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Sonntags-Blatt. Nr. 9. Berlin, 1. März 1868.

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[Beginn Spaltensatz] Grases, das stellenweise als Zierpflanze die Beeteinfassung bildete.
Nun war er bis dicht unter das offene Fenster gekommen, bis zu
dem die blüthenbedeckten Pfirsichstauden sich an dem breitlattigen
Spalier fast hinaufrankten. Er lauschte einen Augenblick in der fried-
lichen Morgenstille umher. Nur die Drossel schlug unten im Birn-
baum und hin und wieder zeigte unter der Dachrinne des Schlosses
ein verschlafener Spatz, der mit schläfrigen Augen auf den frühen
Besucher niedersah. Sonst regte sich nichts. Er nahm das Bou-
quet und warf es nach dem geöffneten Fenster. Aber es war zu
leicht und fiel, ehe es dasselbe erreicht, wieder zur Erde. Er wieder-
holte den Versuch mehreremal, doch der Erfolg blieb derselbe. Endlich
änderte sich auch dieser, denn der Strauß kam gar nicht wieder zu
Boden, sondern blieb dicht unter dem Fenster in den obersten Spitzen
des Pfirsichbäumchens hängen.

Der Schleuderer war eifrig geworden und sah nun ärgerlich hin-
auf. Jn seinen Augen blitzte ein jäher Gedanke auf, dem ein Zweifel
zu folgen schien, denn er strich sich mit der Hand hastig über die
plötzlich von noch dunklerem Roth umzogene Stirn. Dann ruhten
seine Blicke träumerisch auf dem eigensinnigen [unleserliches Material - 7 Zeichen fehlen]Bouquet oder auf
der leeren Fensterwölbung.

Er hatte die Hand dabei prüfend auf die unterste Holzlatte des
Spaliers gelegt. Endlich machte er eine rasche entschlossene Be-
wegung, sich zu entfernen, aber in demselben Moment änderte er sie
ebenso schnell in einen Vorwärtssprung um und stand mit beiden
Füßen an der Stelle, wo seine Hand geruht, den Kopf rundum von
den röthlichen Pfirsichblüthen umschwärmt.

Nun kletterte er wie eine Katze geräuschlos von Latte zu Latte an
dem Spalier weiter. Er vertheilte seine Last so geschickt, daß das
dünne Holz, das hier und da knackte, nirgend unter ihm brach, und
seine Bewegungen waren so vorsichtig, daß er kaum ab und zu eine
Blüthe niederrüttelte. Nur den Sperlingen schien der Besucher jetzt
doch bedenklich zu werden, denn sie schlüpften aus ihren Versteck-
dächern unter der Dachrinne hervor und flatterten zwitschernd, als
tauschten sie ihre Muthmaßungen über das Ereigniß unter einander
aus, höher auf die Ziegel.

Bald hatte der gewandte Kletterer den Blumenstrauß erreicht. Er
streckte die Hand nach ihm aus und machte ihn aus den Pfirsich-
zweigen los. Dazu erhob er den Arm, als wolle er das Bouquet
noch jetzt in das nicht mehr zu verfehlende Fenster hineinschleudern,
doch die glänzenden Augen siegten -- leise hob er sich noch um einige
Sprossen höher empor, und statt des Straußes erschien zaghaft der
blonde Kopf in der Oeffnung und lauschte bang athmend über die
schmale Fensterbank ins Schlafgemach hinein.

Posthuma bewegte sich unruhig im Traum. Einige Sekunden
vergingen, die dem Lauscher wie Stunden erschienen. Er hatte den
Strauß ins Zimmer hineingeworfen und legte die Hand wieder auf
das Spalier, um geräuschlos hinabzusteigen.

"Paul, wo bist Du, Paul? Mein guter, lieber Paul", rief das
Mädchen in diesem Augenblick laut.

Nein, es war kein Traum, der ihn umfing. So wirklich wie das
Liebeslied der Amsel von drüben herüber jubelte, wie der blüthen-
duftige Mai um ihn webte, sagte sie deutlich mit liebevoll zu-
traulicher Stimme:

"Paul -- mein guter, lieber Paul! --"

Er wußte nicht, daß er geantwortet hatte, aber er hatte laut
"Paula, Paula", gesagt. Er hatte es ebenso unbewußt gethan, als
er, vergessend, wo er sich befand, die Hand, mit der er sich hielt, los-
gelassen und sie nach dem Mädchen, das auf den Ruf von ihrem
Kissen aufgefahren war und ihm wie einer Erscheinung ins Gesicht blickte,
ausgestreckt. Doch plötzlich fühlte er, daß er im Begriff stand, seinen
Stützpunkt zu verlieren; ein Holzstück krachte unter seinem Fuß und
rief ihn zur Besinnung. Eine Sekunde, und so vorsichtig wie er
hinauf gelangt, war er unten; nur ein Blüthenregen folgte ihm
diesmal bei dem letzten Sprunge, mit dem er sich zur Erde nieder-
schwang, und überschneite sein Haar. Dann war er hinter der Ecke des
Gebäudes verschwunden.

Das Mädchen starrte noch immer auf den leeren Fensterrahmen,
aus dem plötzlich das Bild vor ihren Augen versunken. Sie strich
sich besinnend mit der Hand über die Stirn.

"Jch habe recht närrisch geträumt", sagte sie lächelnd vor sich hin,
"und ich glaube, ich träume noch". Sie blickte eine Weile nach-
denklich in den hellen Morgen hinaus. "Eigentlich ist Alles wahr
gewesen, und mir hat nur noch einmal geträumt, was ich wirklich
erlebt", setzte sie, mit dem Kopf nickend, hinzu, "nur war's im Traum
noch viel schöner, als es wirklich gewesen."

Sie hatte unverwandt auf die Stelle geblickt, wo der blonde
Kopf, als sie sich im Bette aufgerichtet, verschwunden, doch sie be-
merkte erst jetzt, daß das Fenster geöffnet stand. Sie sprang rasch
auf, warf ein warmes Morgenkleid über und trat hinan.

"Habe ich gestern Abend vergessen zuzumachen?" murmelte sie,
"mir war auch oft so kalt heut Nacht". Sie neigte sich jetzt aus dem
[Spaltenumbruch] Fenster; vom Städtchen her schlug die Kirchthurmuhr die fünfte Mor-
genstunde, und der hintere Theil des Gartens, der nicht von dem
hohen Gebäude beschattet war, wie der Deich und fern dahinter über
der Wasserfläche die Jnseln lagen schon im hellen Sonnenlicht. Die
Amsel sang wie am Abend, da ihr Gesang dem Mädchen in den
Schlaf nachgehallt; Posthuma blickte träumerisch in die Ferne. Sie
hörte ihr Herz klopfen; es pochte so laut, als frage es Etwas, worauf
es Antwort begehre.

"Es klopft immer so, wenn man lange träumt", sagte sie laut,
als suche sie sich selbst zu beschwichtigen. Plötzlich schrak sie heftig
zusammen, denn eine Stimme kam vom Garten herauf. Sie hatte
den leisen Schritt nicht gehört, der von der Seite her tönte.

"Bist Du auch schon wach, mein Kind?" fragte die Baronin.
Jhre Stimme klang sorgenvoll, obgleich sie derselben einen leichten Ton
zu geben suchte. "Komm herunter, es ist so schön jetzt im Park."

"Ja, Mama, gleich", antwortete das Mädchen. Sie trat vom
Fenster zurück. "Wie gut, daß ich aufgestanden war", murmelte sie
für sich weiter, "sonst hätte Mama das offene Fenster bemerkt und
denken können --"

Sie unterbrach sich mit einem leisen Schrei, denn ihre Augen
fielen plötzlich auf den Blumenstrauß, den sie vorher in ihrer Hast
nicht bemerkt, und der dicht zu ihren Füßen lag. Sie hob ihn auf
und betrachtete ihn; die Kelche waren noch feucht vom Thau, und sie
fühlte, wie das Blut ihr, sie wußte nicht, warum, heiß über Wangen
und Schläfe hinauf strömte. Ohne zu denken, starrte sie regungslos
darauf hin; ihr war als träume sie noch, aber nicht von Wind und
Wellen, sondern die süßesten, sonnigsten Erinnerungen ihrer Kindheit.

"Posthuma!" rief die wartende Mutter von unten.

Sie fuhr wieder zusammen, dann schloß sie den Strauß schnell in
ein Schubfach, dessen Schlüssel sie abzog, kleidete sich eilig völlig an
und ging hinunter. Jhr Herz klopfte noch immer so rebellisch, daß
sie auf der Treppe einen Moment stillstehen und die Hand darauf
legen mußte. Jm Thor kam ihr die Baronin entgegen.

"Wo bleibst Du so lange, mein Kind?" fragte sie.

Posthuma küßte sie zur Antwort.

"Die Amsel hat mich geweckt", sagte sie, "aber ich dachte, es sei
noch kein Mensch wach außer mir."

"Ei, was sich solch' kleine Langschläferin einbildet, wenn der Zu-
fall sie einmal etwas früher aus den Federn holt", erwiderte die
Mutter, deren trübe Stirn sich bei dem Anblick des schönen Mädchens
jetzt wirklich erheiterte. "Jch bin gewöhnlich schon um diese Zeit im
Garten, und im Thorweg begegnete mir Paul schon, der also noch
ein gut Stück eher aufgestanden sein muß als wir."

Posthuma beugte sich eifrig auf ein Blumenbeet nieder; ihre
Hände waren so hastig beschäftigt, das darauf befindliche Unkraut aus-
zureißen, daß sie die Gerechten mit den Ungerechten leiden ließ und
auch die berechtigten Bewohner des Beetes mit den Wurzeln heraus-
riß. Es war unmöglich, daß mehr Blut sich in ihren Wangen sam-
meln konnte, und es flog hellroth, wie die Pfirsichblüthen neben ihr,
bis über ihren sonst so weißen Nacken herunter.

"Paul?" stotterte sie verwundert. "Was wollte der hier um
diese Zeit?"

Die Baronin war ebenfalls mit der Sorge für eine ihrer Lieb-
lingspflanzen beschäftigt.

"Er hat in der Stadt zu thun", antwortete sie, ohne auf Posthuma
zu blicken, "und hat sein Boot bei uns angelegt, weil er zu Fuß
näher geht. Er läßt Dich grüßen."

Sie sah bei den Worten nach Etwas umher.

"Sieh", fuhr sie gleichen Tones fort, "wie der Wind heut Nacht
die Pfirsichblüthen abgerüttelt hat, gerade von diesem einen Baum!
Doch es schadet nicht mehr; die Früchte haben schon angesetzt, und
wenn der Sommer gut ist, werden sie reif.

Aber Posthuma sah nicht, sondern blickte nach der Drossel hin-
über, die unermüdlich sang. Sie wiederholte nur mechanisch zwischen
den Lippen:

"Ja, wenn der Sommer gut ist --" Dann schauerte sie heftig
zusammen und fügte dumpf hinzu: "Jm Herbst."

Die Mutter wandte sich um.

"Was ist Dir, mein Kind?" fragte sie.

"Es wird vorübergehen, Mama", antwortete das Mädchen; "ich
bin sonst nie so früh aufgestanden, und nun fröstelt's mich doch in
der scharfen Morgenluft."

( Fortsetzung folgt. )



[Ende Spaltensatz]

[Beginn Spaltensatz] Grases, das stellenweise als Zierpflanze die Beeteinfassung bildete.
Nun war er bis dicht unter das offene Fenster gekommen, bis zu
dem die blüthenbedeckten Pfirsichstauden sich an dem breitlattigen
Spalier fast hinaufrankten. Er lauschte einen Augenblick in der fried-
lichen Morgenstille umher. Nur die Drossel schlug unten im Birn-
baum und hin und wieder zeigte unter der Dachrinne des Schlosses
ein verschlafener Spatz, der mit schläfrigen Augen auf den frühen
Besucher niedersah. Sonst regte sich nichts. Er nahm das Bou-
quet und warf es nach dem geöffneten Fenster. Aber es war zu
leicht und fiel, ehe es dasselbe erreicht, wieder zur Erde. Er wieder-
holte den Versuch mehreremal, doch der Erfolg blieb derselbe. Endlich
änderte sich auch dieser, denn der Strauß kam gar nicht wieder zu
Boden, sondern blieb dicht unter dem Fenster in den obersten Spitzen
des Pfirsichbäumchens hängen.

Der Schleuderer war eifrig geworden und sah nun ärgerlich hin-
auf. Jn seinen Augen blitzte ein jäher Gedanke auf, dem ein Zweifel
zu folgen schien, denn er strich sich mit der Hand hastig über die
plötzlich von noch dunklerem Roth umzogene Stirn. Dann ruhten
seine Blicke träumerisch auf dem eigensinnigen [unleserliches Material – 7 Zeichen fehlen]Bouquet oder auf
der leeren Fensterwölbung.

Er hatte die Hand dabei prüfend auf die unterste Holzlatte des
Spaliers gelegt. Endlich machte er eine rasche entschlossene Be-
wegung, sich zu entfernen, aber in demselben Moment änderte er sie
ebenso schnell in einen Vorwärtssprung um und stand mit beiden
Füßen an der Stelle, wo seine Hand geruht, den Kopf rundum von
den röthlichen Pfirsichblüthen umschwärmt.

Nun kletterte er wie eine Katze geräuschlos von Latte zu Latte an
dem Spalier weiter. Er vertheilte seine Last so geschickt, daß das
dünne Holz, das hier und da knackte, nirgend unter ihm brach, und
seine Bewegungen waren so vorsichtig, daß er kaum ab und zu eine
Blüthe niederrüttelte. Nur den Sperlingen schien der Besucher jetzt
doch bedenklich zu werden, denn sie schlüpften aus ihren Versteck-
dächern unter der Dachrinne hervor und flatterten zwitschernd, als
tauschten sie ihre Muthmaßungen über das Ereigniß unter einander
aus, höher auf die Ziegel.

Bald hatte der gewandte Kletterer den Blumenstrauß erreicht. Er
streckte die Hand nach ihm aus und machte ihn aus den Pfirsich-
zweigen los. Dazu erhob er den Arm, als wolle er das Bouquet
noch jetzt in das nicht mehr zu verfehlende Fenster hineinschleudern,
doch die glänzenden Augen siegten — leise hob er sich noch um einige
Sprossen höher empor, und statt des Straußes erschien zaghaft der
blonde Kopf in der Oeffnung und lauschte bang athmend über die
schmale Fensterbank ins Schlafgemach hinein.

Posthuma bewegte sich unruhig im Traum. Einige Sekunden
vergingen, die dem Lauscher wie Stunden erschienen. Er hatte den
Strauß ins Zimmer hineingeworfen und legte die Hand wieder auf
das Spalier, um geräuschlos hinabzusteigen.

„Paul, wo bist Du, Paul? Mein guter, lieber Paul“, rief das
Mädchen in diesem Augenblick laut.

Nein, es war kein Traum, der ihn umfing. So wirklich wie das
Liebeslied der Amsel von drüben herüber jubelte, wie der blüthen-
duftige Mai um ihn webte, sagte sie deutlich mit liebevoll zu-
traulicher Stimme:

„Paul — mein guter, lieber Paul! —“

Er wußte nicht, daß er geantwortet hatte, aber er hatte laut
„Paula, Paula“, gesagt. Er hatte es ebenso unbewußt gethan, als
er, vergessend, wo er sich befand, die Hand, mit der er sich hielt, los-
gelassen und sie nach dem Mädchen, das auf den Ruf von ihrem
Kissen aufgefahren war und ihm wie einer Erscheinung ins Gesicht blickte,
ausgestreckt. Doch plötzlich fühlte er, daß er im Begriff stand, seinen
Stützpunkt zu verlieren; ein Holzstück krachte unter seinem Fuß und
rief ihn zur Besinnung. Eine Sekunde, und so vorsichtig wie er
hinauf gelangt, war er unten; nur ein Blüthenregen folgte ihm
diesmal bei dem letzten Sprunge, mit dem er sich zur Erde nieder-
schwang, und überschneite sein Haar. Dann war er hinter der Ecke des
Gebäudes verschwunden.

Das Mädchen starrte noch immer auf den leeren Fensterrahmen,
aus dem plötzlich das Bild vor ihren Augen versunken. Sie strich
sich besinnend mit der Hand über die Stirn.

„Jch habe recht närrisch geträumt“, sagte sie lächelnd vor sich hin,
„und ich glaube, ich träume noch“. Sie blickte eine Weile nach-
denklich in den hellen Morgen hinaus. „Eigentlich ist Alles wahr
gewesen, und mir hat nur noch einmal geträumt, was ich wirklich
erlebt“, setzte sie, mit dem Kopf nickend, hinzu, „nur war's im Traum
noch viel schöner, als es wirklich gewesen.“

Sie hatte unverwandt auf die Stelle geblickt, wo der blonde
Kopf, als sie sich im Bette aufgerichtet, verschwunden, doch sie be-
merkte erst jetzt, daß das Fenster geöffnet stand. Sie sprang rasch
auf, warf ein warmes Morgenkleid über und trat hinan.

„Habe ich gestern Abend vergessen zuzumachen?“ murmelte sie,
„mir war auch oft so kalt heut Nacht“. Sie neigte sich jetzt aus dem
[Spaltenumbruch] Fenster; vom Städtchen her schlug die Kirchthurmuhr die fünfte Mor-
genstunde, und der hintere Theil des Gartens, der nicht von dem
hohen Gebäude beschattet war, wie der Deich und fern dahinter über
der Wasserfläche die Jnseln lagen schon im hellen Sonnenlicht. Die
Amsel sang wie am Abend, da ihr Gesang dem Mädchen in den
Schlaf nachgehallt; Posthuma blickte träumerisch in die Ferne. Sie
hörte ihr Herz klopfen; es pochte so laut, als frage es Etwas, worauf
es Antwort begehre.

„Es klopft immer so, wenn man lange träumt“, sagte sie laut,
als suche sie sich selbst zu beschwichtigen. Plötzlich schrak sie heftig
zusammen, denn eine Stimme kam vom Garten herauf. Sie hatte
den leisen Schritt nicht gehört, der von der Seite her tönte.

„Bist Du auch schon wach, mein Kind?“ fragte die Baronin.
Jhre Stimme klang sorgenvoll, obgleich sie derselben einen leichten Ton
zu geben suchte. „Komm herunter, es ist so schön jetzt im Park.“

„Ja, Mama, gleich“, antwortete das Mädchen. Sie trat vom
Fenster zurück. „Wie gut, daß ich aufgestanden war“, murmelte sie
für sich weiter, „sonst hätte Mama das offene Fenster bemerkt und
denken können —“

Sie unterbrach sich mit einem leisen Schrei, denn ihre Augen
fielen plötzlich auf den Blumenstrauß, den sie vorher in ihrer Hast
nicht bemerkt, und der dicht zu ihren Füßen lag. Sie hob ihn auf
und betrachtete ihn; die Kelche waren noch feucht vom Thau, und sie
fühlte, wie das Blut ihr, sie wußte nicht, warum, heiß über Wangen
und Schläfe hinauf strömte. Ohne zu denken, starrte sie regungslos
darauf hin; ihr war als träume sie noch, aber nicht von Wind und
Wellen, sondern die süßesten, sonnigsten Erinnerungen ihrer Kindheit.

„Posthuma!“ rief die wartende Mutter von unten.

Sie fuhr wieder zusammen, dann schloß sie den Strauß schnell in
ein Schubfach, dessen Schlüssel sie abzog, kleidete sich eilig völlig an
und ging hinunter. Jhr Herz klopfte noch immer so rebellisch, daß
sie auf der Treppe einen Moment stillstehen und die Hand darauf
legen mußte. Jm Thor kam ihr die Baronin entgegen.

„Wo bleibst Du so lange, mein Kind?“ fragte sie.

Posthuma küßte sie zur Antwort.

„Die Amsel hat mich geweckt“, sagte sie, „aber ich dachte, es sei
noch kein Mensch wach außer mir.“

„Ei, was sich solch' kleine Langschläferin einbildet, wenn der Zu-
fall sie einmal etwas früher aus den Federn holt“, erwiderte die
Mutter, deren trübe Stirn sich bei dem Anblick des schönen Mädchens
jetzt wirklich erheiterte. „Jch bin gewöhnlich schon um diese Zeit im
Garten, und im Thorweg begegnete mir Paul schon, der also noch
ein gut Stück eher aufgestanden sein muß als wir.“

Posthuma beugte sich eifrig auf ein Blumenbeet nieder; ihre
Hände waren so hastig beschäftigt, das darauf befindliche Unkraut aus-
zureißen, daß sie die Gerechten mit den Ungerechten leiden ließ und
auch die berechtigten Bewohner des Beetes mit den Wurzeln heraus-
riß. Es war unmöglich, daß mehr Blut sich in ihren Wangen sam-
meln konnte, und es flog hellroth, wie die Pfirsichblüthen neben ihr,
bis über ihren sonst so weißen Nacken herunter.

„Paul?“ stotterte sie verwundert. „Was wollte der hier um
diese Zeit?“

Die Baronin war ebenfalls mit der Sorge für eine ihrer Lieb-
lingspflanzen beschäftigt.

„Er hat in der Stadt zu thun“, antwortete sie, ohne auf Posthuma
zu blicken, „und hat sein Boot bei uns angelegt, weil er zu Fuß
näher geht. Er läßt Dich grüßen.“

Sie sah bei den Worten nach Etwas umher.

„Sieh“, fuhr sie gleichen Tones fort, „wie der Wind heut Nacht
die Pfirsichblüthen abgerüttelt hat, gerade von diesem einen Baum!
Doch es schadet nicht mehr; die Früchte haben schon angesetzt, und
wenn der Sommer gut ist, werden sie reif.

Aber Posthuma sah nicht, sondern blickte nach der Drossel hin-
über, die unermüdlich sang. Sie wiederholte nur mechanisch zwischen
den Lippen:

„Ja, wenn der Sommer gut ist —“ Dann schauerte sie heftig
zusammen und fügte dumpf hinzu: „Jm Herbst.“

Die Mutter wandte sich um.

„Was ist Dir, mein Kind?“ fragte sie.

„Es wird vorübergehen, Mama“, antwortete das Mädchen; „ich
bin sonst nie so früh aufgestanden, und nun fröstelt's mich doch in
der scharfen Morgenluft.“

( Fortsetzung folgt. )



[Ende Spaltensatz]
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[67/0003] 67 Grases, das stellenweise als Zierpflanze die Beeteinfassung bildete. Nun war er bis dicht unter das offene Fenster gekommen, bis zu dem die blüthenbedeckten Pfirsichstauden sich an dem breitlattigen Spalier fast hinaufrankten. Er lauschte einen Augenblick in der fried- lichen Morgenstille umher. Nur die Drossel schlug unten im Birn- baum und hin und wieder zeigte unter der Dachrinne des Schlosses ein verschlafener Spatz, der mit schläfrigen Augen auf den frühen Besucher niedersah. Sonst regte sich nichts. Er nahm das Bou- quet und warf es nach dem geöffneten Fenster. Aber es war zu leicht und fiel, ehe es dasselbe erreicht, wieder zur Erde. Er wieder- holte den Versuch mehreremal, doch der Erfolg blieb derselbe. Endlich änderte sich auch dieser, denn der Strauß kam gar nicht wieder zu Boden, sondern blieb dicht unter dem Fenster in den obersten Spitzen des Pfirsichbäumchens hängen. Der Schleuderer war eifrig geworden und sah nun ärgerlich hin- auf. Jn seinen Augen blitzte ein jäher Gedanke auf, dem ein Zweifel zu folgen schien, denn er strich sich mit der Hand hastig über die plötzlich von noch dunklerem Roth umzogene Stirn. Dann ruhten seine Blicke träumerisch auf dem eigensinnigen _______Bouquet oder auf der leeren Fensterwölbung. Er hatte die Hand dabei prüfend auf die unterste Holzlatte des Spaliers gelegt. Endlich machte er eine rasche entschlossene Be- wegung, sich zu entfernen, aber in demselben Moment änderte er sie ebenso schnell in einen Vorwärtssprung um und stand mit beiden Füßen an der Stelle, wo seine Hand geruht, den Kopf rundum von den röthlichen Pfirsichblüthen umschwärmt. Nun kletterte er wie eine Katze geräuschlos von Latte zu Latte an dem Spalier weiter. Er vertheilte seine Last so geschickt, daß das dünne Holz, das hier und da knackte, nirgend unter ihm brach, und seine Bewegungen waren so vorsichtig, daß er kaum ab und zu eine Blüthe niederrüttelte. Nur den Sperlingen schien der Besucher jetzt doch bedenklich zu werden, denn sie schlüpften aus ihren Versteck- dächern unter der Dachrinne hervor und flatterten zwitschernd, als tauschten sie ihre Muthmaßungen über das Ereigniß unter einander aus, höher auf die Ziegel. Bald hatte der gewandte Kletterer den Blumenstrauß erreicht. Er streckte die Hand nach ihm aus und machte ihn aus den Pfirsich- zweigen los. Dazu erhob er den Arm, als wolle er das Bouquet noch jetzt in das nicht mehr zu verfehlende Fenster hineinschleudern, doch die glänzenden Augen siegten — leise hob er sich noch um einige Sprossen höher empor, und statt des Straußes erschien zaghaft der blonde Kopf in der Oeffnung und lauschte bang athmend über die schmale Fensterbank ins Schlafgemach hinein. Posthuma bewegte sich unruhig im Traum. Einige Sekunden vergingen, die dem Lauscher wie Stunden erschienen. Er hatte den Strauß ins Zimmer hineingeworfen und legte die Hand wieder auf das Spalier, um geräuschlos hinabzusteigen. „Paul, wo bist Du, Paul? Mein guter, lieber Paul“, rief das Mädchen in diesem Augenblick laut. Nein, es war kein Traum, der ihn umfing. So wirklich wie das Liebeslied der Amsel von drüben herüber jubelte, wie der blüthen- duftige Mai um ihn webte, sagte sie deutlich mit liebevoll zu- traulicher Stimme: „Paul — mein guter, lieber Paul! —“ Er wußte nicht, daß er geantwortet hatte, aber er hatte laut „Paula, Paula“, gesagt. Er hatte es ebenso unbewußt gethan, als er, vergessend, wo er sich befand, die Hand, mit der er sich hielt, los- gelassen und sie nach dem Mädchen, das auf den Ruf von ihrem Kissen aufgefahren war und ihm wie einer Erscheinung ins Gesicht blickte, ausgestreckt. Doch plötzlich fühlte er, daß er im Begriff stand, seinen Stützpunkt zu verlieren; ein Holzstück krachte unter seinem Fuß und rief ihn zur Besinnung. Eine Sekunde, und so vorsichtig wie er hinauf gelangt, war er unten; nur ein Blüthenregen folgte ihm diesmal bei dem letzten Sprunge, mit dem er sich zur Erde nieder- schwang, und überschneite sein Haar. Dann war er hinter der Ecke des Gebäudes verschwunden. Das Mädchen starrte noch immer auf den leeren Fensterrahmen, aus dem plötzlich das Bild vor ihren Augen versunken. Sie strich sich besinnend mit der Hand über die Stirn. „Jch habe recht närrisch geträumt“, sagte sie lächelnd vor sich hin, „und ich glaube, ich träume noch“. Sie blickte eine Weile nach- denklich in den hellen Morgen hinaus. „Eigentlich ist Alles wahr gewesen, und mir hat nur noch einmal geträumt, was ich wirklich erlebt“, setzte sie, mit dem Kopf nickend, hinzu, „nur war's im Traum noch viel schöner, als es wirklich gewesen.“ Sie hatte unverwandt auf die Stelle geblickt, wo der blonde Kopf, als sie sich im Bette aufgerichtet, verschwunden, doch sie be- merkte erst jetzt, daß das Fenster geöffnet stand. Sie sprang rasch auf, warf ein warmes Morgenkleid über und trat hinan. „Habe ich gestern Abend vergessen zuzumachen?“ murmelte sie, „mir war auch oft so kalt heut Nacht“. Sie neigte sich jetzt aus dem Fenster; vom Städtchen her schlug die Kirchthurmuhr die fünfte Mor- genstunde, und der hintere Theil des Gartens, der nicht von dem hohen Gebäude beschattet war, wie der Deich und fern dahinter über der Wasserfläche die Jnseln lagen schon im hellen Sonnenlicht. Die Amsel sang wie am Abend, da ihr Gesang dem Mädchen in den Schlaf nachgehallt; Posthuma blickte träumerisch in die Ferne. Sie hörte ihr Herz klopfen; es pochte so laut, als frage es Etwas, worauf es Antwort begehre. „Es klopft immer so, wenn man lange träumt“, sagte sie laut, als suche sie sich selbst zu beschwichtigen. Plötzlich schrak sie heftig zusammen, denn eine Stimme kam vom Garten herauf. Sie hatte den leisen Schritt nicht gehört, der von der Seite her tönte. „Bist Du auch schon wach, mein Kind?“ fragte die Baronin. Jhre Stimme klang sorgenvoll, obgleich sie derselben einen leichten Ton zu geben suchte. „Komm herunter, es ist so schön jetzt im Park.“ „Ja, Mama, gleich“, antwortete das Mädchen. Sie trat vom Fenster zurück. „Wie gut, daß ich aufgestanden war“, murmelte sie für sich weiter, „sonst hätte Mama das offene Fenster bemerkt und denken können —“ Sie unterbrach sich mit einem leisen Schrei, denn ihre Augen fielen plötzlich auf den Blumenstrauß, den sie vorher in ihrer Hast nicht bemerkt, und der dicht zu ihren Füßen lag. Sie hob ihn auf und betrachtete ihn; die Kelche waren noch feucht vom Thau, und sie fühlte, wie das Blut ihr, sie wußte nicht, warum, heiß über Wangen und Schläfe hinauf strömte. Ohne zu denken, starrte sie regungslos darauf hin; ihr war als träume sie noch, aber nicht von Wind und Wellen, sondern die süßesten, sonnigsten Erinnerungen ihrer Kindheit. „Posthuma!“ rief die wartende Mutter von unten. Sie fuhr wieder zusammen, dann schloß sie den Strauß schnell in ein Schubfach, dessen Schlüssel sie abzog, kleidete sich eilig völlig an und ging hinunter. Jhr Herz klopfte noch immer so rebellisch, daß sie auf der Treppe einen Moment stillstehen und die Hand darauf legen mußte. Jm Thor kam ihr die Baronin entgegen. „Wo bleibst Du so lange, mein Kind?“ fragte sie. Posthuma küßte sie zur Antwort. „Die Amsel hat mich geweckt“, sagte sie, „aber ich dachte, es sei noch kein Mensch wach außer mir.“ „Ei, was sich solch' kleine Langschläferin einbildet, wenn der Zu- fall sie einmal etwas früher aus den Federn holt“, erwiderte die Mutter, deren trübe Stirn sich bei dem Anblick des schönen Mädchens jetzt wirklich erheiterte. „Jch bin gewöhnlich schon um diese Zeit im Garten, und im Thorweg begegnete mir Paul schon, der also noch ein gut Stück eher aufgestanden sein muß als wir.“ Posthuma beugte sich eifrig auf ein Blumenbeet nieder; ihre Hände waren so hastig beschäftigt, das darauf befindliche Unkraut aus- zureißen, daß sie die Gerechten mit den Ungerechten leiden ließ und auch die berechtigten Bewohner des Beetes mit den Wurzeln heraus- riß. Es war unmöglich, daß mehr Blut sich in ihren Wangen sam- meln konnte, und es flog hellroth, wie die Pfirsichblüthen neben ihr, bis über ihren sonst so weißen Nacken herunter. „Paul?“ stotterte sie verwundert. „Was wollte der hier um diese Zeit?“ Die Baronin war ebenfalls mit der Sorge für eine ihrer Lieb- lingspflanzen beschäftigt. „Er hat in der Stadt zu thun“, antwortete sie, ohne auf Posthuma zu blicken, „und hat sein Boot bei uns angelegt, weil er zu Fuß näher geht. Er läßt Dich grüßen.“ Sie sah bei den Worten nach Etwas umher. „Sieh“, fuhr sie gleichen Tones fort, „wie der Wind heut Nacht die Pfirsichblüthen abgerüttelt hat, gerade von diesem einen Baum! Doch es schadet nicht mehr; die Früchte haben schon angesetzt, und wenn der Sommer gut ist, werden sie reif. Aber Posthuma sah nicht, sondern blickte nach der Drossel hin- über, die unermüdlich sang. Sie wiederholte nur mechanisch zwischen den Lippen: „Ja, wenn der Sommer gut ist —“ Dann schauerte sie heftig zusammen und fügte dumpf hinzu: „Jm Herbst.“ Die Mutter wandte sich um. „Was ist Dir, mein Kind?“ fragte sie. „Es wird vorübergehen, Mama“, antwortete das Mädchen; „ich bin sonst nie so früh aufgestanden, und nun fröstelt's mich doch in der scharfen Morgenluft.“ ( Fortsetzung folgt. )

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Deutsches Textarchiv: Metadatenerfassung
Institut für Deutsche Sprache, Mannheim: Bereitstellung der Bilddigitalisate und Volltext-Transkription
Susanne Haaf, Rahel Hartz, Nicole Postelt: Nachkorrektur und Vervollständigung der TEI/DTABf-Annotation
Rahel Hartz: Artikelstrukturierung

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Zitationshilfe: Sonntags-Blatt. Nr. 9. Berlin, 1. März 1868, S. 67. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_sonntagsblatt09_1868/3>, abgerufen am 18.06.2024.