte Wandlung schien nun in dem
Seelenleben der schwer geprüften Mutter vorzugehen. Sie ver-
ließ das Kranken= und Sterbelager der kleinen Cornelia, kniete
in einiger Entfernung von demselben nieder, faltete die Hände
inbrünstig zum Gebete, scheinbar ruhig, resignirt, ganz in sich
und in ihre Andacht versunken. Das währte so länger denn drei
Stunden. Es war bereits ein voller Tag, daß sich die beklagens-
werthe Frau keine Minute der Ruhe gegönnt, daß keine Speise,
kein Trank über ihre Lippen gekommen war — zu der beängsti-
genden Besorgniß um das Kind hatte sich für den Gatten und
Arzt jene um die Mutter gesellt.

Mit Bitten und Beschwören und mehr noch mit sanfter Ge-
walt gelang es, die für die Eindrücke der Außenwelt verlorene,
ganz erschöpfte Frau in das ebenerdige Geschoß des Landhauses
zu bringen. Willenlos. mechanisch sank die unglückliche Frau
auf ein Ruhebett nieder — der Mann blieb ihr zur Seite.
Oben war der Arzt von wahrhast rührender Dienertreue um-
geben. Es schien ein Ruhepunkt, eine Pause in den so hilf-
und trostlosen Momenten der Agonie eingetreten zu sein. Um
nicht ein ganz passiver Zuschauer des düsteren Schauspiels zu
sein, und gewissermaßen nur, um Etwas zu thun, griff der Arzt
nach der Saugflasche, füllte sie mit frischem Wasser und einer
winzigen Beigabe von anregendem Vanille=Liquer, legte sie an
die kalten, todtbleichen Lippen des Kindes — und siehe da, es
erfolgten zum Staunen des Arztes und seiner Umgebung erst
einige kaum hör= und sichtbare Züge, die nach einer Weile immer
merkbarer und kräftiger wurden. Mit größter Vorsicht, mit
unsäglicher Geduld wurden die scheinbar lebensrettenden Experi-
mente fortgesetzt. Aeußerst langsam nur, Linie um Linie, Hauch
um Hauch, kam eine kleine Besserung, eine geringe Erleichterung.
— Die Last, die auf der Brust des armen Kindes lag, der Athem,
der es beengte, die eisige Kälte der Extremitäten, die bläuliche
Färbung des ganz verzogenen Gesichtchens, sie milderten sich in
etwas, kurz, schon nahe dem Grabesrande schien der düstere Gott
mit der Grabesfackel Barmherzigkeit walten zu lassen.

Der Arzt, wenn auch schwankend zwischen Furcht und Hoff-
[Spaltenumbruch] nung, ging doch zur Mutter hinab, die ganz regungslos, ganz
gebrochen darniederlag — die arme Frau hatte keine Klagen,
keine Thränen mehr. Nur äußerst zurückhaltend und behutsam,
ließ er den Hoffnungsstrahl durch die Worte schimmern, die ihm
selbst das Herz bewegten. Jhr den Arm zur Stütze leihend,
führte er die Mutter zu dem Kinde, und als sie das Kind sah,
wie es mit Hast, sich fast überstürzend, die Flüssigkeit Zug um
Zug zu sich nahm, brach sie unter einem heißen Thränenstrome
in die erschütternden Worte aus: Mein liebes, mein theures,
mein herziges Kind — es lebt!



Mehr denn drei Jahre sind seit der Schreckensnacht in der
Villa Emilien's vorübergegangen, und unsere kleine Cornelia
ist zum blühenden, reizenden Kinde herangewachsen. Der August-
Monat des Jahres 1870 führte einen gründlichen, doppelten
Heilungsprozeß in dem engen Familienkreise herbei; materiell,
körperlich für das Kind, geistig und sittlich für die Mutter. Die
Putz= und Gefallsucht, der leichte Sinn und die Eitelkeit sind
aus diesem Frauenherzen ausgezogen, und dafür die wahre, echte
Mutterliebe mit ihren über Alles beseligenden Empfindungen
eingekehrt. Am Krankenbette des Kindes ist ein Mutterherz ge-
sundet.     ( N. Fr. Pr. )



Wer hat die meiste Tinte verbraucht?

Der 1793 geborene, noch in Prag lebende, vormalige Kaiser
Ferdinand I. von Oesterreich, war schon 1830, noch zu Lebzeiten,
seines Vaters, des Kaisers Franz, zum Könige von Ungarn —
als Ferdinand V. — gekrönt worden und machte dann Rund-
reisen durch Ungarn. So kam er auch nach der jungfräulichen
Festung Komorn an der Donau und Waag, wo man ihm zu
Ehren glänzende Paraden abhielt und alle die Fortifikations-
Arbeiten zeigte. Als der junge, für sehr naiv geltende König
mit dem Generalstabe allein war, sagte er: „Jch hab immer ge-
meint, daß die Festung Komorn schwarz angestrichen sei!“ Man
wagte zu lächeln und unterthänigst zu fragen. weshalb Se. kö-
nigliche Majestät das geglaubt haben? „Ja, sehen's, ich hab
auch in der geheimen Kriegskanzlei wie jeder Andre arbeiten
müssen, und da fand ich in den Jahresrechnungen stets: „der
Fortifikation von Komorn jährlich für Tinte 10,000 Gulden!“
Eine bessere Charakteristik als diese naive Anschauung über die
österreichische Bureaukratie ist kaum denkbar!



Feine Geistesgegenwart.

Der Herzog von Grammont war einer der gewandtesten
und witzigsten Hofleute seiner Zeit. Eines Tages betrat er un-
angemeldet das Gemach des Kardinals Mazarin. Seine Emi-
nenz ergötzte sich, mit gleichen Füßen hohe Sprünge zu machen.

Den ersten Minister in einer so knabenhaften Belustigung zu
überraschen, war gefährlich. Ein weniger gewandter Hofmann
würde, Entschuldigungen stammelnd, sich zurückgezogen haben.
Der Herzog hingegen trat mit festem Schritt näher und sprach:
„Jch wette hundert Franken, daß ich höher springe als Eure
Eminenz!“ Und nun begannen Beide aus Leibeskräften zu
springen. Grammont indessen nahm sich wohl in Acht, immer
einige Zoll niedriger zu springen als der Kardinal; und sechs
Monate nachher — war Grammont Marschall von Frankreich.



Ein gutes Mittel.

Ein Pfarrer klagte einem zum Besuche anwesenden Kollegen,
daß die Mitglieder seiner Gemeinde die üble Gewohnheit hätten,
stets vor Beendigung seiner Predigt die Kirche zu verlassen.
„Das würde mir nicht passiren“, antwortete der Freund zuver-
sichtlich. — Der Pfarrer, wohl wissend, daß sein Frennd kein
Cicero war, bot demselben eine Wette an, daß die Zuhörer der
Predigt des Gastes ein gleiches Schicksal bereiten würden, wie
der seinigen. Der fremde Geistliche ging keck auf diese Wette
ein und begann am nächsten Tage seine Predigt mit folgender
Einleitung: „Brüder in Christo! Meine Predigt zerfällt in zwei
[Ende Spaltensatz]

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[171/0007] Zur Unterhaltung und Belehrung. 171 hüllter als andere Menschenkinder, sie blicken eben hinter die Coulissen des Lebens, wo sich Alles ungeschminkter, natürlicher abspielt. Der Arzt bemerkte auch, wie die tiefbekümmerte Mutter jetzt in wirklichem Neglig é erschien, wie ihr Haar nicht geschei- telt, ihre Bänder und Chemisetten nicht sorgfältig geglättet waren, wie sie nur Aug' und Ohr und Sorge für das so schwer kranke Kind und nicht für sich selber hatte. Dieses lag vollkom- men marastisch, fast hoffnungslos darnieder; der kleine dünne Lebensfaden schien in jeder Minute reißen zu wollen. Eines Spätabends, nach abgehaltener Consultation, verkün- deten die Aerzte dem Vater, der besorgt aber gefaßt war, ihre Befürchtung daß eine Katastrophe in der folgenden Nacht ein- treten könnte. Ohne die Schreckenskunde gehört zu haben, aus purem Jnstinct, von innerer Seelenangst getrieben, bat die Mutter mit schluchzender Stimme und händeringend den Haus- arzt, er möge in der Villa übernachten. Es war eine Nacht voll peinlicher, beklemmender Gedanken und Empfindungen. Das Halbdunkel des Krankenzimmers, das eintönige Picken der Uhr, das unheimliche, vergebliche Singen eines schwermüthigen Schlafliedes, das leise, kaum hörbare Athmen des Kindes und die von Thränen erstickte Stimme der Mutter, es war ein Bild des unsäglichsten Kummers. Und der Arzt soll in Mitte alle der Trauer und Wehmuth, des Jammers und der Verzweiflung „die Ruhe beobachten,“ er soll und darf es nicht zur Schau tragen, wie weh ihm selber dabei im Herzen ist; oft doppelt weh ob der Begrenzung, ob der Ohnmacht seiner Kunst. Der Morgen dämmerte, die Sonne kam und beleuchtete den Schatten eines Gesichtchens, ganz bläulich gefärbt, das Auge erloschen, das Athmen nur mit Mühe sichtbar, der Puls kaum fühlbar — nur noch eine kurze Weile, und ein milder Todesengel hat das arme, kleine Kind erlöst von seinen Schmerzen und Qualen. Jn früher Morgenstunde schon kam die kinderärzt- liche Autorität zur Consultation. Der Ordinarius lispelte ihr zu: „ Est moribunda.“ ( Es muß sterben. ) Ein markerschütternder Aufschrei folgte diesen beiden, so verhängnißvollen Worten, welche die Mutter gehört und verstanden hatte, trotzdem dieselbe ganz leise ge- sprochen wurden. Der Consiliarius, dem gewöhnlich die schmerzliche- ren Momente der ärztlichen Praxis erspart bleiben, ging; der Ordi- narius, mit der Trauer, mit dem Leidwesen der Familien mehr vertraut, inniger verwachsen, blieb. Die Klagen waren ver- stummt, die Thränen waren versigt, und eine ganz eigenthüm- liche, psychologisch=räthselhafte Wandlung schien nun in dem Seelenleben der schwer geprüften Mutter vorzugehen. Sie ver- ließ das Kranken= und Sterbelager der kleinen Cornelia, kniete in einiger Entfernung von demselben nieder, faltete die Hände inbrünstig zum Gebete, scheinbar ruhig, resignirt, ganz in sich und in ihre Andacht versunken. Das währte so länger denn drei Stunden. Es war bereits ein voller Tag, daß sich die beklagens- werthe Frau keine Minute der Ruhe gegönnt, daß keine Speise, kein Trank über ihre Lippen gekommen war — zu der beängsti- genden Besorgniß um das Kind hatte sich für den Gatten und Arzt jene um die Mutter gesellt. Mit Bitten und Beschwören und mehr noch mit sanfter Ge- walt gelang es, die für die Eindrücke der Außenwelt verlorene, ganz erschöpfte Frau in das ebenerdige Geschoß des Landhauses zu bringen. Willenlos. mechanisch sank die unglückliche Frau auf ein Ruhebett nieder — der Mann blieb ihr zur Seite. Oben war der Arzt von wahrhast rührender Dienertreue um- geben. Es schien ein Ruhepunkt, eine Pause in den so hilf- und trostlosen Momenten der Agonie eingetreten zu sein. Um nicht ein ganz passiver Zuschauer des düsteren Schauspiels zu sein, und gewissermaßen nur, um Etwas zu thun, griff der Arzt nach der Saugflasche, füllte sie mit frischem Wasser und einer winzigen Beigabe von anregendem Vanille=Liquer, legte sie an die kalten, todtbleichen Lippen des Kindes — und siehe da, es erfolgten zum Staunen des Arztes und seiner Umgebung erst einige kaum hör= und sichtbare Züge, die nach einer Weile immer merkbarer und kräftiger wurden. Mit größter Vorsicht, mit unsäglicher Geduld wurden die scheinbar lebensrettenden Experi- mente fortgesetzt. Aeußerst langsam nur, Linie um Linie, Hauch um Hauch, kam eine kleine Besserung, eine geringe Erleichterung. — Die Last, die auf der Brust des armen Kindes lag, der Athem, der es beengte, die eisige Kälte der Extremitäten, die bläuliche Färbung des ganz verzogenen Gesichtchens, sie milderten sich in etwas, kurz, schon nahe dem Grabesrande schien der düstere Gott mit der Grabesfackel Barmherzigkeit walten zu lassen. Der Arzt, wenn auch schwankend zwischen Furcht und Hoff- nung, ging doch zur Mutter hinab, die ganz regungslos, ganz gebrochen darniederlag — die arme Frau hatte keine Klagen, keine Thränen mehr. Nur äußerst zurückhaltend und behutsam, ließ er den Hoffnungsstrahl durch die Worte schimmern, die ihm selbst das Herz bewegten. Jhr den Arm zur Stütze leihend, führte er die Mutter zu dem Kinde, und als sie das Kind sah, wie es mit Hast, sich fast überstürzend, die Flüssigkeit Zug um Zug zu sich nahm, brach sie unter einem heißen Thränenstrome in die erschütternden Worte aus: Mein liebes, mein theures, mein herziges Kind — es lebt! Mehr denn drei Jahre sind seit der Schreckensnacht in der Villa Emilien's vorübergegangen, und unsere kleine Cornelia ist zum blühenden, reizenden Kinde herangewachsen. Der August- Monat des Jahres 1870 führte einen gründlichen, doppelten Heilungsprozeß in dem engen Familienkreise herbei; materiell, körperlich für das Kind, geistig und sittlich für die Mutter. Die Putz= und Gefallsucht, der leichte Sinn und die Eitelkeit sind aus diesem Frauenherzen ausgezogen, und dafür die wahre, echte Mutterliebe mit ihren über Alles beseligenden Empfindungen eingekehrt. Am Krankenbette des Kindes ist ein Mutterherz ge- sundet. ( N. Fr. Pr. ) Wer hat die meiste Tinte verbraucht? Der 1793 geborene, noch in Prag lebende, vormalige Kaiser Ferdinand I. von Oesterreich, war schon 1830, noch zu Lebzeiten, seines Vaters, des Kaisers Franz, zum Könige von Ungarn — als Ferdinand V. — gekrönt worden und machte dann Rund- reisen durch Ungarn. So kam er auch nach der jungfräulichen Festung Komorn an der Donau und Waag, wo man ihm zu Ehren glänzende Paraden abhielt und alle die Fortifikations- Arbeiten zeigte. Als der junge, für sehr naiv geltende König mit dem Generalstabe allein war, sagte er: „Jch hab immer ge- meint, daß die Festung Komorn schwarz angestrichen sei!“ Man wagte zu lächeln und unterthänigst zu fragen. weshalb Se. kö- nigliche Majestät das geglaubt haben? „Ja, sehen's, ich hab auch in der geheimen Kriegskanzlei wie jeder Andre arbeiten müssen, und da fand ich in den Jahresrechnungen stets: „der Fortifikation von Komorn jährlich für Tinte 10,000 Gulden!“ Eine bessere Charakteristik als diese naive Anschauung über die österreichische Bureaukratie ist kaum denkbar! Feine Geistesgegenwart. Der Herzog von Grammont war einer der gewandtesten und witzigsten Hofleute seiner Zeit. Eines Tages betrat er un- angemeldet das Gemach des Kardinals Mazarin. Seine Emi- nenz ergötzte sich, mit gleichen Füßen hohe Sprünge zu machen. Den ersten Minister in einer so knabenhaften Belustigung zu überraschen, war gefährlich. Ein weniger gewandter Hofmann würde, Entschuldigungen stammelnd, sich zurückgezogen haben. Der Herzog hingegen trat mit festem Schritt näher und sprach: „Jch wette hundert Franken, daß ich höher springe als Eure Eminenz!“ Und nun begannen Beide aus Leibeskräften zu springen. Grammont indessen nahm sich wohl in Acht, immer einige Zoll niedriger zu springen als der Kardinal; und sechs Monate nachher — war Grammont Marschall von Frankreich. Ein gutes Mittel. Ein Pfarrer klagte einem zum Besuche anwesenden Kollegen, daß die Mitglieder seiner Gemeinde die üble Gewohnheit hätten, stets vor Beendigung seiner Predigt die Kirche zu verlassen. „Das würde mir nicht passiren“, antwortete der Freund zuver- sichtlich. — Der Pfarrer, wohl wissend, daß sein Frennd kein Cicero war, bot demselben eine Wette an, daß die Zuhörer der Predigt des Gastes ein gleiches Schicksal bereiten würden, wie der seinigen. Der fremde Geistliche ging keck auf diese Wette ein und begann am nächsten Tage seine Predigt mit folgender Einleitung: „Brüder in Christo! Meine Predigt zerfällt in zwei

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Zitationshilfe: Social-politische Blätter. 2. Jahrgang, 7. Lieferung, Nr. 3. Berlin, 18. Juli 1874, S. 171. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_social0703_1874/7>, abgerufen am 21.11.2024.