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Sonntags-Blatt. Nr. 8. Berlin, 23. Februar 1868.

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[Beginn Spaltensatz]

Er nickte mit dem Kopf.

"Aber sie kommt noch nicht", sagte er rasch; "es ist nur, weil
wir vorhin eine andere Stelle passirt haben."

Ein lauter Schrei ertönte in dem Augenblick über ihren Köpfen,
daß sie zugleich in die Höhe sahen. Etwa vierzig Fuß über ihnen
jagte eine riesige Mantelmöwe mit schwerfälligem Flügelschlag durch
die Luft und antwortete kreischend auf das Geschrei ihrer Ge-
fährtinnen, die vereinzelt hier und da näher und ferner heraufkamen.

"Was war das für ein Vogel, Paul?" fragte Posthuma, einen
Moment innehaltend.

Sie hatte nicht bemerkt, daß in dem Gesicht ihres Begleiters seit
wenigen Sekunden eine Veränderung vorgegangen. Das Kecke und
Zuversichtliche war daraus entschwunden und hatte einem unruhig ge-
spannten Ausdruck, der dem frischen Knabenantlitz einen sonderbar
ernsten Zug lieh, Platz gemacht. Man sah es den Augen an, die
forschend gegen die Sonne aufgerichtet waren, daß seine Aufmerksam-
keit sich nicht in ihnen konzentrirte. Er hatte eine Sekunde den Kopf
leicht vorgeneigt, dann ergriff er Posthuma's Hand.

"Laß uns ein wenig schneller gehen, Paula", sagte er, "es ist doch
wohl Zeit."

Sie schritten eine Weile, ohne zu sprechen, vorwärts; es war
Alles still um sie her, nur die Luft über ihnen belebte sich mehr und
mehr. Möwen und Seeschwalben tummelten durcheinander, auch der
Kiebitz kam und überstürzte sich mit melancholischem Ruf in der Luft.
Er schoß neugierig bis dicht an den gelben Strohhut des Mädchens
herunter, das nun wieder einen Augenblick innehielt. Sie hatte die
eine Hand auf die Brust gelegt und athmete schnell.

"Jch komme ganz außer Athem, Paul", sagte sie lächelnd.

Er blickte sie, ebenfalls stillstehend, freundlich an, aber er lächelte
nicht mit; sein Gesicht blieb ernst wie zuvor. Ein feines brausendes
Geräusch kam aus der Ferne hinter ihnen herüber; zugleich schien der
Boden um sie her lebendig zu werden. Kleines Gevögel, aber auf
hohen Stelzenbeinen, hüpfte in dichten Schaaren schattengeschwind an
ihnen vorüber. Sie liefen behend über den Sand, doch es sah aus,
als flögen sie, so schnell bewegte die graue Masse sich vorwärts. Nur
wenn sie eine Wendung machten, blitzte hastig ihre weiße Brust im
Sonnenschein.

Paul trieb jetzt seine Gefährtin zur Eile. Er hatte sich flüchtig
umgewendet und eine dünne Linie bemerkt, die gleichmäßig vom Ho-
rizont über den Sand herauf kam. Sie schien noch weit entfernt,
aber sie mußte sich noch schneller vorwärts bewegen als die Strand-
läufer. Es war, als machte sie Sprünge, so eilig verringerte sich der
Abstand zwischen ihr und den ab und zu rückwärts gekehrten Augen
des Knaben.

"Weßhalb laufen wir so, Paul? Wir haben ja kaum eine Viertel-
stunde mehr bis nach Haus, und mein Herz klopft so sehr", sagte
Posthuma, wieder anhaltend.

Paul erwiderte nichts, doch sie wandte sich erschreckt um, als ob
sie eine beunruhigende Antwort erhalten. Es lief mit ihren Worten
zugleich unsichtbar bis unter ihren Füßen durch und flog wie ein
Wolkenschatten weiter über den Sand fort. Doch sie hatte es kaum
gesehn, als schon ein zweiter folgte, der den ersten überholte. Dann
fühlte sie, daß es Wasser sei, das bereits ihre Knöchel überspülte.

"Paul!" rief sie ängstlich.

Er hatte sie fest an der Hand gefaßt und zog sie mit sich fort.
Sie liefen so schnell, als die Kleider des Mädchens es möglich mach-
ten, und der Abstand zwischen ihnen und der Jnsel verringerte sich
mehr und mehr. Doch die Flut lief schneller und hatte den Jnselrand
erreicht, als die Kinder sich noch auf Schußweite von ihm befanden.
Welle auf Welle kam und traf die Beiden, jedesmal um eine Linie
höher; doch sie kam von hinten, so daß sie die Vorwärtseilenden eher
beförderte, als hinderte. Aber dafür verlangsamte das Wasser, das
schon über die Füße stieg, ihren Lauf; sie hatten keinen festen Boden
mehr und mußten sich sprungweise bewegen.

"Wir kommen doch hin!" rief Paul jubelnd; doch fast in dem-
selben Moment stieß er einen Schrei aus, der wenig zu den ersten
Worten paßte.

"Ja, Du, Paul -- ich kann nicht mehr", hatte das Mädchen
leise und gefaßt erwidert.

Sie mochten noch zweihundert Schritt vom Ufer sein, aber das
Wasser stand ihnen bis an die Knie und setzte den Kleidern des
Mädchens bei jeder Vorwärtsbewegung gewaltsamen Widerstand ent-
gegen. Paul hatte nicht daran gedacht, daß sie weit mühsamer lief
als er. Sie hatte alle ihre Kraft zusammengenommen, doch jetzt war
sie erschöpft und konnte nicht weiter. Jhr Herz klopfte zum Zersprin-
gen, sie rang nach Athem.

"Laß mich, Paul", stieß sie mühsam hervor, "Du kommst
noch hin."

Er entgegnete nichts, sondern schlang fest seinen Arm um ihren
Leib und riß sie einige Schritte mit sich vorwärts. Doch dazu reichte
auch seine Kraft nicht aus; er ergriff sie mit der andern Hand
[Spaltenumbruch] ebenfalls, hob sie empor und trug sie. Er hätte sie vielleicht auf
dem festen Land kaum so zu halten vermocht, aber die Verzweiflung
gab ihm Stärke, und er setzte keuchend seinen Weg fort. Nur wurde der
Gewinn seiner Anstrengung mit jedem Schritte geringer. Das
Wasser hatte fast seine Hüften erreicht, und im Rücken trafen die
Wellen ihn immer stärker mit immer gewaltsameren Stößen, so daß er
nur stolpernd vorwärts kam. Ueber den Kindern sammelten sich die
Möwen und Sturmvögel mit wildem, beutegierigem Gekreisch, und
die kühnsten schossen mit geöffneten Schnäbeln frech auf sie herunter
und standen flügelschlagend dicht über ihren Köpfen erwartungsvoll in
der Luft.

Um die Hälfte hatte Paul auch die letzte Entfernung verkleinert,
es mochten kaum mehr hundert Schritte bis zur Jnsel sein; doch jetzt
konnte auch er nicht mehr. Das Wasser war über seine Brust ge-
stiegen und hob ihn so, daß der Boden unter seinen Füßen wich.

"Laß mich einen Augenblick frei, Paula!" rief er dem Mädchen
zu, das instinktmäßig ihre Arme fest um seinen Nacken geklammert
hielt. Sie gehorchte, ohne zu zaudern, und glitt lautlos ins Wasser
nieder. Doch ehe sie untergesunken, hatte er sich auf den Rücken ge-
worfen und hielt schon wieder ihren Leib umfaßt. Er war ein ge-
wandter Schwimmer, doch er mußte sie mit beiden Händen empor-
halten und konnte sich nur mit den Beinen, an denen er schwere
Stiefel trug, vorwärts treiben. Auch in seine dichten Kleider hatte
sich das Wasser gesogen, und die hastig nachdrängenden Wellen über-
fluteten sein Gesicht und drohten ihn zu ersticken. Er fühlte seine zu
lange schon übermäßig angestrengte Kraft erlahmen, seine Füße wurden
starr und ihre Mattigkeit stieg über die Knie empor. Jmmer schwächer
und langsamer wurden die Bewegungen, mit denen er mühsam den
schon halb gesunkenen Körper nochmals wieder an die Oberfläche
empor brachte, nur seine Hände blieben wie zusammengeschmiedet um
den Leib des Mädchens festgeklammert. Endlich vermochte er die
Beine nicht mehr zu regen. Er wußte, daß er dicht am Ufer sein
mußte; doch wie Blei lag es überall auf ihm, und wenn er nur fünf
Fuß vom Strande entfernt gewesen, er hätte nicht die Anstrengung
machen können, sie zu überwinden. Er zog noch einmal den Kopf
etwas nach vorn und legte ihn an die eiskalte Wange des Mädchens,
das er krampfhaft an die Brust festgeschlossen hielt -- dann sank
seine Stirn lautlos unter und langsam stieg das Wasser auch über
die Lippen und Wangen des Mädchens.



Posthuma schauerte wieder im Traum zusammen und bewegte sich
unruhig hin und her. Sie hatte die Hände über ihrem Kopf in
einander verschlungen, als müsse sie sich mit ihnen halten, und die
Decke lag von ihren Schultern herabgestreift. Drunten im Park
schlug die Drossel längst nicht mehr; es war schon helles goldrothes
Frühlicht, und sie saß noch, den gelben Schnabel unter das schwarze
Gefieder gesteckt, und schlief. Nur ab und zu rüttelte sie sich in der
kühlen Morgenluft, als höre auch sie im Traum. Doch plötzlich fuhr
der Schnabel blitzschnell hervor, und die klugen Augen spähten achtsam
umher. Ein leiser Schritt kam vom Deich herauf, auf den Baum
zu, in dessen blühendem Gezweig sie ihre Nachtruhe hielt. Es war
ein vorsichtiger, fast zaudernder Tritt, der oftmals anhielt und ver-
stummte. Das mochte der Amsel verdächtig und auf sie beabsich-
tigt erscheinen; rasch entschlossen schwang sie sich aus dem niedern
Geäst in die Höh und hinauf in die Spitze ihres alten, geliebten
Birnbaums. Dort wiegte sie sich, unerreichbar, auf dem höchsten
schlanken Wipfel und sang, den letzten Traumesrest abschüttelnd, vom
ersten Sonnenstrahl vergoldet fröhlich ihr Morgenlied.

Auch Posthuma hatte die Kälte halb erweckt. Sie blickte einen
Moment mit geöffneten Augen um sich und empfand im Halbschlaf
freudig, daß sie von den Wassern, die kalt über sie hinschauerten, nur
geträumt. Mechanisch zog sie die Decke wieder über ihre Brust her-
auf -- dann war die Flut verschwunden, und sie fühlte sich wieder
warm und behaglich. Sie lag auf einer Bank in einer ihr wohl-
bekannten kleinen, niedrigen Stube mit allerhand Seemannsemblemen
an der Wand. Jn der Mitte hing eine stattliche, zierlich aus Holz
gearbeitete Brigg mit vollem Takelwerk von der Decke herunter.
Kleinere Fahrzeuge, ebenso hübsch gemacht, standen auf der braunen
Nußholz=Kommode zwischen Staatstassen und altmodischen Kannen
mit goldenen Rändern und zu irgend einem festlichen Ereigniß glück-
wünschenden Aufschriften.

( Fortsetzung folgt. )



[Ende Spaltensatz]
[Beginn Spaltensatz]

Er nickte mit dem Kopf.

„Aber sie kommt noch nicht“, sagte er rasch; „es ist nur, weil
wir vorhin eine andere Stelle passirt haben.“

Ein lauter Schrei ertönte in dem Augenblick über ihren Köpfen,
daß sie zugleich in die Höhe sahen. Etwa vierzig Fuß über ihnen
jagte eine riesige Mantelmöwe mit schwerfälligem Flügelschlag durch
die Luft und antwortete kreischend auf das Geschrei ihrer Ge-
fährtinnen, die vereinzelt hier und da näher und ferner heraufkamen.

„Was war das für ein Vogel, Paul?“ fragte Posthuma, einen
Moment innehaltend.

Sie hatte nicht bemerkt, daß in dem Gesicht ihres Begleiters seit
wenigen Sekunden eine Veränderung vorgegangen. Das Kecke und
Zuversichtliche war daraus entschwunden und hatte einem unruhig ge-
spannten Ausdruck, der dem frischen Knabenantlitz einen sonderbar
ernsten Zug lieh, Platz gemacht. Man sah es den Augen an, die
forschend gegen die Sonne aufgerichtet waren, daß seine Aufmerksam-
keit sich nicht in ihnen konzentrirte. Er hatte eine Sekunde den Kopf
leicht vorgeneigt, dann ergriff er Posthuma's Hand.

„Laß uns ein wenig schneller gehen, Paula“, sagte er, „es ist doch
wohl Zeit.“

Sie schritten eine Weile, ohne zu sprechen, vorwärts; es war
Alles still um sie her, nur die Luft über ihnen belebte sich mehr und
mehr. Möwen und Seeschwalben tummelten durcheinander, auch der
Kiebitz kam und überstürzte sich mit melancholischem Ruf in der Luft.
Er schoß neugierig bis dicht an den gelben Strohhut des Mädchens
herunter, das nun wieder einen Augenblick innehielt. Sie hatte die
eine Hand auf die Brust gelegt und athmete schnell.

„Jch komme ganz außer Athem, Paul“, sagte sie lächelnd.

Er blickte sie, ebenfalls stillstehend, freundlich an, aber er lächelte
nicht mit; sein Gesicht blieb ernst wie zuvor. Ein feines brausendes
Geräusch kam aus der Ferne hinter ihnen herüber; zugleich schien der
Boden um sie her lebendig zu werden. Kleines Gevögel, aber auf
hohen Stelzenbeinen, hüpfte in dichten Schaaren schattengeschwind an
ihnen vorüber. Sie liefen behend über den Sand, doch es sah aus,
als flögen sie, so schnell bewegte die graue Masse sich vorwärts. Nur
wenn sie eine Wendung machten, blitzte hastig ihre weiße Brust im
Sonnenschein.

Paul trieb jetzt seine Gefährtin zur Eile. Er hatte sich flüchtig
umgewendet und eine dünne Linie bemerkt, die gleichmäßig vom Ho-
rizont über den Sand herauf kam. Sie schien noch weit entfernt,
aber sie mußte sich noch schneller vorwärts bewegen als die Strand-
läufer. Es war, als machte sie Sprünge, so eilig verringerte sich der
Abstand zwischen ihr und den ab und zu rückwärts gekehrten Augen
des Knaben.

„Weßhalb laufen wir so, Paul? Wir haben ja kaum eine Viertel-
stunde mehr bis nach Haus, und mein Herz klopft so sehr“, sagte
Posthuma, wieder anhaltend.

Paul erwiderte nichts, doch sie wandte sich erschreckt um, als ob
sie eine beunruhigende Antwort erhalten. Es lief mit ihren Worten
zugleich unsichtbar bis unter ihren Füßen durch und flog wie ein
Wolkenschatten weiter über den Sand fort. Doch sie hatte es kaum
gesehn, als schon ein zweiter folgte, der den ersten überholte. Dann
fühlte sie, daß es Wasser sei, das bereits ihre Knöchel überspülte.

„Paul!“ rief sie ängstlich.

Er hatte sie fest an der Hand gefaßt und zog sie mit sich fort.
Sie liefen so schnell, als die Kleider des Mädchens es möglich mach-
ten, und der Abstand zwischen ihnen und der Jnsel verringerte sich
mehr und mehr. Doch die Flut lief schneller und hatte den Jnselrand
erreicht, als die Kinder sich noch auf Schußweite von ihm befanden.
Welle auf Welle kam und traf die Beiden, jedesmal um eine Linie
höher; doch sie kam von hinten, so daß sie die Vorwärtseilenden eher
beförderte, als hinderte. Aber dafür verlangsamte das Wasser, das
schon über die Füße stieg, ihren Lauf; sie hatten keinen festen Boden
mehr und mußten sich sprungweise bewegen.

„Wir kommen doch hin!“ rief Paul jubelnd; doch fast in dem-
selben Moment stieß er einen Schrei aus, der wenig zu den ersten
Worten paßte.

„Ja, Du, Paul — ich kann nicht mehr“, hatte das Mädchen
leise und gefaßt erwidert.

Sie mochten noch zweihundert Schritt vom Ufer sein, aber das
Wasser stand ihnen bis an die Knie und setzte den Kleidern des
Mädchens bei jeder Vorwärtsbewegung gewaltsamen Widerstand ent-
gegen. Paul hatte nicht daran gedacht, daß sie weit mühsamer lief
als er. Sie hatte alle ihre Kraft zusammengenommen, doch jetzt war
sie erschöpft und konnte nicht weiter. Jhr Herz klopfte zum Zersprin-
gen, sie rang nach Athem.

„Laß mich, Paul“, stieß sie mühsam hervor, „Du kommst
noch hin.“

Er entgegnete nichts, sondern schlang fest seinen Arm um ihren
Leib und riß sie einige Schritte mit sich vorwärts. Doch dazu reichte
auch seine Kraft nicht aus; er ergriff sie mit der andern Hand
[Spaltenumbruch] ebenfalls, hob sie empor und trug sie. Er hätte sie vielleicht auf
dem festen Land kaum so zu halten vermocht, aber die Verzweiflung
gab ihm Stärke, und er setzte keuchend seinen Weg fort. Nur wurde der
Gewinn seiner Anstrengung mit jedem Schritte geringer. Das
Wasser hatte fast seine Hüften erreicht, und im Rücken trafen die
Wellen ihn immer stärker mit immer gewaltsameren Stößen, so daß er
nur stolpernd vorwärts kam. Ueber den Kindern sammelten sich die
Möwen und Sturmvögel mit wildem, beutegierigem Gekreisch, und
die kühnsten schossen mit geöffneten Schnäbeln frech auf sie herunter
und standen flügelschlagend dicht über ihren Köpfen erwartungsvoll in
der Luft.

Um die Hälfte hatte Paul auch die letzte Entfernung verkleinert,
es mochten kaum mehr hundert Schritte bis zur Jnsel sein; doch jetzt
konnte auch er nicht mehr. Das Wasser war über seine Brust ge-
stiegen und hob ihn so, daß der Boden unter seinen Füßen wich.

„Laß mich einen Augenblick frei, Paula!“ rief er dem Mädchen
zu, das instinktmäßig ihre Arme fest um seinen Nacken geklammert
hielt. Sie gehorchte, ohne zu zaudern, und glitt lautlos ins Wasser
nieder. Doch ehe sie untergesunken, hatte er sich auf den Rücken ge-
worfen und hielt schon wieder ihren Leib umfaßt. Er war ein ge-
wandter Schwimmer, doch er mußte sie mit beiden Händen empor-
halten und konnte sich nur mit den Beinen, an denen er schwere
Stiefel trug, vorwärts treiben. Auch in seine dichten Kleider hatte
sich das Wasser gesogen, und die hastig nachdrängenden Wellen über-
fluteten sein Gesicht und drohten ihn zu ersticken. Er fühlte seine zu
lange schon übermäßig angestrengte Kraft erlahmen, seine Füße wurden
starr und ihre Mattigkeit stieg über die Knie empor. Jmmer schwächer
und langsamer wurden die Bewegungen, mit denen er mühsam den
schon halb gesunkenen Körper nochmals wieder an die Oberfläche
empor brachte, nur seine Hände blieben wie zusammengeschmiedet um
den Leib des Mädchens festgeklammert. Endlich vermochte er die
Beine nicht mehr zu regen. Er wußte, daß er dicht am Ufer sein
mußte; doch wie Blei lag es überall auf ihm, und wenn er nur fünf
Fuß vom Strande entfernt gewesen, er hätte nicht die Anstrengung
machen können, sie zu überwinden. Er zog noch einmal den Kopf
etwas nach vorn und legte ihn an die eiskalte Wange des Mädchens,
das er krampfhaft an die Brust festgeschlossen hielt — dann sank
seine Stirn lautlos unter und langsam stieg das Wasser auch über
die Lippen und Wangen des Mädchens.



Posthuma schauerte wieder im Traum zusammen und bewegte sich
unruhig hin und her. Sie hatte die Hände über ihrem Kopf in
einander verschlungen, als müsse sie sich mit ihnen halten, und die
Decke lag von ihren Schultern herabgestreift. Drunten im Park
schlug die Drossel längst nicht mehr; es war schon helles goldrothes
Frühlicht, und sie saß noch, den gelben Schnabel unter das schwarze
Gefieder gesteckt, und schlief. Nur ab und zu rüttelte sie sich in der
kühlen Morgenluft, als höre auch sie im Traum. Doch plötzlich fuhr
der Schnabel blitzschnell hervor, und die klugen Augen spähten achtsam
umher. Ein leiser Schritt kam vom Deich herauf, auf den Baum
zu, in dessen blühendem Gezweig sie ihre Nachtruhe hielt. Es war
ein vorsichtiger, fast zaudernder Tritt, der oftmals anhielt und ver-
stummte. Das mochte der Amsel verdächtig und auf sie beabsich-
tigt erscheinen; rasch entschlossen schwang sie sich aus dem niedern
Geäst in die Höh und hinauf in die Spitze ihres alten, geliebten
Birnbaums. Dort wiegte sie sich, unerreichbar, auf dem höchsten
schlanken Wipfel und sang, den letzten Traumesrest abschüttelnd, vom
ersten Sonnenstrahl vergoldet fröhlich ihr Morgenlied.

Auch Posthuma hatte die Kälte halb erweckt. Sie blickte einen
Moment mit geöffneten Augen um sich und empfand im Halbschlaf
freudig, daß sie von den Wassern, die kalt über sie hinschauerten, nur
geträumt. Mechanisch zog sie die Decke wieder über ihre Brust her-
auf — dann war die Flut verschwunden, und sie fühlte sich wieder
warm und behaglich. Sie lag auf einer Bank in einer ihr wohl-
bekannten kleinen, niedrigen Stube mit allerhand Seemannsemblemen
an der Wand. Jn der Mitte hing eine stattliche, zierlich aus Holz
gearbeitete Brigg mit vollem Takelwerk von der Decke herunter.
Kleinere Fahrzeuge, ebenso hübsch gemacht, standen auf der braunen
Nußholz=Kommode zwischen Staatstassen und altmodischen Kannen
mit goldenen Rändern und zu irgend einem festlichen Ereigniß glück-
wünschenden Aufschriften.

( Fortsetzung folgt. )



[Ende Spaltensatz]
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[59/0003] 59 Er nickte mit dem Kopf. „Aber sie kommt noch nicht“, sagte er rasch; „es ist nur, weil wir vorhin eine andere Stelle passirt haben.“ Ein lauter Schrei ertönte in dem Augenblick über ihren Köpfen, daß sie zugleich in die Höhe sahen. Etwa vierzig Fuß über ihnen jagte eine riesige Mantelmöwe mit schwerfälligem Flügelschlag durch die Luft und antwortete kreischend auf das Geschrei ihrer Ge- fährtinnen, die vereinzelt hier und da näher und ferner heraufkamen. „Was war das für ein Vogel, Paul?“ fragte Posthuma, einen Moment innehaltend. Sie hatte nicht bemerkt, daß in dem Gesicht ihres Begleiters seit wenigen Sekunden eine Veränderung vorgegangen. Das Kecke und Zuversichtliche war daraus entschwunden und hatte einem unruhig ge- spannten Ausdruck, der dem frischen Knabenantlitz einen sonderbar ernsten Zug lieh, Platz gemacht. Man sah es den Augen an, die forschend gegen die Sonne aufgerichtet waren, daß seine Aufmerksam- keit sich nicht in ihnen konzentrirte. Er hatte eine Sekunde den Kopf leicht vorgeneigt, dann ergriff er Posthuma's Hand. „Laß uns ein wenig schneller gehen, Paula“, sagte er, „es ist doch wohl Zeit.“ Sie schritten eine Weile, ohne zu sprechen, vorwärts; es war Alles still um sie her, nur die Luft über ihnen belebte sich mehr und mehr. Möwen und Seeschwalben tummelten durcheinander, auch der Kiebitz kam und überstürzte sich mit melancholischem Ruf in der Luft. Er schoß neugierig bis dicht an den gelben Strohhut des Mädchens herunter, das nun wieder einen Augenblick innehielt. Sie hatte die eine Hand auf die Brust gelegt und athmete schnell. „Jch komme ganz außer Athem, Paul“, sagte sie lächelnd. Er blickte sie, ebenfalls stillstehend, freundlich an, aber er lächelte nicht mit; sein Gesicht blieb ernst wie zuvor. Ein feines brausendes Geräusch kam aus der Ferne hinter ihnen herüber; zugleich schien der Boden um sie her lebendig zu werden. Kleines Gevögel, aber auf hohen Stelzenbeinen, hüpfte in dichten Schaaren schattengeschwind an ihnen vorüber. Sie liefen behend über den Sand, doch es sah aus, als flögen sie, so schnell bewegte die graue Masse sich vorwärts. Nur wenn sie eine Wendung machten, blitzte hastig ihre weiße Brust im Sonnenschein. Paul trieb jetzt seine Gefährtin zur Eile. Er hatte sich flüchtig umgewendet und eine dünne Linie bemerkt, die gleichmäßig vom Ho- rizont über den Sand herauf kam. Sie schien noch weit entfernt, aber sie mußte sich noch schneller vorwärts bewegen als die Strand- läufer. Es war, als machte sie Sprünge, so eilig verringerte sich der Abstand zwischen ihr und den ab und zu rückwärts gekehrten Augen des Knaben. „Weßhalb laufen wir so, Paul? Wir haben ja kaum eine Viertel- stunde mehr bis nach Haus, und mein Herz klopft so sehr“, sagte Posthuma, wieder anhaltend. Paul erwiderte nichts, doch sie wandte sich erschreckt um, als ob sie eine beunruhigende Antwort erhalten. Es lief mit ihren Worten zugleich unsichtbar bis unter ihren Füßen durch und flog wie ein Wolkenschatten weiter über den Sand fort. Doch sie hatte es kaum gesehn, als schon ein zweiter folgte, der den ersten überholte. Dann fühlte sie, daß es Wasser sei, das bereits ihre Knöchel überspülte. „Paul!“ rief sie ängstlich. Er hatte sie fest an der Hand gefaßt und zog sie mit sich fort. Sie liefen so schnell, als die Kleider des Mädchens es möglich mach- ten, und der Abstand zwischen ihnen und der Jnsel verringerte sich mehr und mehr. Doch die Flut lief schneller und hatte den Jnselrand erreicht, als die Kinder sich noch auf Schußweite von ihm befanden. Welle auf Welle kam und traf die Beiden, jedesmal um eine Linie höher; doch sie kam von hinten, so daß sie die Vorwärtseilenden eher beförderte, als hinderte. Aber dafür verlangsamte das Wasser, das schon über die Füße stieg, ihren Lauf; sie hatten keinen festen Boden mehr und mußten sich sprungweise bewegen. „Wir kommen doch hin!“ rief Paul jubelnd; doch fast in dem- selben Moment stieß er einen Schrei aus, der wenig zu den ersten Worten paßte. „Ja, Du, Paul — ich kann nicht mehr“, hatte das Mädchen leise und gefaßt erwidert. Sie mochten noch zweihundert Schritt vom Ufer sein, aber das Wasser stand ihnen bis an die Knie und setzte den Kleidern des Mädchens bei jeder Vorwärtsbewegung gewaltsamen Widerstand ent- gegen. Paul hatte nicht daran gedacht, daß sie weit mühsamer lief als er. Sie hatte alle ihre Kraft zusammengenommen, doch jetzt war sie erschöpft und konnte nicht weiter. Jhr Herz klopfte zum Zersprin- gen, sie rang nach Athem. „Laß mich, Paul“, stieß sie mühsam hervor, „Du kommst noch hin.“ Er entgegnete nichts, sondern schlang fest seinen Arm um ihren Leib und riß sie einige Schritte mit sich vorwärts. Doch dazu reichte auch seine Kraft nicht aus; er ergriff sie mit der andern Hand ebenfalls, hob sie empor und trug sie. Er hätte sie vielleicht auf dem festen Land kaum so zu halten vermocht, aber die Verzweiflung gab ihm Stärke, und er setzte keuchend seinen Weg fort. Nur wurde der Gewinn seiner Anstrengung mit jedem Schritte geringer. Das Wasser hatte fast seine Hüften erreicht, und im Rücken trafen die Wellen ihn immer stärker mit immer gewaltsameren Stößen, so daß er nur stolpernd vorwärts kam. Ueber den Kindern sammelten sich die Möwen und Sturmvögel mit wildem, beutegierigem Gekreisch, und die kühnsten schossen mit geöffneten Schnäbeln frech auf sie herunter und standen flügelschlagend dicht über ihren Köpfen erwartungsvoll in der Luft. Um die Hälfte hatte Paul auch die letzte Entfernung verkleinert, es mochten kaum mehr hundert Schritte bis zur Jnsel sein; doch jetzt konnte auch er nicht mehr. Das Wasser war über seine Brust ge- stiegen und hob ihn so, daß der Boden unter seinen Füßen wich. „Laß mich einen Augenblick frei, Paula!“ rief er dem Mädchen zu, das instinktmäßig ihre Arme fest um seinen Nacken geklammert hielt. Sie gehorchte, ohne zu zaudern, und glitt lautlos ins Wasser nieder. Doch ehe sie untergesunken, hatte er sich auf den Rücken ge- worfen und hielt schon wieder ihren Leib umfaßt. Er war ein ge- wandter Schwimmer, doch er mußte sie mit beiden Händen empor- halten und konnte sich nur mit den Beinen, an denen er schwere Stiefel trug, vorwärts treiben. Auch in seine dichten Kleider hatte sich das Wasser gesogen, und die hastig nachdrängenden Wellen über- fluteten sein Gesicht und drohten ihn zu ersticken. Er fühlte seine zu lange schon übermäßig angestrengte Kraft erlahmen, seine Füße wurden starr und ihre Mattigkeit stieg über die Knie empor. Jmmer schwächer und langsamer wurden die Bewegungen, mit denen er mühsam den schon halb gesunkenen Körper nochmals wieder an die Oberfläche empor brachte, nur seine Hände blieben wie zusammengeschmiedet um den Leib des Mädchens festgeklammert. Endlich vermochte er die Beine nicht mehr zu regen. Er wußte, daß er dicht am Ufer sein mußte; doch wie Blei lag es überall auf ihm, und wenn er nur fünf Fuß vom Strande entfernt gewesen, er hätte nicht die Anstrengung machen können, sie zu überwinden. Er zog noch einmal den Kopf etwas nach vorn und legte ihn an die eiskalte Wange des Mädchens, das er krampfhaft an die Brust festgeschlossen hielt — dann sank seine Stirn lautlos unter und langsam stieg das Wasser auch über die Lippen und Wangen des Mädchens. Posthuma schauerte wieder im Traum zusammen und bewegte sich unruhig hin und her. Sie hatte die Hände über ihrem Kopf in einander verschlungen, als müsse sie sich mit ihnen halten, und die Decke lag von ihren Schultern herabgestreift. Drunten im Park schlug die Drossel längst nicht mehr; es war schon helles goldrothes Frühlicht, und sie saß noch, den gelben Schnabel unter das schwarze Gefieder gesteckt, und schlief. Nur ab und zu rüttelte sie sich in der kühlen Morgenluft, als höre auch sie im Traum. Doch plötzlich fuhr der Schnabel blitzschnell hervor, und die klugen Augen spähten achtsam umher. Ein leiser Schritt kam vom Deich herauf, auf den Baum zu, in dessen blühendem Gezweig sie ihre Nachtruhe hielt. Es war ein vorsichtiger, fast zaudernder Tritt, der oftmals anhielt und ver- stummte. Das mochte der Amsel verdächtig und auf sie beabsich- tigt erscheinen; rasch entschlossen schwang sie sich aus dem niedern Geäst in die Höh und hinauf in die Spitze ihres alten, geliebten Birnbaums. Dort wiegte sie sich, unerreichbar, auf dem höchsten schlanken Wipfel und sang, den letzten Traumesrest abschüttelnd, vom ersten Sonnenstrahl vergoldet fröhlich ihr Morgenlied. Auch Posthuma hatte die Kälte halb erweckt. Sie blickte einen Moment mit geöffneten Augen um sich und empfand im Halbschlaf freudig, daß sie von den Wassern, die kalt über sie hinschauerten, nur geträumt. Mechanisch zog sie die Decke wieder über ihre Brust her- auf — dann war die Flut verschwunden, und sie fühlte sich wieder warm und behaglich. Sie lag auf einer Bank in einer ihr wohl- bekannten kleinen, niedrigen Stube mit allerhand Seemannsemblemen an der Wand. Jn der Mitte hing eine stattliche, zierlich aus Holz gearbeitete Brigg mit vollem Takelwerk von der Decke herunter. Kleinere Fahrzeuge, ebenso hübsch gemacht, standen auf der braunen Nußholz=Kommode zwischen Staatstassen und altmodischen Kannen mit goldenen Rändern und zu irgend einem festlichen Ereigniß glück- wünschenden Aufschriften. ( Fortsetzung folgt. )

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Deutsches Textarchiv: Metadatenerfassung
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Susanne Haaf, Rahel Hartz, Nicole Postelt: Nachkorrektur und Vervollständigung der TEI/DTABf-Annotation
Rahel Hartz: Artikelstrukturierung

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Zitationshilfe: Sonntags-Blatt. Nr. 8. Berlin, 23. Februar 1868, S. 59. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_sonntagsblatt08_1868/3>, abgerufen am 17.06.2024.