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Sonntags-Blatt. Nr. 6. Berlin, 9. Februar 1868.

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[Beginn Spaltensatz] Wendenvertilgung vollbracht, und nur noch geringe Trümmer des Volkes
sollten unvermischt auf die Nachwelt übergehen. Sie existiren noch; außer
den Wenden der beiden Lausitzen ist die Halbinsel Mönchgut auf Rügen
von reinen Nachkommen der Wenden bewohnt. Abgeschlossen von den
Nachbarn, haben sie Sprache, Kleidung und zum Theil auch Verschiedenes
der alten Sitten bewahrt, wie die Lausitzer. Es ist ein stilles, friedliches,
sittsames, arbeitsames Völkchen, mißtrauisch und schüchtern gegen Fremde.
Vielleicht erhielt sie der Schutz eines Klosters gegen Vertilgung, besonders
gegen die kriegerischen Jasmunder, welche sie häufig bedrängten. Wenden-
dörfer befinden sich auch an der Küste von Hinterpommern; ihre Bewohner
haben sich die alte Tracht, aber nicht die Sprache erhalten; sie sind mun-
tere, rührige Menschen, meistens von großem, starkem Körperbau, ohne
Mißtrauen gegen Deutsche; endlich befinden sich im östlichen Winkel von
Pommern, auf einer Küstenstrecke, die Kassuben mit ihrer eigenen Sprache,
doch wohl schon durch polnisches Blut vermischter Herkunft. Das Volk
der Kassuben wird als das erste in der Reihe der wendischen Völker in
alter Zeit geschildert; ihr Land umfaßte Pommern bis zur Grabow und
Persante, einen Theil der Neumark und Westpreußen. Von Polen her
bekehrt, nahmen die Kassuben unter Mestwin als Herzog von Danzig noch-
mals einen Aufschwung; doch auch dieser Wendenstamm unterlag dem ge-
meinsamen Andringen der Dänen über See, der Einwanderung von
Westen her und während der Kämpfe gegen die heidnischen Preußen und
Litthauer, welche im nun begonnenen dreizehnten Jahrhundert auftreten
sollten, bis auf die wenigen Ueberbleibsel auf den öden Dünenküsten der
Ostsee. Jch habe diese Reste der kassubischen Wenden weniger achtungs-
werth als die der pommerschen und ranischen gefunden; sie sind miß-
trauisch, hinterlistig, streit= und trunksüchtig, unreinlich und arm. Dies
mag wohl den Schlüssel zu der abweichenden Erscheinung von ihren
Stammesgenossen geben, denn jene sind sämmtlich wohlhabend.

Der Anlauf, welcher in letzterer Zeit genommen worden, für Ausbil-
dung der wendischen Sprache und Hebung ihrer Literatur zu sorgen, mag
berechtigt sein; aber was soll es nützen, zerstreute Trümmer eines ver-
lorenen Volkes als bestimmte Nationalität mit eigener Sprache noch schärfer
abzugrenzen, als schon bisher geschehen? Praktischer dürfte eine Anbahnung
zur gänzlichen Verschmelzung mit dem Hauptelement des Volkes, dem sie ein-
verleibt, erscheinen; nur ein Grund wäre vorhanden, Sprache und Literatur
der Wenden zu fördern, nämlich der, noch verborgene Geschichtsquellen zu
entdecken und nach ihnen zu forschen; denn das arme untergegangene
Wendenvolk hat keine eigene Geschichte, wie der Zigeuner keine hat und
einst die amerikanische Rothhaut, der Austral=Neger keine haben werden.
Alles, was wir von denselben kennen, ist von parteiischen Fremden und
Gegnern verzeichnet und berichtet.

Darum sind diese Berichte und auch selbst die, welche von dem gräu-
lichen Götzendienst des Volkes sprechen, mit großer Vorsicht aufzunehmen.
Jm letztern Falle waren die Berichterstatter überdem meisters bigotte und
fanatische Mönche von einseitiger Bildung und beschränkten Geistesgaben.
Aber wo mögen sich Geschichtsdokumente aus der allgemeinen Zerstörung
gerettet haben, wo dürften sie zu finden sein? Es wird ein hoffnungsloses
Suchen sein; dasselbe Grab hat das Volk, seine Sprache, wie die genaueren
Zeugnisse seines Daseins verschlungen, und an dieser gewaltigen Gruft
werden wir am 15. Juni 1868 nicht stehen dürfen, ein Jubelfest zu feiern,
sondern in [unleserliches Material - 17 Zeichen fehlen]Erinnerungstrauer -- einer Trauer, welche allerdings nicht dem
aufgehobenen Götzendienst gelten kann, sondern dem Jahrhunderte lang
dauernden grausamen Hinschlachten eines Völkerlebens, das herrliche Blü-
then treiben konnte, wenn es bis in unsere Zeit hineinragte; einer Trauer
über das ganze Geschlecht, welches in blindem Wahn wieder und wieder
zur mörderischen Waffe greift, die Segnungen des Friedens, dem die Natur
die höchsten Genüsse des Daseins bietet, zu zerstören, und zu verhindern,
daß der bessere Geist in der Menschheit die Oberherrschaft erringt.



Zu Esel und zu Fuß.
Eine Reiseskizze.

" So ärgere Dich doch nicht weiter", sagte sie.

"J, da müßte man ja keine Galle im Leibe haben", wetterte ich, in-
dem ich mit der viel ruhigeren Dulderin, meiner Frau, an der Seite über
den unter unseren Füßen glühenden Platz vor dem Theater San Carlo
in Neapel dahinschritt. "Und diese wahnsinnige Hitze obendrein", fuhr ich
fort und warf dabei dem blauen Himmel Jtaliens, nach dem ich mich von
Kindesbeinen an so tief gesehnt hatte, einen so grimmigen Blick zu, daß er
die beste Flasche Lacrimae Christi hätte sauer machen können, "eine solche
Hitze jetzt am Spätnachmittag; der Teufel mag seine gute Laune behalten
in diesem verwünschten Nest!"

Wenn mir Jemand noch vor ein Paar Monaten in unserem schnee-
bedeckten Deutschland gesagt hätte, daß es möglich sei, in dem " glück-
seligen " Neapel und noch dazu eben auf einer Tour nach Camaldoli, dessen
bloßer Name mich immer schon in Extase versetzt hatte, begriffen, eine so
schlechte Laune zu haben, wie ich sie eben entwickelte, so würde ich ihn
wahrscheinlich mit den anzüglichsten Redensarten bedient haben. "Herr",
hätte ich gesagt, "wer seinen Stimmungen nicht zu gebieten vermag, wer
nicht so viel Kraft hat, die Paar Unannehmlichkeiten einer Reise zu ertra-
gen, der soll seine Schlafmütze über den Ohren behalten und hinter dem
Ofen hocken bleiben" u. s. w. Aber wenn sich nach so und so viel durch-
reisten Wochen die Waffen des Humors schon etwas abgestumpft haben,
wenn man die ganze Nacht wegen einer Hitze von 23 Grad um Mitter-
nacht, wegen des wahrhaft teuflischen Tobens, Fahrens, Blökens -- denn
anders kann man die nächtlichen Gesangsversuche der Jtaliener nicht
nennen -- auf der Santa Lucia und wegen anderer, nicht nennbarer
[Spaltenumbruch] Qualen kein Auge hat zuthun können, wenn man früh um sechs Uhr auf
der Straße schon den Schatten suchen muß, den ganzen Vormittag sich in
den Museen müde gelaufen hat und nun noch beim Mittagessen, mitten
in einer Wolke von Millionen Fliegen, Krakehl mit dem Kellner bekömmt,
weil er -- noch dazu ein norddeutscher Bundesbruder, der Neapel noch
überneapelt -- für zwei Portionen Eierspeise mit Salat gleich1 1 / 2 Frcs.
Trinkgeld auf die Rechnung gesetzt hat, so ist es wahrlich kein Wunder,
wenn die Pauke, wie man zu sagen pflegt, einmal ein Loch bekömmt.

Jch war so ärgerlich, daß ich nicht einmal eine elegante schwarzäugige
Schöne mehr beachtete, welche so eben aus ihrer höchst noblen Equipage
stieg, um, des Schreibens unkundig, einem der unter den Hallen von San
Carlo sitzenden öffentlichen Schreiber ein vielleicht sehr bedenkliches Briefchen
in die Feder zu diktiren -- ein Anblick den ich zwar schon öfter gehabt, der
aber so ein bildungsfrohes deutsches Herz doch allemal mußte aufjubeln
machen.

Die Toledostraße, in welche wir jetzt einbogen, war auch nicht geeignet,
meine Laune zu bessern. Das Drängen, Fahren, Schreien in dieser doch
so breiten Straße überstieg, obgleich nicht etwa ein außergewöhnlicher
Grund die Menschheit aus den Häusern gelockt hatte, alle transmontanen
Begriffe. Es war eine wahre Schanzgräberarbeit, sich auf dem Trottoir
hinzuwühlen. Nicht einmal jene wirklich nicht genug anzuerkennende Galanterie,
welche sonst auch der gemeinste Jtaliener den Damen zu Theil werden
läßt und an der sich mancher Grobsack des intelligenten Deutschlands recht
wohl ein Beispiel nehmen könnte, fand hier Spielraum genug. Und beim
Schwimmen und Waten durch dieses Menschenmeer auch noch immer die
Hände an Uhr und Portemonnaie haben, um sich vor den vielberühmten
Künsten neapolitanischer Taschendiebe zu sichern! Jch schwur im Schweiße
meines Angesichts zehnmal hinter einander, daß mich keine Macht der
Welt je wieder zu Fuß durch diese Höllenstraße bringen solle; ich erklärte
alle Menschen, die auf einer solchen Straße wohnen könnten, für nicht
recht gescheidt, und hätte in der That nicht meine Frau sein und alle
die Redensarten mit anhören mögen, die keineswegs wie Honigseim von
meinen Lippen flossen.

Am oberen Ende der Straße Toledo stehen Esel bereit, um faulen
Wanderern die Mühe zu ersparen, sich nach dem etwa1 3 / 4 Stunden
entfernten Camaldoli selber hinauf zu schleppen. Nun verdient zwar das
Ehepaar, von dem ich rede, das Beiwort "faule Wanderer" eigentlich
nicht, denn auf Touren in deutschen Gebirgen begriffen, hat es stets
seine acht bis neun Stunden des Tages zu Fuß zurückgelegt, hat
selbst auf Schweizerreisen grundsätzlich niemals die Beine eines andern
Geschöpfes mit den seinigen beschwert; aber die welsche Sonne hatte
Elastizität und Ehrgefühl bereits in solchem Grade aus mir heraus
gedampft, daß ich, als wir endlich die so gemüthliche Toledostraße hinter
uns hatten, mich unwiderstehlich von jener langohrigen Wohlthat des
Menschengeschlechts angezogen fühlte. Jch hehauptete also kurzweg, meine
Frau könne nicht mehr gehen, es müsse also geritten werden, und begann
sofort mit dem Esel=Jnhaber, der natürlich ein wahrhaft banditenartiges
Aussehen hatte, den Kampf um den Miethspreis.

1 bis1 1 / 2 Frcs. ist der Preis eines Esels nach Camaldoli, wie Reise-
bücher und Einheimische berichten. Der Spitzhut forderte aber, jedenfalls
aus ganz besonderer Achtung vor uns, für zwei Esel zehn Francs.
" Troppo ", entrollte es meinen Lippen und ich bot vier Francs. Herr des
Himmels, was hatte ich gethan! Ein wahres Samielgelächter war die Ant-
wort, und diesem folgte eine so rasende Wortflut, daß ich mit meinem
Gebote die ganze vereinigte Nation und den heiligen Januarius obendrein
geschmäht zu haben glaubte. Der Bursch fuchtelte mit Händen und Beinen
wie toll in der Luft herum; seinen Augen nach hätte man glauben müssen,
er würde jeden Augenblick den Dolch aus der Scheide reißen. Madonna,
Bachus, Jddio und alle Heiligen kugelten sich in wirrem Knäuel auf seinen
Lippen, und sie alle mußten Zeuge sein, daß noch nie ein Inglese ( den
Leutchen sind alle Fremde Engländer, und zwar entsetzlich reiche ) solch ein
Gebot gewagt habe. Endlich legte sich der Sturm. "Deine Esel sind
doch gut und noch nicht müde?" fragte ich jetzt. Neuer, schrecklicherer Aus-
bruch. Himmel und Erde sollten sich spalten und der Madonna das
Gräßlichste geschehen, wenn es nicht die besten Esel Jtaliens seien; auch
solle ich nicht einen Quattrino bezahlen, wenn ich [unleserliches Material - 3 Zeichen fehlen]nur die allergeringste
Klage haben würde. "Fünf Francs und eine Bottiglie[unleserliches Material] ", lautete es weiter.
Bottiglia -- dies Zauberwort schlägt Alles nieder. Jm Nu war der
Mensch verwandelt und der demüthigste Diener der Welt. Die unglück-
lichen Grauröcke, ihre langen Ohren schüttelnd in tiefer Melancholie über
diese martervolle Welt, wurden herbeigeschleppt, und ein etwa zwölfjähriger
Schlingel mit dem hübschesten, aber auch abgefeimtesten Spitzbubengesicht,
das je unter einer neapolitanischen Fischermütze gesessen, präsentirte sich
als Führer.

Der Ritt begann, meine Frau vornweg; Tonino, der hoffnungsvolle
Sprößling der Lazzaroni, unaufhörlich schwatzend, gestikulirend, Unfug
treibend, neben ihr, ich hinterher, die Beine fast auf dem Pflaster schlep-
pend, das Reisebuch in der Tasche, den Regenschirm aufgespannt gegen die
liebenswürdige Sonne -- ein prachtvoller Vorwurf für einen Maler.
Schon wollte ich mich von meiner sicheren Höhe herab der Betrachtung
aller der wunderbaren Volksscenen umher in besserer Stimmung hingeben,
als ich bemerkte, daß mein Efel, furchtbar abgetrieben, nicht nur unmäßig
gegen den andern zurückblieb, sondern auch nicht den geringsten Willen
zeigte, dem Zügel zu gehorchen, und dabei, zur Freude aller Vorübergehen-
den, die verruchte Neigung kund gab, bald das rechte, bald das linke Knie
seines Reiters an den Mauern abzuschinden. Prügel waren ihm leerer
Schall. Für den junkerlichsten Puff hatte er stets nur ein Ohrenzucken mit
der tiefsinnigen Bedeutung: "Es schmerzt nicht, mein Pätus!" Zuletzt
blieb er ganz stehen.

( Fortsetzung folgt. )



[Ende Spaltensatz]

[Beginn Spaltensatz] Wendenvertilgung vollbracht, und nur noch geringe Trümmer des Volkes
sollten unvermischt auf die Nachwelt übergehen. Sie existiren noch; außer
den Wenden der beiden Lausitzen ist die Halbinsel Mönchgut auf Rügen
von reinen Nachkommen der Wenden bewohnt. Abgeschlossen von den
Nachbarn, haben sie Sprache, Kleidung und zum Theil auch Verschiedenes
der alten Sitten bewahrt, wie die Lausitzer. Es ist ein stilles, friedliches,
sittsames, arbeitsames Völkchen, mißtrauisch und schüchtern gegen Fremde.
Vielleicht erhielt sie der Schutz eines Klosters gegen Vertilgung, besonders
gegen die kriegerischen Jasmunder, welche sie häufig bedrängten. Wenden-
dörfer befinden sich auch an der Küste von Hinterpommern; ihre Bewohner
haben sich die alte Tracht, aber nicht die Sprache erhalten; sie sind mun-
tere, rührige Menschen, meistens von großem, starkem Körperbau, ohne
Mißtrauen gegen Deutsche; endlich befinden sich im östlichen Winkel von
Pommern, auf einer Küstenstrecke, die Kassuben mit ihrer eigenen Sprache,
doch wohl schon durch polnisches Blut vermischter Herkunft. Das Volk
der Kassuben wird als das erste in der Reihe der wendischen Völker in
alter Zeit geschildert; ihr Land umfaßte Pommern bis zur Grabow und
Persante, einen Theil der Neumark und Westpreußen. Von Polen her
bekehrt, nahmen die Kassuben unter Mestwin als Herzog von Danzig noch-
mals einen Aufschwung; doch auch dieser Wendenstamm unterlag dem ge-
meinsamen Andringen der Dänen über See, der Einwanderung von
Westen her und während der Kämpfe gegen die heidnischen Preußen und
Litthauer, welche im nun begonnenen dreizehnten Jahrhundert auftreten
sollten, bis auf die wenigen Ueberbleibsel auf den öden Dünenküsten der
Ostsee. Jch habe diese Reste der kassubischen Wenden weniger achtungs-
werth als die der pommerschen und ranischen gefunden; sie sind miß-
trauisch, hinterlistig, streit= und trunksüchtig, unreinlich und arm. Dies
mag wohl den Schlüssel zu der abweichenden Erscheinung von ihren
Stammesgenossen geben, denn jene sind sämmtlich wohlhabend.

Der Anlauf, welcher in letzterer Zeit genommen worden, für Ausbil-
dung der wendischen Sprache und Hebung ihrer Literatur zu sorgen, mag
berechtigt sein; aber was soll es nützen, zerstreute Trümmer eines ver-
lorenen Volkes als bestimmte Nationalität mit eigener Sprache noch schärfer
abzugrenzen, als schon bisher geschehen? Praktischer dürfte eine Anbahnung
zur gänzlichen Verschmelzung mit dem Hauptelement des Volkes, dem sie ein-
verleibt, erscheinen; nur ein Grund wäre vorhanden, Sprache und Literatur
der Wenden zu fördern, nämlich der, noch verborgene Geschichtsquellen zu
entdecken und nach ihnen zu forschen; denn das arme untergegangene
Wendenvolk hat keine eigene Geschichte, wie der Zigeuner keine hat und
einst die amerikanische Rothhaut, der Austral=Neger keine haben werden.
Alles, was wir von denselben kennen, ist von parteiischen Fremden und
Gegnern verzeichnet und berichtet.

Darum sind diese Berichte und auch selbst die, welche von dem gräu-
lichen Götzendienst des Volkes sprechen, mit großer Vorsicht aufzunehmen.
Jm letztern Falle waren die Berichterstatter überdem meisters bigotte und
fanatische Mönche von einseitiger Bildung und beschränkten Geistesgaben.
Aber wo mögen sich Geschichtsdokumente aus der allgemeinen Zerstörung
gerettet haben, wo dürften sie zu finden sein? Es wird ein hoffnungsloses
Suchen sein; dasselbe Grab hat das Volk, seine Sprache, wie die genaueren
Zeugnisse seines Daseins verschlungen, und an dieser gewaltigen Gruft
werden wir am 15. Juni 1868 nicht stehen dürfen, ein Jubelfest zu feiern,
sondern in [unleserliches Material – 17 Zeichen fehlen]Erinnerungstrauer — einer Trauer, welche allerdings nicht dem
aufgehobenen Götzendienst gelten kann, sondern dem Jahrhunderte lang
dauernden grausamen Hinschlachten eines Völkerlebens, das herrliche Blü-
then treiben konnte, wenn es bis in unsere Zeit hineinragte; einer Trauer
über das ganze Geschlecht, welches in blindem Wahn wieder und wieder
zur mörderischen Waffe greift, die Segnungen des Friedens, dem die Natur
die höchsten Genüsse des Daseins bietet, zu zerstören, und zu verhindern,
daß der bessere Geist in der Menschheit die Oberherrschaft erringt.



Zu Esel und zu Fuß.
Eine Reiseskizze.

So ärgere Dich doch nicht weiter“, sagte sie.

„J, da müßte man ja keine Galle im Leibe haben“, wetterte ich, in-
dem ich mit der viel ruhigeren Dulderin, meiner Frau, an der Seite über
den unter unseren Füßen glühenden Platz vor dem Theater San Carlo
in Neapel dahinschritt. „Und diese wahnsinnige Hitze obendrein“, fuhr ich
fort und warf dabei dem blauen Himmel Jtaliens, nach dem ich mich von
Kindesbeinen an so tief gesehnt hatte, einen so grimmigen Blick zu, daß er
die beste Flasche Lacrimae Christi hätte sauer machen können, „eine solche
Hitze jetzt am Spätnachmittag; der Teufel mag seine gute Laune behalten
in diesem verwünschten Nest!“

Wenn mir Jemand noch vor ein Paar Monaten in unserem schnee-
bedeckten Deutschland gesagt hätte, daß es möglich sei, in dem „ glück-
seligen “ Neapel und noch dazu eben auf einer Tour nach Camaldoli, dessen
bloßer Name mich immer schon in Extase versetzt hatte, begriffen, eine so
schlechte Laune zu haben, wie ich sie eben entwickelte, so würde ich ihn
wahrscheinlich mit den anzüglichsten Redensarten bedient haben. „Herr“,
hätte ich gesagt, „wer seinen Stimmungen nicht zu gebieten vermag, wer
nicht so viel Kraft hat, die Paar Unannehmlichkeiten einer Reise zu ertra-
gen, der soll seine Schlafmütze über den Ohren behalten und hinter dem
Ofen hocken bleiben“ u. s. w. Aber wenn sich nach so und so viel durch-
reisten Wochen die Waffen des Humors schon etwas abgestumpft haben,
wenn man die ganze Nacht wegen einer Hitze von 23 Grad um Mitter-
nacht, wegen des wahrhaft teuflischen Tobens, Fahrens, Blökens — denn
anders kann man die nächtlichen Gesangsversuche der Jtaliener nicht
nennen — auf der Santa Lucia und wegen anderer, nicht nennbarer
[Spaltenumbruch] Qualen kein Auge hat zuthun können, wenn man früh um sechs Uhr auf
der Straße schon den Schatten suchen muß, den ganzen Vormittag sich in
den Museen müde gelaufen hat und nun noch beim Mittagessen, mitten
in einer Wolke von Millionen Fliegen, Krakehl mit dem Kellner bekömmt,
weil er — noch dazu ein norddeutscher Bundesbruder, der Neapel noch
überneapelt — für zwei Portionen Eierspeise mit Salat gleich1 1 / 2 Frcs.
Trinkgeld auf die Rechnung gesetzt hat, so ist es wahrlich kein Wunder,
wenn die Pauke, wie man zu sagen pflegt, einmal ein Loch bekömmt.

Jch war so ärgerlich, daß ich nicht einmal eine elegante schwarzäugige
Schöne mehr beachtete, welche so eben aus ihrer höchst noblen Equipage
stieg, um, des Schreibens unkundig, einem der unter den Hallen von San
Carlo sitzenden öffentlichen Schreiber ein vielleicht sehr bedenkliches Briefchen
in die Feder zu diktiren — ein Anblick den ich zwar schon öfter gehabt, der
aber so ein bildungsfrohes deutsches Herz doch allemal mußte aufjubeln
machen.

Die Toledostraße, in welche wir jetzt einbogen, war auch nicht geeignet,
meine Laune zu bessern. Das Drängen, Fahren, Schreien in dieser doch
so breiten Straße überstieg, obgleich nicht etwa ein außergewöhnlicher
Grund die Menschheit aus den Häusern gelockt hatte, alle transmontanen
Begriffe. Es war eine wahre Schanzgräberarbeit, sich auf dem Trottoir
hinzuwühlen. Nicht einmal jene wirklich nicht genug anzuerkennende Galanterie,
welche sonst auch der gemeinste Jtaliener den Damen zu Theil werden
läßt und an der sich mancher Grobsack des intelligenten Deutschlands recht
wohl ein Beispiel nehmen könnte, fand hier Spielraum genug. Und beim
Schwimmen und Waten durch dieses Menschenmeer auch noch immer die
Hände an Uhr und Portemonnaie haben, um sich vor den vielberühmten
Künsten neapolitanischer Taschendiebe zu sichern! Jch schwur im Schweiße
meines Angesichts zehnmal hinter einander, daß mich keine Macht der
Welt je wieder zu Fuß durch diese Höllenstraße bringen solle; ich erklärte
alle Menschen, die auf einer solchen Straße wohnen könnten, für nicht
recht gescheidt, und hätte in der That nicht meine Frau sein und alle
die Redensarten mit anhören mögen, die keineswegs wie Honigseim von
meinen Lippen flossen.

Am oberen Ende der Straße Toledo stehen Esel bereit, um faulen
Wanderern die Mühe zu ersparen, sich nach dem etwa1 3 / 4 Stunden
entfernten Camaldoli selber hinauf zu schleppen. Nun verdient zwar das
Ehepaar, von dem ich rede, das Beiwort „faule Wanderer“ eigentlich
nicht, denn auf Touren in deutschen Gebirgen begriffen, hat es stets
seine acht bis neun Stunden des Tages zu Fuß zurückgelegt, hat
selbst auf Schweizerreisen grundsätzlich niemals die Beine eines andern
Geschöpfes mit den seinigen beschwert; aber die welsche Sonne hatte
Elastizität und Ehrgefühl bereits in solchem Grade aus mir heraus
gedampft, daß ich, als wir endlich die so gemüthliche Toledostraße hinter
uns hatten, mich unwiderstehlich von jener langohrigen Wohlthat des
Menschengeschlechts angezogen fühlte. Jch hehauptete also kurzweg, meine
Frau könne nicht mehr gehen, es müsse also geritten werden, und begann
sofort mit dem Esel=Jnhaber, der natürlich ein wahrhaft banditenartiges
Aussehen hatte, den Kampf um den Miethspreis.

1 bis1 1 / 2 Frcs. ist der Preis eines Esels nach Camaldoli, wie Reise-
bücher und Einheimische berichten. Der Spitzhut forderte aber, jedenfalls
aus ganz besonderer Achtung vor uns, für zwei Esel zehn Francs.
Troppo “, entrollte es meinen Lippen und ich bot vier Francs. Herr des
Himmels, was hatte ich gethan! Ein wahres Samielgelächter war die Ant-
wort, und diesem folgte eine so rasende Wortflut, daß ich mit meinem
Gebote die ganze vereinigte Nation und den heiligen Januarius obendrein
geschmäht zu haben glaubte. Der Bursch fuchtelte mit Händen und Beinen
wie toll in der Luft herum; seinen Augen nach hätte man glauben müssen,
er würde jeden Augenblick den Dolch aus der Scheide reißen. Madonna,
Bachus, Jddio und alle Heiligen kugelten sich in wirrem Knäuel auf seinen
Lippen, und sie alle mußten Zeuge sein, daß noch nie ein Inglese ( den
Leutchen sind alle Fremde Engländer, und zwar entsetzlich reiche ) solch ein
Gebot gewagt habe. Endlich legte sich der Sturm. „Deine Esel sind
doch gut und noch nicht müde?“ fragte ich jetzt. Neuer, schrecklicherer Aus-
bruch. Himmel und Erde sollten sich spalten und der Madonna das
Gräßlichste geschehen, wenn es nicht die besten Esel Jtaliens seien; auch
solle ich nicht einen Quattrino bezahlen, wenn ich [unleserliches Material – 3 Zeichen fehlen]nur die allergeringste
Klage haben würde. „Fünf Francs und eine Bottiglie[unleserliches Material] “, lautete es weiter.
Bottiglia — dies Zauberwort schlägt Alles nieder. Jm Nu war der
Mensch verwandelt und der demüthigste Diener der Welt. Die unglück-
lichen Grauröcke, ihre langen Ohren schüttelnd in tiefer Melancholie über
diese martervolle Welt, wurden herbeigeschleppt, und ein etwa zwölfjähriger
Schlingel mit dem hübschesten, aber auch abgefeimtesten Spitzbubengesicht,
das je unter einer neapolitanischen Fischermütze gesessen, präsentirte sich
als Führer.

Der Ritt begann, meine Frau vornweg; Tonino, der hoffnungsvolle
Sprößling der Lazzaroni, unaufhörlich schwatzend, gestikulirend, Unfug
treibend, neben ihr, ich hinterher, die Beine fast auf dem Pflaster schlep-
pend, das Reisebuch in der Tasche, den Regenschirm aufgespannt gegen die
liebenswürdige Sonne — ein prachtvoller Vorwurf für einen Maler.
Schon wollte ich mich von meiner sicheren Höhe herab der Betrachtung
aller der wunderbaren Volksscenen umher in besserer Stimmung hingeben,
als ich bemerkte, daß mein Efel, furchtbar abgetrieben, nicht nur unmäßig
gegen den andern zurückblieb, sondern auch nicht den geringsten Willen
zeigte, dem Zügel zu gehorchen, und dabei, zur Freude aller Vorübergehen-
den, die verruchte Neigung kund gab, bald das rechte, bald das linke Knie
seines Reiters an den Mauern abzuschinden. Prügel waren ihm leerer
Schall. Für den junkerlichsten Puff hatte er stets nur ein Ohrenzucken mit
der tiefsinnigen Bedeutung: „Es schmerzt nicht, mein Pätus!“ Zuletzt
blieb er ganz stehen.

( Fortsetzung folgt. )



[Ende Spaltensatz]
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[45/0005] 45 Wendenvertilgung vollbracht, und nur noch geringe Trümmer des Volkes sollten unvermischt auf die Nachwelt übergehen. Sie existiren noch; außer den Wenden der beiden Lausitzen ist die Halbinsel Mönchgut auf Rügen von reinen Nachkommen der Wenden bewohnt. Abgeschlossen von den Nachbarn, haben sie Sprache, Kleidung und zum Theil auch Verschiedenes der alten Sitten bewahrt, wie die Lausitzer. Es ist ein stilles, friedliches, sittsames, arbeitsames Völkchen, mißtrauisch und schüchtern gegen Fremde. Vielleicht erhielt sie der Schutz eines Klosters gegen Vertilgung, besonders gegen die kriegerischen Jasmunder, welche sie häufig bedrängten. Wenden- dörfer befinden sich auch an der Küste von Hinterpommern; ihre Bewohner haben sich die alte Tracht, aber nicht die Sprache erhalten; sie sind mun- tere, rührige Menschen, meistens von großem, starkem Körperbau, ohne Mißtrauen gegen Deutsche; endlich befinden sich im östlichen Winkel von Pommern, auf einer Küstenstrecke, die Kassuben mit ihrer eigenen Sprache, doch wohl schon durch polnisches Blut vermischter Herkunft. Das Volk der Kassuben wird als das erste in der Reihe der wendischen Völker in alter Zeit geschildert; ihr Land umfaßte Pommern bis zur Grabow und Persante, einen Theil der Neumark und Westpreußen. Von Polen her bekehrt, nahmen die Kassuben unter Mestwin als Herzog von Danzig noch- mals einen Aufschwung; doch auch dieser Wendenstamm unterlag dem ge- meinsamen Andringen der Dänen über See, der Einwanderung von Westen her und während der Kämpfe gegen die heidnischen Preußen und Litthauer, welche im nun begonnenen dreizehnten Jahrhundert auftreten sollten, bis auf die wenigen Ueberbleibsel auf den öden Dünenküsten der Ostsee. Jch habe diese Reste der kassubischen Wenden weniger achtungs- werth als die der pommerschen und ranischen gefunden; sie sind miß- trauisch, hinterlistig, streit= und trunksüchtig, unreinlich und arm. Dies mag wohl den Schlüssel zu der abweichenden Erscheinung von ihren Stammesgenossen geben, denn jene sind sämmtlich wohlhabend. Der Anlauf, welcher in letzterer Zeit genommen worden, für Ausbil- dung der wendischen Sprache und Hebung ihrer Literatur zu sorgen, mag berechtigt sein; aber was soll es nützen, zerstreute Trümmer eines ver- lorenen Volkes als bestimmte Nationalität mit eigener Sprache noch schärfer abzugrenzen, als schon bisher geschehen? Praktischer dürfte eine Anbahnung zur gänzlichen Verschmelzung mit dem Hauptelement des Volkes, dem sie ein- verleibt, erscheinen; nur ein Grund wäre vorhanden, Sprache und Literatur der Wenden zu fördern, nämlich der, noch verborgene Geschichtsquellen zu entdecken und nach ihnen zu forschen; denn das arme untergegangene Wendenvolk hat keine eigene Geschichte, wie der Zigeuner keine hat und einst die amerikanische Rothhaut, der Austral=Neger keine haben werden. Alles, was wir von denselben kennen, ist von parteiischen Fremden und Gegnern verzeichnet und berichtet. Darum sind diese Berichte und auch selbst die, welche von dem gräu- lichen Götzendienst des Volkes sprechen, mit großer Vorsicht aufzunehmen. Jm letztern Falle waren die Berichterstatter überdem meisters bigotte und fanatische Mönche von einseitiger Bildung und beschränkten Geistesgaben. Aber wo mögen sich Geschichtsdokumente aus der allgemeinen Zerstörung gerettet haben, wo dürften sie zu finden sein? Es wird ein hoffnungsloses Suchen sein; dasselbe Grab hat das Volk, seine Sprache, wie die genaueren Zeugnisse seines Daseins verschlungen, und an dieser gewaltigen Gruft werden wir am 15. Juni 1868 nicht stehen dürfen, ein Jubelfest zu feiern, sondern in _________________Erinnerungstrauer — einer Trauer, welche allerdings nicht dem aufgehobenen Götzendienst gelten kann, sondern dem Jahrhunderte lang dauernden grausamen Hinschlachten eines Völkerlebens, das herrliche Blü- then treiben konnte, wenn es bis in unsere Zeit hineinragte; einer Trauer über das ganze Geschlecht, welches in blindem Wahn wieder und wieder zur mörderischen Waffe greift, die Segnungen des Friedens, dem die Natur die höchsten Genüsse des Daseins bietet, zu zerstören, und zu verhindern, daß der bessere Geist in der Menschheit die Oberherrschaft erringt. Zu Esel und zu Fuß. Eine Reiseskizze. „ So ärgere Dich doch nicht weiter“, sagte sie. „J, da müßte man ja keine Galle im Leibe haben“, wetterte ich, in- dem ich mit der viel ruhigeren Dulderin, meiner Frau, an der Seite über den unter unseren Füßen glühenden Platz vor dem Theater San Carlo in Neapel dahinschritt. „Und diese wahnsinnige Hitze obendrein“, fuhr ich fort und warf dabei dem blauen Himmel Jtaliens, nach dem ich mich von Kindesbeinen an so tief gesehnt hatte, einen so grimmigen Blick zu, daß er die beste Flasche Lacrimae Christi hätte sauer machen können, „eine solche Hitze jetzt am Spätnachmittag; der Teufel mag seine gute Laune behalten in diesem verwünschten Nest!“ Wenn mir Jemand noch vor ein Paar Monaten in unserem schnee- bedeckten Deutschland gesagt hätte, daß es möglich sei, in dem „ glück- seligen “ Neapel und noch dazu eben auf einer Tour nach Camaldoli, dessen bloßer Name mich immer schon in Extase versetzt hatte, begriffen, eine so schlechte Laune zu haben, wie ich sie eben entwickelte, so würde ich ihn wahrscheinlich mit den anzüglichsten Redensarten bedient haben. „Herr“, hätte ich gesagt, „wer seinen Stimmungen nicht zu gebieten vermag, wer nicht so viel Kraft hat, die Paar Unannehmlichkeiten einer Reise zu ertra- gen, der soll seine Schlafmütze über den Ohren behalten und hinter dem Ofen hocken bleiben“ u. s. w. Aber wenn sich nach so und so viel durch- reisten Wochen die Waffen des Humors schon etwas abgestumpft haben, wenn man die ganze Nacht wegen einer Hitze von 23 Grad um Mitter- nacht, wegen des wahrhaft teuflischen Tobens, Fahrens, Blökens — denn anders kann man die nächtlichen Gesangsversuche der Jtaliener nicht nennen — auf der Santa Lucia und wegen anderer, nicht nennbarer Qualen kein Auge hat zuthun können, wenn man früh um sechs Uhr auf der Straße schon den Schatten suchen muß, den ganzen Vormittag sich in den Museen müde gelaufen hat und nun noch beim Mittagessen, mitten in einer Wolke von Millionen Fliegen, Krakehl mit dem Kellner bekömmt, weil er — noch dazu ein norddeutscher Bundesbruder, der Neapel noch überneapelt — für zwei Portionen Eierspeise mit Salat gleich1 1 / 2 Frcs. Trinkgeld auf die Rechnung gesetzt hat, so ist es wahrlich kein Wunder, wenn die Pauke, wie man zu sagen pflegt, einmal ein Loch bekömmt. Jch war so ärgerlich, daß ich nicht einmal eine elegante schwarzäugige Schöne mehr beachtete, welche so eben aus ihrer höchst noblen Equipage stieg, um, des Schreibens unkundig, einem der unter den Hallen von San Carlo sitzenden öffentlichen Schreiber ein vielleicht sehr bedenkliches Briefchen in die Feder zu diktiren — ein Anblick den ich zwar schon öfter gehabt, der aber so ein bildungsfrohes deutsches Herz doch allemal mußte aufjubeln machen. Die Toledostraße, in welche wir jetzt einbogen, war auch nicht geeignet, meine Laune zu bessern. Das Drängen, Fahren, Schreien in dieser doch so breiten Straße überstieg, obgleich nicht etwa ein außergewöhnlicher Grund die Menschheit aus den Häusern gelockt hatte, alle transmontanen Begriffe. Es war eine wahre Schanzgräberarbeit, sich auf dem Trottoir hinzuwühlen. Nicht einmal jene wirklich nicht genug anzuerkennende Galanterie, welche sonst auch der gemeinste Jtaliener den Damen zu Theil werden läßt und an der sich mancher Grobsack des intelligenten Deutschlands recht wohl ein Beispiel nehmen könnte, fand hier Spielraum genug. Und beim Schwimmen und Waten durch dieses Menschenmeer auch noch immer die Hände an Uhr und Portemonnaie haben, um sich vor den vielberühmten Künsten neapolitanischer Taschendiebe zu sichern! Jch schwur im Schweiße meines Angesichts zehnmal hinter einander, daß mich keine Macht der Welt je wieder zu Fuß durch diese Höllenstraße bringen solle; ich erklärte alle Menschen, die auf einer solchen Straße wohnen könnten, für nicht recht gescheidt, und hätte in der That nicht meine Frau sein und alle die Redensarten mit anhören mögen, die keineswegs wie Honigseim von meinen Lippen flossen. Am oberen Ende der Straße Toledo stehen Esel bereit, um faulen Wanderern die Mühe zu ersparen, sich nach dem etwa1 3 / 4 Stunden entfernten Camaldoli selber hinauf zu schleppen. Nun verdient zwar das Ehepaar, von dem ich rede, das Beiwort „faule Wanderer“ eigentlich nicht, denn auf Touren in deutschen Gebirgen begriffen, hat es stets seine acht bis neun Stunden des Tages zu Fuß zurückgelegt, hat selbst auf Schweizerreisen grundsätzlich niemals die Beine eines andern Geschöpfes mit den seinigen beschwert; aber die welsche Sonne hatte Elastizität und Ehrgefühl bereits in solchem Grade aus mir heraus gedampft, daß ich, als wir endlich die so gemüthliche Toledostraße hinter uns hatten, mich unwiderstehlich von jener langohrigen Wohlthat des Menschengeschlechts angezogen fühlte. Jch hehauptete also kurzweg, meine Frau könne nicht mehr gehen, es müsse also geritten werden, und begann sofort mit dem Esel=Jnhaber, der natürlich ein wahrhaft banditenartiges Aussehen hatte, den Kampf um den Miethspreis. 1 bis1 1 / 2 Frcs. ist der Preis eines Esels nach Camaldoli, wie Reise- bücher und Einheimische berichten. Der Spitzhut forderte aber, jedenfalls aus ganz besonderer Achtung vor uns, für zwei Esel zehn Francs. „ Troppo “, entrollte es meinen Lippen und ich bot vier Francs. Herr des Himmels, was hatte ich gethan! Ein wahres Samielgelächter war die Ant- wort, und diesem folgte eine so rasende Wortflut, daß ich mit meinem Gebote die ganze vereinigte Nation und den heiligen Januarius obendrein geschmäht zu haben glaubte. Der Bursch fuchtelte mit Händen und Beinen wie toll in der Luft herum; seinen Augen nach hätte man glauben müssen, er würde jeden Augenblick den Dolch aus der Scheide reißen. Madonna, Bachus, Jddio und alle Heiligen kugelten sich in wirrem Knäuel auf seinen Lippen, und sie alle mußten Zeuge sein, daß noch nie ein Inglese ( den Leutchen sind alle Fremde Engländer, und zwar entsetzlich reiche ) solch ein Gebot gewagt habe. Endlich legte sich der Sturm. „Deine Esel sind doch gut und noch nicht müde?“ fragte ich jetzt. Neuer, schrecklicherer Aus- bruch. Himmel und Erde sollten sich spalten und der Madonna das Gräßlichste geschehen, wenn es nicht die besten Esel Jtaliens seien; auch solle ich nicht einen Quattrino bezahlen, wenn ich ___nur die allergeringste Klage haben würde. „Fünf Francs und eine Bottiglie_ “, lautete es weiter. Bottiglia — dies Zauberwort schlägt Alles nieder. Jm Nu war der Mensch verwandelt und der demüthigste Diener der Welt. Die unglück- lichen Grauröcke, ihre langen Ohren schüttelnd in tiefer Melancholie über diese martervolle Welt, wurden herbeigeschleppt, und ein etwa zwölfjähriger Schlingel mit dem hübschesten, aber auch abgefeimtesten Spitzbubengesicht, das je unter einer neapolitanischen Fischermütze gesessen, präsentirte sich als Führer. Der Ritt begann, meine Frau vornweg; Tonino, der hoffnungsvolle Sprößling der Lazzaroni, unaufhörlich schwatzend, gestikulirend, Unfug treibend, neben ihr, ich hinterher, die Beine fast auf dem Pflaster schlep- pend, das Reisebuch in der Tasche, den Regenschirm aufgespannt gegen die liebenswürdige Sonne — ein prachtvoller Vorwurf für einen Maler. Schon wollte ich mich von meiner sicheren Höhe herab der Betrachtung aller der wunderbaren Volksscenen umher in besserer Stimmung hingeben, als ich bemerkte, daß mein Efel, furchtbar abgetrieben, nicht nur unmäßig gegen den andern zurückblieb, sondern auch nicht den geringsten Willen zeigte, dem Zügel zu gehorchen, und dabei, zur Freude aller Vorübergehen- den, die verruchte Neigung kund gab, bald das rechte, bald das linke Knie seines Reiters an den Mauern abzuschinden. Prügel waren ihm leerer Schall. Für den junkerlichsten Puff hatte er stets nur ein Ohrenzucken mit der tiefsinnigen Bedeutung: „Es schmerzt nicht, mein Pätus!“ Zuletzt blieb er ganz stehen. ( Fortsetzung folgt. )

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Zitationshilfe: Sonntags-Blatt. Nr. 6. Berlin, 9. Februar 1868, S. 45. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_sonntagsblatt06_1868/5>, abgerufen am 01.06.2024.