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Sonntags-Blatt. Nr. 11. Berlin, 15. März 1868.

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[Beginn Spaltensatz] Nationalgeschichte vom Untergang des weströmischen Reiches bis zum Be-
ginn dieses Jahrhunderts vernachlässigt, und gerade auf diesen Theil ihrer
Geschichte sollten sie ihre ganze Aufmerksamkeit richten; denn in ihrer
Macht liegt es, die Ursachen aufzuklären, welche den hellenischen Geist
durch Jahrhunderte zu einer Art Stillstand verurtheilt haben, und zu zeigen,
in welcher Weise die sozialen Folgen der byzantinischen Herrschaft das
Volk für die türkische Unterwerfung reif gemacht hatten. Entschuldigen
läßt es sich, daß die Griechen die Periode ihrer Unterjochung durch die
fränkischen und venetianischen Feudalherrscher [unleserliches Material - 14 Zeichen fehlen]vernachlässigt haben. Poli-
tisch und sozial ist dies ein Auswuchs ihrer Nationalgeschichte, und ist
diese Epoche erst kürzlich mit wunderbarem Forscherfleiß und Scharfsinn
von Dr. Hopf behandelt, welchen seine Vertrautheit mit mittelalterlichen
Manuskripten als Entdecker historischer Wahrheiten in eine Reihe mit
Ducange stellt. Ein ganzer Quartband der Encyklopädie von Ersch und
Gruber, welcher die Geschichte Griechenlands während des Mittelalters
enthält, ist mit den Resultaten seiner Untersuchungen angefüllt. Die grie-
chische Regierung könnte sowohl der Geschichte Griechenlands als auch der
Kunstgeschichte einen großen Dienst leisten, wenn sie eine Kommission in
alle die griechischen Klöster schickte, in welchen sich noch goldene Bullen
von den griechischen Kaisern befinden, um Kopieen von diesen Dokumenten
sowie von den eigenthümlich kolorirten Portraits der Kaiser und Kaiserinnen
im kaiserlichen Staatskleid, mit denen dieselben geschmückt sind, zu ver-
fertigen. Diese werthvollen Zeugnisse mittelalterlicher Kunst werden von
Jahr zu Jahr seltener.

Der Mangel an Originalität in der neuen griechischen Literatur ist
verhängnißvoll für die Poesie. Dennoch zeigt die Menge der jährlich ver-
öffentlichten Verse, daß stets eine große Nachfrage nach poetischen Schriften
herrscht und daß Verse außerordentlich beliebt beim Volk sind. Die Ver-
standesschärfe der Neugriechen ist aber nicht mit einer entsprechenden Er-
giebigkeit der Phantasie verbunden. Die Eingebungen des Genius, die
Thätigkeit der Phantasie und das geistvolle Spiel des Witzes sind aus-
geschlossen aus den konventionellen Phrasen der Versmacherei und den
Bestrebungen ehrgeiziger Pedanterie, die leichte und anmuthige Eleganz
der Jugend entfaltet sich nicht in der griechischen Literatur; denn kein
Grieche des neunzehnten Jahrhunderts scheint jemals geistig jung gewesen
zu sein, selbst nicht in seinen jungen Jahren. Die Griechen haben in
ihrer Literatur eine Orthodoxie, welche sie nöthigt, sich gewisse feststehende
Gedankenrichtungen anzueignen. Der Zweig der Literatur, welcher sich
über Lobpreisungen und Leichenreden verbreitet, ergötzt sie besonders; der-
selbe ist aber stets mit Entstellungen gefärbt, selbst wenn offenbare Fälsch-
ungen glücklich vermieden werden. Dieser literarische Glorienschein übt jedoch
großen Einfluß auf eine Nation, welche der Macht des Worts wunderbar
willfährig ist.

Die Griechen sind allgemein als ein handeltreibendes Volk bekannt.
Ein großer Theil der Nation wohnt in Städten an der Seeküste und be-
treibt den Handel mit einer ackerbauenden Landbevölkerung von Racen,
mit welchen die Hellenen sich nicht amalgamiren. Die geographische Ge-
staltung der Gebiete, in welchen die griechische Race unter den Eingeborenen
vorwiegend ist, stellt eine von tiefen Busen und schönen Häfen ausgezackte
Küste dar und wird von einem dicht mit bewohnten Jnseln besäeten Meer
bespült. Der Handel mit der Levante ging in Folge der ottomanischen
Eroberung von den italienischen Republiken auf die griechischen Unter-
thanen des Sultans über. Vor fünfzig Jahren war die Handelsflotte der
Griechen wegen ihrer Größe die schönste in Europa; sie bestand aus einer
Flotille von Blokade=Schnellseglern, gebaut, um den englischen Fregatten
auszuweichen und Getreideladungen in die blockirten Häfen des ersten fran-
zösischen Kaiserreichs zu befördern. Der Dampf hat diese schönen Schiffe
verdrängt und den besten Theil des Mittelmeerhandels den Dampfschiffen
anderer Nationen zugewendet. Die Handelsflotte Griechenlands besteht
jetzt fast nur aus kleinen Segelschiffen. Durch einen Vergleich mit der
holländischen kann man sich einen Begriff von ihrer Bedeutung machen,
obgleich zu berücksichtigen ist, daß die Griechen viel kleinere Küstenfahrer
mitzählen, als die Holländer. 1864 betrug die Zahl der Schiffe, welche die
griechische Flagge hißten, 4528, von denen nur ungefähr 1500 einen Tonnen-
gehalt von 60 und darüber zählten; der gesammte Tonnengehalt war 280,342.
Die Zahl der holländischen Schiffe in demselben Jahr war 2227, und ihr Ton-
nengehalt belief sich auf 515,000. Nach diesen Angaben kommen durchschnittlich
kaum 62 Tonnen auf eine griechische Flagge, und mehr als 231 Tonnen
auf eine holländische Flagge. Griechenland besitzt noch nicht einmal 1500
Schiffe mit mehr als 62 Tonnen, während Holland über 2000 Schiffe mit
mehr als 200 Tonnen zählt. Dieser Vergleich stellt den Unterschied zwi-
schen dem Mittelmeerhandel und dem Handel des Ozeans dar, von dem
Griechenland und Holland als Typen angesehen werden können. Jm
Jahr 1864 beschäftigte die Marine Griechenlands nahezu 25,000 Männer
und Jungen. Das Verhältniß der Jungen ist größer als in anderen Ma-
rinen wegen der großen Anzahl kleiner Schiffe und der Natur der Küsten-
reisen. Jndessen werden die Jungen zu trefflichen Seeleuten erzogen. Jn
dem Fischfang auf hoher See, einem wichtigen Zweig der maritimen Jn-
dustrie, stehen die Griechen im Allgemeinen den Bewohnern von Süd-
Jtalien nach; noch bis vor Kurzem pflegten neapolitanische Fischer ihre
Netze in den griechischen Gewässern auszuwerfen.

Der blühende Zustand der griechischen Handelsmarine trägt viel weniger,
als man gewöhnlich annimmt, zu der Macht und Bedeutung des griechischen
Königreichs bei. Griechenland besitzt noch keine regelmäßigen Dampfschiff-
verbindungen mit allen, selbst nicht mit allen größeren Jnseln des Archi-
pelagus. Der ganze Handelsstand, Kaufleute und Schiffseigner, Kapitäne,
Fischer, Krämer und Maulthiertreiber mit einbegriffen, beträgt nur8 1 / 2
Prozent von der Bevölkerung des Königreichs, während die Ackerbau trei-
benden Stände, einschließlich der Gutsbesitzer, Pächter und Schafhirten,
über die Hälfte der Bevölkerung ausmachen.     ( Schluß folgt. )



[Spaltenumbruch]
Der Dilettantismus auf der Kirmes.
Humoristische Skizze
von
E. L.

An der östlichen Grenze des durch sein musikalisches Leben genugsam
bekannten thüringischen Hügellandes, eine gute Stunde von der Kreisstadt
Z., liegt das Dorf Taubenfeld. Dort war mein Schulfreund Hilarius
Fugenberger Kantor geworden, und dieser verfehlte nicht, nachdem er in
Erfahrung gebracht, daß ich in Z. sei, mich, so oft er zur Stadt kam, was
gewöhnlich jeden Sonnabend geschah, zu besuchen und regelmäßig zur näch-
sten Kirmes einzuladen. Am letzten Mittwoch hatte mir die "Schnellpost",
eine von Z. nach Taubenfeld gehende Gemüsefrau, sogar eine briefliche
Einladung gebracht, in welcher mir Fugenberger gleichzeitig ankündigte, daß
er bei der Kirchenmusik "stark auf mich rechne". Denn diesmal, so hieß
es in dem Briefe, solle ein "pompöses Stück" aufgeführt werden, und ich
wäre "besonders dabei nöthig". Die Briefstelle, so dunkel mir ihr Jnhalt
sonst auch war, hatte doch meinen Dilettanten=Ehrgeiz lebhaft angeregt.
Jch beschloß sofort nach Taubenfeld zu gehen, gedachte mich mit Lorbeern
zu bedecken, und sah mich im Geist schon als bewunderten und gefeierten
Künstler. Es wäre mir freilich lieber gewesen, wenn Fugenberger mir das
"pompöse Stück" oder wo möglich gleich die Noten dazu mitgeschickt hätte.
Denn zuweilen wurde mir doch um meinen zu erwerbenden Künstlerruhm
bange; es überkam mich, je näher die Kirmes heranrückte, ein gewisses
Bühnenfieber. Dabei fiel mir immer ein, daß der Musikdirektor H. einmal
nach einem Konzert, das ich ihm allein auf meinem Zimmer gab, zu mir
gesagt hatte: "Lieber L., ich finde, daß Sie da ganz gut eine Neben-
einnahme haben können. Verlangen Sie von der Anstalts=Direktion das
Honorar für den Kammerjäger; denn die besten Schlingen, die schärfsten
Gifte können gegen Ratten und Mäuse nicht wirksamer sein, als Jhre
musikalischen Studien."

Doch zur Kirchenmusik.

Jch wollte schon am Sonnabend nach Taubenfeld gehen, um mich mit
meiner Ausgabe näher bekannt zu machen und wenigstens einer General-
probe beizuwohnen; allein eine amtliche Funktion hinderte mich daran, und
so konnte ich erst am Sonntag Morgen aufbrechen. Ungefähr eine halbe
Stunde vor Beginn des Gottesdienstes kam ich dort an und fand die ganze
Kapelle schon im Schulhause versammelt. Mein Freund empfing mich mit
offenen Armen und offerirte mir sofort von den Reichthümern der Kirmes-
tafel Cigarren, Bier und Kuchen. Doch nahm ich nichts an und forderte
vor allen Dingen meine Stimme.

"Jst kinderleicht, kinderleicht", antwortete mein Freund.

"Aber ich muß doch erst --"

"Ach was! Wirst schon sehen. Fürs Erste giebt es dringendere Dinge
zu ordnen, Landsmann. Kannst Du die Pauken schlagen?"

"Jch? Jch die Pauken? Soll ich denn nicht die Violine spielen?"

"Ei gewiß! Aber im Choral brauchen wir die Pauken, und unsere
Pauke hat uns verschmähter Liebe wegen im Stich gelassen."

"Der Gottvergessene!" schrie das Waldhorn. "Sollte sich schön ins
Fäustchen lachen, wenn wir die Pauken weglassen müßten!"

"Er sollte sich was schämen", äußerte der Baß; "habe als junger Kerl
manche Dirne lieb gehabt, und manche ist mir weggefischt worden, und
's ist mir manchmal in die Krone gefahren, und die Liebe hat mir schwer
wie Knödel im Magen gelegen; aber am Gottesdienst und an der Kirchen-
musik habe ich meinen Aerger nie ausgelassen. Sollte sich was schämen!"

"Aber, Kinder, was ist denn los?" fragte ich, als ich die Aufregung in
der Kapelle bemerkte.

"Jh, ih", begann die lange Flöte, ein Maurerpolier in den fünfziger
Jahren, hoch aufgeschossen und mit dünnen blassen Backen, "ih, ih, 's ist
wegen der Kunst, Herrchen! Jch habe das Musikchor hier im Dorf und
spiele immer, wo was los ist. Da ist nun der Zahn=Gottlob, ein
Stellmacher --"

"Pfui! Sollte sich was schämen! Sollte sich was schämen!" eiferte der
Baß dazwischen.

"Der Zahn=Gottlob", nahm Ersterer seine Rede wieder auf, "wollte
meine Christel haben, aber sie mochte ihn nicht und ich hatte sie auch schon
dem Müller=Carl, meiner Trompete da, versprochen; zur Klein=Kirmes soll
die Hochzeit gefeiert werden. Darum hat der Zahn nun den Bittern auf
mich und spielt mir heut den Schabernack, weil er wohl weiß, daß er die
einzige Kesselpauke im Dorf ist; 's ist wegen der Kunst, Herrchen."

Die Trompete war bei ihrer Erwähnung bis hinter die Ohren erröthet;
jetzt fühlte sie, daß sie ihre Verlegenheit durch eine Rede verwischen könne,
und sprach die geflügelten Worte:

"Der dumme Kerl! Was kann ich denn dafür, daß er einen Raff-
zahn hat?"

Die zweite Geige, die Posaune und die Klarinette betheiligten sich nur
stumm an der Debatte, nur dann und wann begleiteten sie die Auseinander-
setzungen ihrer Kollegen mit obligatem Kopfnicken, unaussprechlichen Seuf-
zern und abgebrochenen Ausrufen der Verwünschung und des Abscheu's.

"Bruder", sagte der Kantor zu mir, indem er mir herzhaft auf die
Schulter klopfte, "es hilft nichts, Du mußt die Pauke schlagen. Unser
Kapellmeister hat eine große Trommelpauke --"

"Jh, ih; aber der Schlägel fehlt mir."

"Schadet nichts; da lassen wir uns von meiner Frau den Zuckerhammer
geben, und dann hau nur tüchtig drauf los; besonders strenge Dich bei
der Fermate an, daß Du den Wirbel ordentlich zur Geltung bringst; denn
der hebt die ganze Kirchenmusik", wandte sich mein Freund an mich.

"Jh, ih; aber von wegen dem Zuckerhammer, das ist nichts, Herr
Kantor, der ist zu hart."

"Ja freilich ist der zu hart", bestätigte ich; "was ist da zu thun?"

[Ende Spaltensatz]

[Beginn Spaltensatz] Nationalgeschichte vom Untergang des weströmischen Reiches bis zum Be-
ginn dieses Jahrhunderts vernachlässigt, und gerade auf diesen Theil ihrer
Geschichte sollten sie ihre ganze Aufmerksamkeit richten; denn in ihrer
Macht liegt es, die Ursachen aufzuklären, welche den hellenischen Geist
durch Jahrhunderte zu einer Art Stillstand verurtheilt haben, und zu zeigen,
in welcher Weise die sozialen Folgen der byzantinischen Herrschaft das
Volk für die türkische Unterwerfung reif gemacht hatten. Entschuldigen
läßt es sich, daß die Griechen die Periode ihrer Unterjochung durch die
fränkischen und venetianischen Feudalherrscher [unleserliches Material – 14 Zeichen fehlen]vernachlässigt haben. Poli-
tisch und sozial ist dies ein Auswuchs ihrer Nationalgeschichte, und ist
diese Epoche erst kürzlich mit wunderbarem Forscherfleiß und Scharfsinn
von Dr. Hopf behandelt, welchen seine Vertrautheit mit mittelalterlichen
Manuskripten als Entdecker historischer Wahrheiten in eine Reihe mit
Ducange stellt. Ein ganzer Quartband der Encyklopädie von Ersch und
Gruber, welcher die Geschichte Griechenlands während des Mittelalters
enthält, ist mit den Resultaten seiner Untersuchungen angefüllt. Die grie-
chische Regierung könnte sowohl der Geschichte Griechenlands als auch der
Kunstgeschichte einen großen Dienst leisten, wenn sie eine Kommission in
alle die griechischen Klöster schickte, in welchen sich noch goldene Bullen
von den griechischen Kaisern befinden, um Kopieen von diesen Dokumenten
sowie von den eigenthümlich kolorirten Portraits der Kaiser und Kaiserinnen
im kaiserlichen Staatskleid, mit denen dieselben geschmückt sind, zu ver-
fertigen. Diese werthvollen Zeugnisse mittelalterlicher Kunst werden von
Jahr zu Jahr seltener.

Der Mangel an Originalität in der neuen griechischen Literatur ist
verhängnißvoll für die Poesie. Dennoch zeigt die Menge der jährlich ver-
öffentlichten Verse, daß stets eine große Nachfrage nach poetischen Schriften
herrscht und daß Verse außerordentlich beliebt beim Volk sind. Die Ver-
standesschärfe der Neugriechen ist aber nicht mit einer entsprechenden Er-
giebigkeit der Phantasie verbunden. Die Eingebungen des Genius, die
Thätigkeit der Phantasie und das geistvolle Spiel des Witzes sind aus-
geschlossen aus den konventionellen Phrasen der Versmacherei und den
Bestrebungen ehrgeiziger Pedanterie, die leichte und anmuthige Eleganz
der Jugend entfaltet sich nicht in der griechischen Literatur; denn kein
Grieche des neunzehnten Jahrhunderts scheint jemals geistig jung gewesen
zu sein, selbst nicht in seinen jungen Jahren. Die Griechen haben in
ihrer Literatur eine Orthodoxie, welche sie nöthigt, sich gewisse feststehende
Gedankenrichtungen anzueignen. Der Zweig der Literatur, welcher sich
über Lobpreisungen und Leichenreden verbreitet, ergötzt sie besonders; der-
selbe ist aber stets mit Entstellungen gefärbt, selbst wenn offenbare Fälsch-
ungen glücklich vermieden werden. Dieser literarische Glorienschein übt jedoch
großen Einfluß auf eine Nation, welche der Macht des Worts wunderbar
willfährig ist.

Die Griechen sind allgemein als ein handeltreibendes Volk bekannt.
Ein großer Theil der Nation wohnt in Städten an der Seeküste und be-
treibt den Handel mit einer ackerbauenden Landbevölkerung von Racen,
mit welchen die Hellenen sich nicht amalgamiren. Die geographische Ge-
staltung der Gebiete, in welchen die griechische Race unter den Eingeborenen
vorwiegend ist, stellt eine von tiefen Busen und schönen Häfen ausgezackte
Küste dar und wird von einem dicht mit bewohnten Jnseln besäeten Meer
bespült. Der Handel mit der Levante ging in Folge der ottomanischen
Eroberung von den italienischen Republiken auf die griechischen Unter-
thanen des Sultans über. Vor fünfzig Jahren war die Handelsflotte der
Griechen wegen ihrer Größe die schönste in Europa; sie bestand aus einer
Flotille von Blokade=Schnellseglern, gebaut, um den englischen Fregatten
auszuweichen und Getreideladungen in die blockirten Häfen des ersten fran-
zösischen Kaiserreichs zu befördern. Der Dampf hat diese schönen Schiffe
verdrängt und den besten Theil des Mittelmeerhandels den Dampfschiffen
anderer Nationen zugewendet. Die Handelsflotte Griechenlands besteht
jetzt fast nur aus kleinen Segelschiffen. Durch einen Vergleich mit der
holländischen kann man sich einen Begriff von ihrer Bedeutung machen,
obgleich zu berücksichtigen ist, daß die Griechen viel kleinere Küstenfahrer
mitzählen, als die Holländer. 1864 betrug die Zahl der Schiffe, welche die
griechische Flagge hißten, 4528, von denen nur ungefähr 1500 einen Tonnen-
gehalt von 60 und darüber zählten; der gesammte Tonnengehalt war 280,342.
Die Zahl der holländischen Schiffe in demselben Jahr war 2227, und ihr Ton-
nengehalt belief sich auf 515,000. Nach diesen Angaben kommen durchschnittlich
kaum 62 Tonnen auf eine griechische Flagge, und mehr als 231 Tonnen
auf eine holländische Flagge. Griechenland besitzt noch nicht einmal 1500
Schiffe mit mehr als 62 Tonnen, während Holland über 2000 Schiffe mit
mehr als 200 Tonnen zählt. Dieser Vergleich stellt den Unterschied zwi-
schen dem Mittelmeerhandel und dem Handel des Ozeans dar, von dem
Griechenland und Holland als Typen angesehen werden können. Jm
Jahr 1864 beschäftigte die Marine Griechenlands nahezu 25,000 Männer
und Jungen. Das Verhältniß der Jungen ist größer als in anderen Ma-
rinen wegen der großen Anzahl kleiner Schiffe und der Natur der Küsten-
reisen. Jndessen werden die Jungen zu trefflichen Seeleuten erzogen. Jn
dem Fischfang auf hoher See, einem wichtigen Zweig der maritimen Jn-
dustrie, stehen die Griechen im Allgemeinen den Bewohnern von Süd-
Jtalien nach; noch bis vor Kurzem pflegten neapolitanische Fischer ihre
Netze in den griechischen Gewässern auszuwerfen.

Der blühende Zustand der griechischen Handelsmarine trägt viel weniger,
als man gewöhnlich annimmt, zu der Macht und Bedeutung des griechischen
Königreichs bei. Griechenland besitzt noch keine regelmäßigen Dampfschiff-
verbindungen mit allen, selbst nicht mit allen größeren Jnseln des Archi-
pelagus. Der ganze Handelsstand, Kaufleute und Schiffseigner, Kapitäne,
Fischer, Krämer und Maulthiertreiber mit einbegriffen, beträgt nur8 1 / 2
Prozent von der Bevölkerung des Königreichs, während die Ackerbau trei-
benden Stände, einschließlich der Gutsbesitzer, Pächter und Schafhirten,
über die Hälfte der Bevölkerung ausmachen.     ( Schluß folgt. )



[Spaltenumbruch]
Der Dilettantismus auf der Kirmes.
Humoristische Skizze
von
E. L.

An der östlichen Grenze des durch sein musikalisches Leben genugsam
bekannten thüringischen Hügellandes, eine gute Stunde von der Kreisstadt
Z., liegt das Dorf Taubenfeld. Dort war mein Schulfreund Hilarius
Fugenberger Kantor geworden, und dieser verfehlte nicht, nachdem er in
Erfahrung gebracht, daß ich in Z. sei, mich, so oft er zur Stadt kam, was
gewöhnlich jeden Sonnabend geschah, zu besuchen und regelmäßig zur näch-
sten Kirmes einzuladen. Am letzten Mittwoch hatte mir die „Schnellpost“,
eine von Z. nach Taubenfeld gehende Gemüsefrau, sogar eine briefliche
Einladung gebracht, in welcher mir Fugenberger gleichzeitig ankündigte, daß
er bei der Kirchenmusik „stark auf mich rechne“. Denn diesmal, so hieß
es in dem Briefe, solle ein „pompöses Stück“ aufgeführt werden, und ich
wäre „besonders dabei nöthig“. Die Briefstelle, so dunkel mir ihr Jnhalt
sonst auch war, hatte doch meinen Dilettanten=Ehrgeiz lebhaft angeregt.
Jch beschloß sofort nach Taubenfeld zu gehen, gedachte mich mit Lorbeern
zu bedecken, und sah mich im Geist schon als bewunderten und gefeierten
Künstler. Es wäre mir freilich lieber gewesen, wenn Fugenberger mir das
„pompöse Stück“ oder wo möglich gleich die Noten dazu mitgeschickt hätte.
Denn zuweilen wurde mir doch um meinen zu erwerbenden Künstlerruhm
bange; es überkam mich, je näher die Kirmes heranrückte, ein gewisses
Bühnenfieber. Dabei fiel mir immer ein, daß der Musikdirektor H. einmal
nach einem Konzert, das ich ihm allein auf meinem Zimmer gab, zu mir
gesagt hatte: „Lieber L., ich finde, daß Sie da ganz gut eine Neben-
einnahme haben können. Verlangen Sie von der Anstalts=Direktion das
Honorar für den Kammerjäger; denn die besten Schlingen, die schärfsten
Gifte können gegen Ratten und Mäuse nicht wirksamer sein, als Jhre
musikalischen Studien.“

Doch zur Kirchenmusik.

Jch wollte schon am Sonnabend nach Taubenfeld gehen, um mich mit
meiner Ausgabe näher bekannt zu machen und wenigstens einer General-
probe beizuwohnen; allein eine amtliche Funktion hinderte mich daran, und
so konnte ich erst am Sonntag Morgen aufbrechen. Ungefähr eine halbe
Stunde vor Beginn des Gottesdienstes kam ich dort an und fand die ganze
Kapelle schon im Schulhause versammelt. Mein Freund empfing mich mit
offenen Armen und offerirte mir sofort von den Reichthümern der Kirmes-
tafel Cigarren, Bier und Kuchen. Doch nahm ich nichts an und forderte
vor allen Dingen meine Stimme.

„Jst kinderleicht, kinderleicht“, antwortete mein Freund.

„Aber ich muß doch erst —“

„Ach was! Wirst schon sehen. Fürs Erste giebt es dringendere Dinge
zu ordnen, Landsmann. Kannst Du die Pauken schlagen?“

„Jch? Jch die Pauken? Soll ich denn nicht die Violine spielen?“

„Ei gewiß! Aber im Choral brauchen wir die Pauken, und unsere
Pauke hat uns verschmähter Liebe wegen im Stich gelassen.“

„Der Gottvergessene!“ schrie das Waldhorn. „Sollte sich schön ins
Fäustchen lachen, wenn wir die Pauken weglassen müßten!“

„Er sollte sich was schämen“, äußerte der Baß; „habe als junger Kerl
manche Dirne lieb gehabt, und manche ist mir weggefischt worden, und
's ist mir manchmal in die Krone gefahren, und die Liebe hat mir schwer
wie Knödel im Magen gelegen; aber am Gottesdienst und an der Kirchen-
musik habe ich meinen Aerger nie ausgelassen. Sollte sich was schämen!“

„Aber, Kinder, was ist denn los?“ fragte ich, als ich die Aufregung in
der Kapelle bemerkte.

„Jh, ih“, begann die lange Flöte, ein Maurerpolier in den fünfziger
Jahren, hoch aufgeschossen und mit dünnen blassen Backen, „ih, ih, 's ist
wegen der Kunst, Herrchen! Jch habe das Musikchor hier im Dorf und
spiele immer, wo was los ist. Da ist nun der Zahn=Gottlob, ein
Stellmacher —“

„Pfui! Sollte sich was schämen! Sollte sich was schämen!“ eiferte der
Baß dazwischen.

„Der Zahn=Gottlob“, nahm Ersterer seine Rede wieder auf, „wollte
meine Christel haben, aber sie mochte ihn nicht und ich hatte sie auch schon
dem Müller=Carl, meiner Trompete da, versprochen; zur Klein=Kirmes soll
die Hochzeit gefeiert werden. Darum hat der Zahn nun den Bittern auf
mich und spielt mir heut den Schabernack, weil er wohl weiß, daß er die
einzige Kesselpauke im Dorf ist; 's ist wegen der Kunst, Herrchen.“

Die Trompete war bei ihrer Erwähnung bis hinter die Ohren erröthet;
jetzt fühlte sie, daß sie ihre Verlegenheit durch eine Rede verwischen könne,
und sprach die geflügelten Worte:

„Der dumme Kerl! Was kann ich denn dafür, daß er einen Raff-
zahn hat?“

Die zweite Geige, die Posaune und die Klarinette betheiligten sich nur
stumm an der Debatte, nur dann und wann begleiteten sie die Auseinander-
setzungen ihrer Kollegen mit obligatem Kopfnicken, unaussprechlichen Seuf-
zern und abgebrochenen Ausrufen der Verwünschung und des Abscheu's.

„Bruder“, sagte der Kantor zu mir, indem er mir herzhaft auf die
Schulter klopfte, „es hilft nichts, Du mußt die Pauke schlagen. Unser
Kapellmeister hat eine große Trommelpauke —“

„Jh, ih; aber der Schlägel fehlt mir.“

„Schadet nichts; da lassen wir uns von meiner Frau den Zuckerhammer
geben, und dann hau nur tüchtig drauf los; besonders strenge Dich bei
der Fermate an, daß Du den Wirbel ordentlich zur Geltung bringst; denn
der hebt die ganze Kirchenmusik“, wandte sich mein Freund an mich.

„Jh, ih; aber von wegen dem Zuckerhammer, das ist nichts, Herr
Kantor, der ist zu hart.“

„Ja freilich ist der zu hart“, bestätigte ich; „was ist da zu thun?“

[Ende Spaltensatz]
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[85/0005] 85 Nationalgeschichte vom Untergang des weströmischen Reiches bis zum Be- ginn dieses Jahrhunderts vernachlässigt, und gerade auf diesen Theil ihrer Geschichte sollten sie ihre ganze Aufmerksamkeit richten; denn in ihrer Macht liegt es, die Ursachen aufzuklären, welche den hellenischen Geist durch Jahrhunderte zu einer Art Stillstand verurtheilt haben, und zu zeigen, in welcher Weise die sozialen Folgen der byzantinischen Herrschaft das Volk für die türkische Unterwerfung reif gemacht hatten. Entschuldigen läßt es sich, daß die Griechen die Periode ihrer Unterjochung durch die fränkischen und venetianischen Feudalherrscher ______________vernachlässigt haben. Poli- tisch und sozial ist dies ein Auswuchs ihrer Nationalgeschichte, und ist diese Epoche erst kürzlich mit wunderbarem Forscherfleiß und Scharfsinn von Dr. Hopf behandelt, welchen seine Vertrautheit mit mittelalterlichen Manuskripten als Entdecker historischer Wahrheiten in eine Reihe mit Ducange stellt. Ein ganzer Quartband der Encyklopädie von Ersch und Gruber, welcher die Geschichte Griechenlands während des Mittelalters enthält, ist mit den Resultaten seiner Untersuchungen angefüllt. Die grie- chische Regierung könnte sowohl der Geschichte Griechenlands als auch der Kunstgeschichte einen großen Dienst leisten, wenn sie eine Kommission in alle die griechischen Klöster schickte, in welchen sich noch goldene Bullen von den griechischen Kaisern befinden, um Kopieen von diesen Dokumenten sowie von den eigenthümlich kolorirten Portraits der Kaiser und Kaiserinnen im kaiserlichen Staatskleid, mit denen dieselben geschmückt sind, zu ver- fertigen. Diese werthvollen Zeugnisse mittelalterlicher Kunst werden von Jahr zu Jahr seltener. Der Mangel an Originalität in der neuen griechischen Literatur ist verhängnißvoll für die Poesie. Dennoch zeigt die Menge der jährlich ver- öffentlichten Verse, daß stets eine große Nachfrage nach poetischen Schriften herrscht und daß Verse außerordentlich beliebt beim Volk sind. Die Ver- standesschärfe der Neugriechen ist aber nicht mit einer entsprechenden Er- giebigkeit der Phantasie verbunden. Die Eingebungen des Genius, die Thätigkeit der Phantasie und das geistvolle Spiel des Witzes sind aus- geschlossen aus den konventionellen Phrasen der Versmacherei und den Bestrebungen ehrgeiziger Pedanterie, die leichte und anmuthige Eleganz der Jugend entfaltet sich nicht in der griechischen Literatur; denn kein Grieche des neunzehnten Jahrhunderts scheint jemals geistig jung gewesen zu sein, selbst nicht in seinen jungen Jahren. Die Griechen haben in ihrer Literatur eine Orthodoxie, welche sie nöthigt, sich gewisse feststehende Gedankenrichtungen anzueignen. Der Zweig der Literatur, welcher sich über Lobpreisungen und Leichenreden verbreitet, ergötzt sie besonders; der- selbe ist aber stets mit Entstellungen gefärbt, selbst wenn offenbare Fälsch- ungen glücklich vermieden werden. Dieser literarische Glorienschein übt jedoch großen Einfluß auf eine Nation, welche der Macht des Worts wunderbar willfährig ist. Die Griechen sind allgemein als ein handeltreibendes Volk bekannt. Ein großer Theil der Nation wohnt in Städten an der Seeküste und be- treibt den Handel mit einer ackerbauenden Landbevölkerung von Racen, mit welchen die Hellenen sich nicht amalgamiren. Die geographische Ge- staltung der Gebiete, in welchen die griechische Race unter den Eingeborenen vorwiegend ist, stellt eine von tiefen Busen und schönen Häfen ausgezackte Küste dar und wird von einem dicht mit bewohnten Jnseln besäeten Meer bespült. Der Handel mit der Levante ging in Folge der ottomanischen Eroberung von den italienischen Republiken auf die griechischen Unter- thanen des Sultans über. Vor fünfzig Jahren war die Handelsflotte der Griechen wegen ihrer Größe die schönste in Europa; sie bestand aus einer Flotille von Blokade=Schnellseglern, gebaut, um den englischen Fregatten auszuweichen und Getreideladungen in die blockirten Häfen des ersten fran- zösischen Kaiserreichs zu befördern. Der Dampf hat diese schönen Schiffe verdrängt und den besten Theil des Mittelmeerhandels den Dampfschiffen anderer Nationen zugewendet. Die Handelsflotte Griechenlands besteht jetzt fast nur aus kleinen Segelschiffen. Durch einen Vergleich mit der holländischen kann man sich einen Begriff von ihrer Bedeutung machen, obgleich zu berücksichtigen ist, daß die Griechen viel kleinere Küstenfahrer mitzählen, als die Holländer. 1864 betrug die Zahl der Schiffe, welche die griechische Flagge hißten, 4528, von denen nur ungefähr 1500 einen Tonnen- gehalt von 60 und darüber zählten; der gesammte Tonnengehalt war 280,342. Die Zahl der holländischen Schiffe in demselben Jahr war 2227, und ihr Ton- nengehalt belief sich auf 515,000. Nach diesen Angaben kommen durchschnittlich kaum 62 Tonnen auf eine griechische Flagge, und mehr als 231 Tonnen auf eine holländische Flagge. Griechenland besitzt noch nicht einmal 1500 Schiffe mit mehr als 62 Tonnen, während Holland über 2000 Schiffe mit mehr als 200 Tonnen zählt. Dieser Vergleich stellt den Unterschied zwi- schen dem Mittelmeerhandel und dem Handel des Ozeans dar, von dem Griechenland und Holland als Typen angesehen werden können. Jm Jahr 1864 beschäftigte die Marine Griechenlands nahezu 25,000 Männer und Jungen. Das Verhältniß der Jungen ist größer als in anderen Ma- rinen wegen der großen Anzahl kleiner Schiffe und der Natur der Küsten- reisen. Jndessen werden die Jungen zu trefflichen Seeleuten erzogen. Jn dem Fischfang auf hoher See, einem wichtigen Zweig der maritimen Jn- dustrie, stehen die Griechen im Allgemeinen den Bewohnern von Süd- Jtalien nach; noch bis vor Kurzem pflegten neapolitanische Fischer ihre Netze in den griechischen Gewässern auszuwerfen. Der blühende Zustand der griechischen Handelsmarine trägt viel weniger, als man gewöhnlich annimmt, zu der Macht und Bedeutung des griechischen Königreichs bei. Griechenland besitzt noch keine regelmäßigen Dampfschiff- verbindungen mit allen, selbst nicht mit allen größeren Jnseln des Archi- pelagus. Der ganze Handelsstand, Kaufleute und Schiffseigner, Kapitäne, Fischer, Krämer und Maulthiertreiber mit einbegriffen, beträgt nur8 1 / 2 Prozent von der Bevölkerung des Königreichs, während die Ackerbau trei- benden Stände, einschließlich der Gutsbesitzer, Pächter und Schafhirten, über die Hälfte der Bevölkerung ausmachen. ( Schluß folgt. ) Der Dilettantismus auf der Kirmes. Humoristische Skizze von E. L. An der östlichen Grenze des durch sein musikalisches Leben genugsam bekannten thüringischen Hügellandes, eine gute Stunde von der Kreisstadt Z., liegt das Dorf Taubenfeld. Dort war mein Schulfreund Hilarius Fugenberger Kantor geworden, und dieser verfehlte nicht, nachdem er in Erfahrung gebracht, daß ich in Z. sei, mich, so oft er zur Stadt kam, was gewöhnlich jeden Sonnabend geschah, zu besuchen und regelmäßig zur näch- sten Kirmes einzuladen. Am letzten Mittwoch hatte mir die „Schnellpost“, eine von Z. nach Taubenfeld gehende Gemüsefrau, sogar eine briefliche Einladung gebracht, in welcher mir Fugenberger gleichzeitig ankündigte, daß er bei der Kirchenmusik „stark auf mich rechne“. Denn diesmal, so hieß es in dem Briefe, solle ein „pompöses Stück“ aufgeführt werden, und ich wäre „besonders dabei nöthig“. Die Briefstelle, so dunkel mir ihr Jnhalt sonst auch war, hatte doch meinen Dilettanten=Ehrgeiz lebhaft angeregt. Jch beschloß sofort nach Taubenfeld zu gehen, gedachte mich mit Lorbeern zu bedecken, und sah mich im Geist schon als bewunderten und gefeierten Künstler. Es wäre mir freilich lieber gewesen, wenn Fugenberger mir das „pompöse Stück“ oder wo möglich gleich die Noten dazu mitgeschickt hätte. Denn zuweilen wurde mir doch um meinen zu erwerbenden Künstlerruhm bange; es überkam mich, je näher die Kirmes heranrückte, ein gewisses Bühnenfieber. Dabei fiel mir immer ein, daß der Musikdirektor H. einmal nach einem Konzert, das ich ihm allein auf meinem Zimmer gab, zu mir gesagt hatte: „Lieber L., ich finde, daß Sie da ganz gut eine Neben- einnahme haben können. Verlangen Sie von der Anstalts=Direktion das Honorar für den Kammerjäger; denn die besten Schlingen, die schärfsten Gifte können gegen Ratten und Mäuse nicht wirksamer sein, als Jhre musikalischen Studien.“ Doch zur Kirchenmusik. Jch wollte schon am Sonnabend nach Taubenfeld gehen, um mich mit meiner Ausgabe näher bekannt zu machen und wenigstens einer General- probe beizuwohnen; allein eine amtliche Funktion hinderte mich daran, und so konnte ich erst am Sonntag Morgen aufbrechen. Ungefähr eine halbe Stunde vor Beginn des Gottesdienstes kam ich dort an und fand die ganze Kapelle schon im Schulhause versammelt. Mein Freund empfing mich mit offenen Armen und offerirte mir sofort von den Reichthümern der Kirmes- tafel Cigarren, Bier und Kuchen. Doch nahm ich nichts an und forderte vor allen Dingen meine Stimme. „Jst kinderleicht, kinderleicht“, antwortete mein Freund. „Aber ich muß doch erst —“ „Ach was! Wirst schon sehen. Fürs Erste giebt es dringendere Dinge zu ordnen, Landsmann. Kannst Du die Pauken schlagen?“ „Jch? Jch die Pauken? Soll ich denn nicht die Violine spielen?“ „Ei gewiß! Aber im Choral brauchen wir die Pauken, und unsere Pauke hat uns verschmähter Liebe wegen im Stich gelassen.“ „Der Gottvergessene!“ schrie das Waldhorn. „Sollte sich schön ins Fäustchen lachen, wenn wir die Pauken weglassen müßten!“ „Er sollte sich was schämen“, äußerte der Baß; „habe als junger Kerl manche Dirne lieb gehabt, und manche ist mir weggefischt worden, und 's ist mir manchmal in die Krone gefahren, und die Liebe hat mir schwer wie Knödel im Magen gelegen; aber am Gottesdienst und an der Kirchen- musik habe ich meinen Aerger nie ausgelassen. Sollte sich was schämen!“ „Aber, Kinder, was ist denn los?“ fragte ich, als ich die Aufregung in der Kapelle bemerkte. „Jh, ih“, begann die lange Flöte, ein Maurerpolier in den fünfziger Jahren, hoch aufgeschossen und mit dünnen blassen Backen, „ih, ih, 's ist wegen der Kunst, Herrchen! Jch habe das Musikchor hier im Dorf und spiele immer, wo was los ist. Da ist nun der Zahn=Gottlob, ein Stellmacher —“ „Pfui! Sollte sich was schämen! Sollte sich was schämen!“ eiferte der Baß dazwischen. „Der Zahn=Gottlob“, nahm Ersterer seine Rede wieder auf, „wollte meine Christel haben, aber sie mochte ihn nicht und ich hatte sie auch schon dem Müller=Carl, meiner Trompete da, versprochen; zur Klein=Kirmes soll die Hochzeit gefeiert werden. Darum hat der Zahn nun den Bittern auf mich und spielt mir heut den Schabernack, weil er wohl weiß, daß er die einzige Kesselpauke im Dorf ist; 's ist wegen der Kunst, Herrchen.“ Die Trompete war bei ihrer Erwähnung bis hinter die Ohren erröthet; jetzt fühlte sie, daß sie ihre Verlegenheit durch eine Rede verwischen könne, und sprach die geflügelten Worte: „Der dumme Kerl! Was kann ich denn dafür, daß er einen Raff- zahn hat?“ Die zweite Geige, die Posaune und die Klarinette betheiligten sich nur stumm an der Debatte, nur dann und wann begleiteten sie die Auseinander- setzungen ihrer Kollegen mit obligatem Kopfnicken, unaussprechlichen Seuf- zern und abgebrochenen Ausrufen der Verwünschung und des Abscheu's. „Bruder“, sagte der Kantor zu mir, indem er mir herzhaft auf die Schulter klopfte, „es hilft nichts, Du mußt die Pauke schlagen. Unser Kapellmeister hat eine große Trommelpauke —“ „Jh, ih; aber der Schlägel fehlt mir.“ „Schadet nichts; da lassen wir uns von meiner Frau den Zuckerhammer geben, und dann hau nur tüchtig drauf los; besonders strenge Dich bei der Fermate an, daß Du den Wirbel ordentlich zur Geltung bringst; denn der hebt die ganze Kirchenmusik“, wandte sich mein Freund an mich. „Jh, ih; aber von wegen dem Zuckerhammer, das ist nichts, Herr Kantor, der ist zu hart.“ „Ja freilich ist der zu hart“, bestätigte ich; „was ist da zu thun?“

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Zitationshilfe: Sonntags-Blatt. Nr. 11. Berlin, 15. März 1868, S. 85. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_sonntagsblatt11_1868/5>, abgerufen am 18.06.2024.