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Sonntags-Blatt. Nr. 11. Berlin, 15. März 1868.

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[Beginn Spaltensatz]

"Dummes Zeug! Wird schon gehn!" entgegnete der Kantor. "Geh zu
meiner Frau und laß Dir ein Paar Strümpfe geben, das wird ein vor-
treffliches Polster sein."

Jch wollte etwas erwidern, denn die mir zugeschobene Rolle schien mir
durch Zuckerhammer und Frauenstrümpfe nur noch demüthigender, ja, die ganze
Kirchenmusik schien mir entweiht zu werden. Aber es blieb mir keine Zeit.
Bim baum, bim baum, baum -- ging's vom Thurm, und die Kapelle schickte
sich zum Kirchgang an. Der Kantor war ihr schon vorausgesprungen.

"Meine Stimme, meine Stimme!" schrie ich ihm noch nach.

"Schon in der Kirche und kinderleicht, kinderleicht!" und fort war er.

Es blieb mir nun nichts übrig, als nach dem Rath des praktischen
Mannes zu handeln. Jch ließ mir darum von der Frau Kantorin den
Zuckerhammer geben, der den Kindern als Spielzeug gedient hatte und erst
nach langem Suchen unter dem Bett vorgefunden wurde; auch empfing ich
ein Paar blaue wollene Strümpfe, die ich dem Zuckerhammer anzog, und
dann ergriff ich meinen Hut und eilte zur Kirche.

Das Hauptlied war ziemlich beendet, und ich hatte nur noch Zeit, mir
während der Predigt meine Stimme anzusehen. Es war eine kleine Motette
von einem Komponisten, dessen Name mir im Augenblick nicht mehr gegen-
wärtig ist, und die allerdings nicht schwer zu sein schien. Als ich das
erste Blatt herumschlug, sah ich, daß die Hälfte des zweiten Blattes ab-
gerissen war und fehlte.

Jch sagte:

"Du, Fugenberger, hier fehlt ja ein Stück! Hast Du denn das noch
nicht gesehen?"

"Ja doch, ja!" antwortete er; "aber ich kann es nirgend finden."

"Nun, was soll da werden?"

"Ach, des Stückchens wegen mach' nur keine Umstände; das kannst Du
ja phantasiren!"

"Aber wie soll ich denn --"

"Amen!" sagte in dem Augenblick der Pastor auf der Kanzel. Die
ganze Gemeinde athmete tief, räusperte sich und hustete die üblichen
Paar Takte. Dann wandten sich Aller Augen dem Orgelchor zu. Der Kantor
hatte ein Blatt Papier zu einer Rolle zusammengedreht und schwang es
als Taktirstock dreimal in der Luft.

"Vier!" zählte er laut, und mit äußerster Präzision setzte die Kapelle
ein. Jch strich die erste Geige bis zu dem verhängnißvollen Prestissimo
auf der dritten Seite, das sich mir unter den Fingern in eine große un-
freiwillige Generalpause auflöste. Nach ein Paar Takten jedoch resolvirte
ich mich und suchte die zweite Geige zu unterstützen. Denn es war klar,
auf ein Jnstrument konnte es unserer Kirchenmusik nicht ankommen. Das
Gewirr der Prestissimo=Sechszehntel und Zweiunddreißigstel war indeß in
allen Stimmen bald so aufregend, daß mir die Noten vor den Augen ver-
schwanden und meine Jmprovisationen sich als originelle, wenn auch ge-
wagte Tonpassagen in das Ganze ohne Scham und Erröthen mit einfügten.
Als die Fuge kam, wiederholte sich das wüste Durcheinander; aber beim
Schluß=Andante ward dafür gewissenhaft und treu jede vorgeschriebene
Note gespielt.

Ein mir bekannter homöopathischer Arzt aus Z., der im Schiff der
Kirche zugehört hatte, sagte zu mir später:

"Hören Sie, als es heut bei Jhnen da oben am wildesten herging, als
[Spaltenumbruch] man nicht mehr wußte, was gehauen oder gestochen war, da klopfte ein
neben mir stehender Bauer mir auf die Schulter und flüsterte mir mit
andächtig verklärtem Antlitz zu: Das ist eine Fuge! "

Der Gesang war, so viel ich davon hören konnte, noch leidlich zu
nennen. Sopran und Alt ward von den Kindern gesungen, den Tenor
hatte der Kantor selbst übernommen, und im Baß wirkte aufs kräftigste
ein dicker, vierschrötiger Bauer.

An unsere große Motette fügte sich ein kurzes Orgelpräludium; darauf
sollte der Choral "Nun danket Alle Gott" folgen.

Der Maurer=Kapellmeister wandte sich um zur Orgelbank und flüsterte
dem Kantor zu:

"Jh, ih, Herr Kantor, nun müssen Sie aber transponiren und in
" fis " spielen, denn die Orgel steht einen halben Ton höher als unsere
Jnstrumente."

"Was? Transponiren?" antwortete der Kantor. "Jch spiele, wie's auf
dem Papier steht. Du, Landsmann!" rief er mir zu. "Komm, orgele Du,
und laß mich pauken; das Transponiren ist meine Sache nicht."

"Ach, meine erst recht nicht!" erwiderte ich, und mit dem bestrumpften
Zuckerhammer bewaffnet, begab ich mich auf meinen Posten zur Pauke.

Meinem Freunde mochte in der That nicht wohl auf der Orgelbank
sein; ich sah große Schweißtropfen von seiner Stirn auf die Tasten der
Orgel fallen. Endlich aber, mit ausgeprägter Entschlossenheit im Antlitz,
machte er einen ziemlich unvorbereiteten Schluß.

Jm Augenblick setzte die Musik ein; die Gemeinde begann. Da that
auch der Kantor einen kühnen Griff und spielte -- o weh! -- richtig wie
es auf dem Papier stand, einen halben Ton höher als die Dorfkapelle.

" Fis, fis, fis!" schrie der Maurer=Kapellmeister.

"Ach, kommen Sie mir nicht", entgegnete unwirsch der Kantor, "wer
Herr wird, wird Herr!" Und dabei zog er alle Register und ließ sich
durch nichts mehr beirren.

Mir ward bei diesen Dissonanzen ganz wunderlich zu Muth; es war
mir, als träumte ich, bis ich mich besann, daß auch ich eine Rolle im
Konzert hatte, und mit Verzweiflung, ja mit wahrer Todesverachtung schwang
ich den Zuckerhammer und mischte die mächtigen Donner des Zeus in die
wunderlichen Klänge der irdischen Kirchenmusik. Meine Fermaten aber
verstand ich, laut Anweisung, besonders effektvoll auszubilden, daß sie sich
den zürnenden Gewittern der Alpen würdig zur Seite stellen konnten.
Und bei der Schluß=Fermate des letzten Verses gar steigerte sich die Be-
geisterung so sehr, daß mein wahrlich übergeduldiges Trommelfell nicht
länger widerstehen konnte -- es gab seinen Geist auf.

Strahlenden Antlitzes sprang mein Freund von der Orgelbank und
schüttelte mir die Hand. Fast hätte er mich in der Kirche geküßt.

"Alles glücklich zu Ende gebracht!" flüsterte er beseligt.

Am Nachmittag wurde ich von mehreren Bauern zu Gaste geladen und
mußte da mit Erstaunen, aber tiefer Beschämung allerdings, mein Lob und
meine Bewunderung in allen Tonarten variirt anhören. Jm Gasthof
wiederholte sich dasselbe. Freund Fugenberger, dem gleichfalls ziemlich
freigebig Lorbeern gespendet wurden, strich dieselben ruhig ein.

Mir aber wollte es auf der Taubenfelder Kirmes doch nicht mehr recht
wohl werden. Jch machte mich daher so zeitig als möglich auf den
Rückweg.

[Ende Spaltensatz]

Wissenschaft, Kunst und Literatur.
[Beginn Spaltensatz]
Ueber Geheimmittel.
( Fortsetzung. )

Hätten endlich die Geheimmittel die von deren Entdecker gerühmte
Zauber= und Wunderkraft, so müßte es doch auffallen, daß der
Staat einen großen Theil der Lehrer der Arzneikunde nicht pen-
sionirt, sondern immer neue anstellt; er könnte deren Gehalt doch
wohl zu besseren Zwecken verwenden. Lächerlich und thöricht wäre es
ja, noch Kranke zu untersuchen, Diagnosen und; Prognosen zu stellen;
denn vor dem Universalmittel ist Krebs, Schwindsucht, Cholera u. s. w.
ja völlig gleich und sicher zu heilen. Nicht minder thöricht und ein-
fältig wäre es, daß Jünglinge, welche sich der ärztlichen Laufbahn
widmen wollen, noch immer die Hochschule beziehen; sie würden viel
Geld und Zeit ersparen, wenn sie, zumal da man raisonnirt, zum Be-
handeln von Krankheiten sei kein umfassendes und gründliches Wissen
erforderlich, zu einem Universal=Jndustrieritter in die Lehre gingen,
bei dem sie in gar kurzer Zeit die Kunst, welche auf den Universitäten
doch nicht gelehrt werden kann, erlernen können, nämlich: unfehlbare
und untrügliche Mittel zu fabriziren aus in ihren Wirkungen längst
bekannten und den Aerzten geläufigen Mitteln. Auf die so eben an-
geführte Weise machte der früher schon erwähnte Hofrath Dr. Brinck-
meier seine medizinischen Studien. Er stand, nachdem er mit seinem
Lokalblatt Fiasko gemacht hatte, als Annoncenfabrikant im Dienst des
gleichfalls schon erwähnten Buchhändlers und Geheimmittelkrämers
Fr. Müller, in dessen Arbeitszimmer er die Anzeigen für die Müller-
schen Mittel schrieb. Allein als sein Brotherr eines Tages beim Ver-
lassen des Arbeitszimmers die Unbesonnenheit beging, die Schublade,
in welcher sich das Original=Rezept zu seinen Kräutern befand, offen
stehen zu lassen, schrieb der Handlanger dasselbe ab, und mit dem
[Spaltenumbruch] Moment, wo er im Besitz der Abschrift war, hörte die Lehrzeit und
das bisherige freundschaftliche Verhältniß auf. Sofort wurde er
Müllers ärgster Konkurrent, machte ihm überall den Rang streitig,
und sein Stern strahlte als ein hellglänzendes Meteor in weiter Ferne
auf dem Markt der Geheimmittel=Jndustrie. Es hat zu allen Zeiten
Pfuscher gegeben; allein das aufgeklärte neunzehnte Jahrhundert hat
in der Pfuscherei den finstersten Zeiten des Mittelalters den Rang streitig
gemacht.

Es hält in der That schwer, zu glauben, daß im Allgemeinen die
große Mehrzahl von Freibriefen über den guten Erfolg von Geheim-
mitteln von feilen Miethlingen im Dienst von Jndustrierittern her-
rühren. Und doch hatte schon ein medizinischer Schriftsteller am Ende
des vorigen Jahrhunderts Veranlassung, zu bemerken: "Ein schänd-
licher Mißbrauch ist die Gewohnheit, sich falsche Atteste zu Ankün-
digungen von Arzneimitteln zu erhandeln. Noch schädlichere Wirkung
hat es, wiewohl die Absicht nicht so schlimm ist, wenn Personen von
vornehmem Stande, wie jetzt oft zu geschehen pflegt, obschon sie nicht
im Stande sind, Krankheiten zu unterscheiden und die Wirksamkeit
von Medikamenten zu beurtheilen, dennoch Quacksalbern erlauben,
von ihrem Namen in Attesten Gebrauch zu machen, von denen sie
Augenzeugen gewesen zu sein glauben. Aber die Nachwelt wird ge-
wiß viele Thatsachen an das Licht bringen, welche man in Betreff der
Wirkungen und Kräfte der Medikamente, entweder geradezu erdichtet
oder aus Uebereilung für wahr gehalten und ausgegeben hat."*)
Diese Worte des berühmten Engländers haben sich glänzend be-
wahrheitet.

Jch sagte, die große Mehrzahl von Bescheinigungen über die gün-
[Ende Spaltensatz]

*) Cullens Mater. Bd. I. 153. Browns System der Heilkunde
von Pfaff.
[Beginn Spaltensatz]

„Dummes Zeug! Wird schon gehn!“ entgegnete der Kantor. „Geh zu
meiner Frau und laß Dir ein Paar Strümpfe geben, das wird ein vor-
treffliches Polster sein.“

Jch wollte etwas erwidern, denn die mir zugeschobene Rolle schien mir
durch Zuckerhammer und Frauenstrümpfe nur noch demüthigender, ja, die ganze
Kirchenmusik schien mir entweiht zu werden. Aber es blieb mir keine Zeit.
Bim baum, bim baum, baum — ging's vom Thurm, und die Kapelle schickte
sich zum Kirchgang an. Der Kantor war ihr schon vorausgesprungen.

„Meine Stimme, meine Stimme!“ schrie ich ihm noch nach.

„Schon in der Kirche und kinderleicht, kinderleicht!“ und fort war er.

Es blieb mir nun nichts übrig, als nach dem Rath des praktischen
Mannes zu handeln. Jch ließ mir darum von der Frau Kantorin den
Zuckerhammer geben, der den Kindern als Spielzeug gedient hatte und erst
nach langem Suchen unter dem Bett vorgefunden wurde; auch empfing ich
ein Paar blaue wollene Strümpfe, die ich dem Zuckerhammer anzog, und
dann ergriff ich meinen Hut und eilte zur Kirche.

Das Hauptlied war ziemlich beendet, und ich hatte nur noch Zeit, mir
während der Predigt meine Stimme anzusehen. Es war eine kleine Motette
von einem Komponisten, dessen Name mir im Augenblick nicht mehr gegen-
wärtig ist, und die allerdings nicht schwer zu sein schien. Als ich das
erste Blatt herumschlug, sah ich, daß die Hälfte des zweiten Blattes ab-
gerissen war und fehlte.

Jch sagte:

„Du, Fugenberger, hier fehlt ja ein Stück! Hast Du denn das noch
nicht gesehen?“

„Ja doch, ja!“ antwortete er; „aber ich kann es nirgend finden.“

„Nun, was soll da werden?“

„Ach, des Stückchens wegen mach' nur keine Umstände; das kannst Du
ja phantasiren!“

„Aber wie soll ich denn —“

„Amen!“ sagte in dem Augenblick der Pastor auf der Kanzel. Die
ganze Gemeinde athmete tief, räusperte sich und hustete die üblichen
Paar Takte. Dann wandten sich Aller Augen dem Orgelchor zu. Der Kantor
hatte ein Blatt Papier zu einer Rolle zusammengedreht und schwang es
als Taktirstock dreimal in der Luft.

„Vier!“ zählte er laut, und mit äußerster Präzision setzte die Kapelle
ein. Jch strich die erste Geige bis zu dem verhängnißvollen Prestissimo
auf der dritten Seite, das sich mir unter den Fingern in eine große un-
freiwillige Generalpause auflöste. Nach ein Paar Takten jedoch resolvirte
ich mich und suchte die zweite Geige zu unterstützen. Denn es war klar,
auf ein Jnstrument konnte es unserer Kirchenmusik nicht ankommen. Das
Gewirr der Prestissimo=Sechszehntel und Zweiunddreißigstel war indeß in
allen Stimmen bald so aufregend, daß mir die Noten vor den Augen ver-
schwanden und meine Jmprovisationen sich als originelle, wenn auch ge-
wagte Tonpassagen in das Ganze ohne Scham und Erröthen mit einfügten.
Als die Fuge kam, wiederholte sich das wüste Durcheinander; aber beim
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Note gespielt.

Ein mir bekannter homöopathischer Arzt aus Z., der im Schiff der
Kirche zugehört hatte, sagte zu mir später:

„Hören Sie, als es heut bei Jhnen da oben am wildesten herging, als
[Spaltenumbruch] man nicht mehr wußte, was gehauen oder gestochen war, da klopfte ein
neben mir stehender Bauer mir auf die Schulter und flüsterte mir mit
andächtig verklärtem Antlitz zu: Das ist eine Fuge!

Der Gesang war, so viel ich davon hören konnte, noch leidlich zu
nennen. Sopran und Alt ward von den Kindern gesungen, den Tenor
hatte der Kantor selbst übernommen, und im Baß wirkte aufs kräftigste
ein dicker, vierschrötiger Bauer.

An unsere große Motette fügte sich ein kurzes Orgelpräludium; darauf
sollte der Choral „Nun danket Alle Gott“ folgen.

Der Maurer=Kapellmeister wandte sich um zur Orgelbank und flüsterte
dem Kantor zu:

„Jh, ih, Herr Kantor, nun müssen Sie aber transponiren und in
fis “ spielen, denn die Orgel steht einen halben Ton höher als unsere
Jnstrumente.“

„Was? Transponiren?“ antwortete der Kantor. „Jch spiele, wie's auf
dem Papier steht. Du, Landsmann!“ rief er mir zu. „Komm, orgele Du,
und laß mich pauken; das Transponiren ist meine Sache nicht.“

„Ach, meine erst recht nicht!“ erwiderte ich, und mit dem bestrumpften
Zuckerhammer bewaffnet, begab ich mich auf meinen Posten zur Pauke.

Meinem Freunde mochte in der That nicht wohl auf der Orgelbank
sein; ich sah große Schweißtropfen von seiner Stirn auf die Tasten der
Orgel fallen. Endlich aber, mit ausgeprägter Entschlossenheit im Antlitz,
machte er einen ziemlich unvorbereiteten Schluß.

Jm Augenblick setzte die Musik ein; die Gemeinde begann. Da that
auch der Kantor einen kühnen Griff und spielte — o weh! — richtig wie
es auf dem Papier stand, einen halben Ton höher als die Dorfkapelle.

Fis, fis, fis!“ schrie der Maurer=Kapellmeister.

„Ach, kommen Sie mir nicht“, entgegnete unwirsch der Kantor, „wer
Herr wird, wird Herr!“ Und dabei zog er alle Register und ließ sich
durch nichts mehr beirren.

Mir ward bei diesen Dissonanzen ganz wunderlich zu Muth; es war
mir, als träumte ich, bis ich mich besann, daß auch ich eine Rolle im
Konzert hatte, und mit Verzweiflung, ja mit wahrer Todesverachtung schwang
ich den Zuckerhammer und mischte die mächtigen Donner des Zeus in die
wunderlichen Klänge der irdischen Kirchenmusik. Meine Fermaten aber
verstand ich, laut Anweisung, besonders effektvoll auszubilden, daß sie sich
den zürnenden Gewittern der Alpen würdig zur Seite stellen konnten.
Und bei der Schluß=Fermate des letzten Verses gar steigerte sich die Be-
geisterung so sehr, daß mein wahrlich übergeduldiges Trommelfell nicht
länger widerstehen konnte — es gab seinen Geist auf.

Strahlenden Antlitzes sprang mein Freund von der Orgelbank und
schüttelte mir die Hand. Fast hätte er mich in der Kirche geküßt.

„Alles glücklich zu Ende gebracht!“ flüsterte er beseligt.

Am Nachmittag wurde ich von mehreren Bauern zu Gaste geladen und
mußte da mit Erstaunen, aber tiefer Beschämung allerdings, mein Lob und
meine Bewunderung in allen Tonarten variirt anhören. Jm Gasthof
wiederholte sich dasselbe. Freund Fugenberger, dem gleichfalls ziemlich
freigebig Lorbeern gespendet wurden, strich dieselben ruhig ein.

Mir aber wollte es auf der Taubenfelder Kirmes doch nicht mehr recht
wohl werden. Jch machte mich daher so zeitig als möglich auf den
Rückweg.

[Ende Spaltensatz]

Wissenschaft, Kunst und Literatur.
[Beginn Spaltensatz]
Ueber Geheimmittel.
( Fortsetzung. )

Hätten endlich die Geheimmittel die von deren Entdecker gerühmte
Zauber= und Wunderkraft, so müßte es doch auffallen, daß der
Staat einen großen Theil der Lehrer der Arzneikunde nicht pen-
sionirt, sondern immer neue anstellt; er könnte deren Gehalt doch
wohl zu besseren Zwecken verwenden. Lächerlich und thöricht wäre es
ja, noch Kranke zu untersuchen, Diagnosen und; Prognosen zu stellen;
denn vor dem Universalmittel ist Krebs, Schwindsucht, Cholera u. s. w.
ja völlig gleich und sicher zu heilen. Nicht minder thöricht und ein-
fältig wäre es, daß Jünglinge, welche sich der ärztlichen Laufbahn
widmen wollen, noch immer die Hochschule beziehen; sie würden viel
Geld und Zeit ersparen, wenn sie, zumal da man raisonnirt, zum Be-
handeln von Krankheiten sei kein umfassendes und gründliches Wissen
erforderlich, zu einem Universal=Jndustrieritter in die Lehre gingen,
bei dem sie in gar kurzer Zeit die Kunst, welche auf den Universitäten
doch nicht gelehrt werden kann, erlernen können, nämlich: unfehlbare
und untrügliche Mittel zu fabriziren aus in ihren Wirkungen längst
bekannten und den Aerzten geläufigen Mitteln. Auf die so eben an-
geführte Weise machte der früher schon erwähnte Hofrath Dr. Brinck-
meier seine medizinischen Studien. Er stand, nachdem er mit seinem
Lokalblatt Fiasko gemacht hatte, als Annoncenfabrikant im Dienst des
gleichfalls schon erwähnten Buchhändlers und Geheimmittelkrämers
Fr. Müller, in dessen Arbeitszimmer er die Anzeigen für die Müller-
schen Mittel schrieb. Allein als sein Brotherr eines Tages beim Ver-
lassen des Arbeitszimmers die Unbesonnenheit beging, die Schublade,
in welcher sich das Original=Rezept zu seinen Kräutern befand, offen
stehen zu lassen, schrieb der Handlanger dasselbe ab, und mit dem
[Spaltenumbruch] Moment, wo er im Besitz der Abschrift war, hörte die Lehrzeit und
das bisherige freundschaftliche Verhältniß auf. Sofort wurde er
Müllers ärgster Konkurrent, machte ihm überall den Rang streitig,
und sein Stern strahlte als ein hellglänzendes Meteor in weiter Ferne
auf dem Markt der Geheimmittel=Jndustrie. Es hat zu allen Zeiten
Pfuscher gegeben; allein das aufgeklärte neunzehnte Jahrhundert hat
in der Pfuscherei den finstersten Zeiten des Mittelalters den Rang streitig
gemacht.

Es hält in der That schwer, zu glauben, daß im Allgemeinen die
große Mehrzahl von Freibriefen über den guten Erfolg von Geheim-
mitteln von feilen Miethlingen im Dienst von Jndustrierittern her-
rühren. Und doch hatte schon ein medizinischer Schriftsteller am Ende
des vorigen Jahrhunderts Veranlassung, zu bemerken: „Ein schänd-
licher Mißbrauch ist die Gewohnheit, sich falsche Atteste zu Ankün-
digungen von Arzneimitteln zu erhandeln. Noch schädlichere Wirkung
hat es, wiewohl die Absicht nicht so schlimm ist, wenn Personen von
vornehmem Stande, wie jetzt oft zu geschehen pflegt, obschon sie nicht
im Stande sind, Krankheiten zu unterscheiden und die Wirksamkeit
von Medikamenten zu beurtheilen, dennoch Quacksalbern erlauben,
von ihrem Namen in Attesten Gebrauch zu machen, von denen sie
Augenzeugen gewesen zu sein glauben. Aber die Nachwelt wird ge-
wiß viele Thatsachen an das Licht bringen, welche man in Betreff der
Wirkungen und Kräfte der Medikamente, entweder geradezu erdichtet
oder aus Uebereilung für wahr gehalten und ausgegeben hat.“*)
Diese Worte des berühmten Engländers haben sich glänzend be-
wahrheitet.

Jch sagte, die große Mehrzahl von Bescheinigungen über die gün-
[Ende Spaltensatz]

*) Cullens Mater. Bd. I. 153. Browns System der Heilkunde
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( Fortsetzung. )<note type="editorial">Ausgabe 10, die (vermutlich) den unmittelbar vorangegangenen Teil des Artikels enthält, fehlt. <ref target="nn_sonntangsblatt09_1868#Mittel2">Ausgabe 9</ref>, in der ein weiterer vorangegangener Teil des Artikels enthalten ist, ist vorhanden.</note></head><lb/>
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[86/0006] 86 „Dummes Zeug! Wird schon gehn!“ entgegnete der Kantor. „Geh zu meiner Frau und laß Dir ein Paar Strümpfe geben, das wird ein vor- treffliches Polster sein.“ Jch wollte etwas erwidern, denn die mir zugeschobene Rolle schien mir durch Zuckerhammer und Frauenstrümpfe nur noch demüthigender, ja, die ganze Kirchenmusik schien mir entweiht zu werden. Aber es blieb mir keine Zeit. Bim baum, bim baum, baum — ging's vom Thurm, und die Kapelle schickte sich zum Kirchgang an. Der Kantor war ihr schon vorausgesprungen. „Meine Stimme, meine Stimme!“ schrie ich ihm noch nach. „Schon in der Kirche und kinderleicht, kinderleicht!“ und fort war er. Es blieb mir nun nichts übrig, als nach dem Rath des praktischen Mannes zu handeln. Jch ließ mir darum von der Frau Kantorin den Zuckerhammer geben, der den Kindern als Spielzeug gedient hatte und erst nach langem Suchen unter dem Bett vorgefunden wurde; auch empfing ich ein Paar blaue wollene Strümpfe, die ich dem Zuckerhammer anzog, und dann ergriff ich meinen Hut und eilte zur Kirche. Das Hauptlied war ziemlich beendet, und ich hatte nur noch Zeit, mir während der Predigt meine Stimme anzusehen. Es war eine kleine Motette von einem Komponisten, dessen Name mir im Augenblick nicht mehr gegen- wärtig ist, und die allerdings nicht schwer zu sein schien. Als ich das erste Blatt herumschlug, sah ich, daß die Hälfte des zweiten Blattes ab- gerissen war und fehlte. Jch sagte: „Du, Fugenberger, hier fehlt ja ein Stück! Hast Du denn das noch nicht gesehen?“ „Ja doch, ja!“ antwortete er; „aber ich kann es nirgend finden.“ „Nun, was soll da werden?“ „Ach, des Stückchens wegen mach' nur keine Umstände; das kannst Du ja phantasiren!“ „Aber wie soll ich denn —“ „Amen!“ sagte in dem Augenblick der Pastor auf der Kanzel. Die ganze Gemeinde athmete tief, räusperte sich und hustete die üblichen Paar Takte. Dann wandten sich Aller Augen dem Orgelchor zu. Der Kantor hatte ein Blatt Papier zu einer Rolle zusammengedreht und schwang es als Taktirstock dreimal in der Luft. „Vier!“ zählte er laut, und mit äußerster Präzision setzte die Kapelle ein. Jch strich die erste Geige bis zu dem verhängnißvollen Prestissimo auf der dritten Seite, das sich mir unter den Fingern in eine große un- freiwillige Generalpause auflöste. Nach ein Paar Takten jedoch resolvirte ich mich und suchte die zweite Geige zu unterstützen. Denn es war klar, auf ein Jnstrument konnte es unserer Kirchenmusik nicht ankommen. Das Gewirr der Prestissimo=Sechszehntel und Zweiunddreißigstel war indeß in allen Stimmen bald so aufregend, daß mir die Noten vor den Augen ver- schwanden und meine Jmprovisationen sich als originelle, wenn auch ge- wagte Tonpassagen in das Ganze ohne Scham und Erröthen mit einfügten. Als die Fuge kam, wiederholte sich das wüste Durcheinander; aber beim Schluß=Andante ward dafür gewissenhaft und treu jede vorgeschriebene Note gespielt. Ein mir bekannter homöopathischer Arzt aus Z., der im Schiff der Kirche zugehört hatte, sagte zu mir später: „Hören Sie, als es heut bei Jhnen da oben am wildesten herging, als man nicht mehr wußte, was gehauen oder gestochen war, da klopfte ein neben mir stehender Bauer mir auf die Schulter und flüsterte mir mit andächtig verklärtem Antlitz zu: Das ist eine Fuge! “ Der Gesang war, so viel ich davon hören konnte, noch leidlich zu nennen. Sopran und Alt ward von den Kindern gesungen, den Tenor hatte der Kantor selbst übernommen, und im Baß wirkte aufs kräftigste ein dicker, vierschrötiger Bauer. An unsere große Motette fügte sich ein kurzes Orgelpräludium; darauf sollte der Choral „Nun danket Alle Gott“ folgen. Der Maurer=Kapellmeister wandte sich um zur Orgelbank und flüsterte dem Kantor zu: „Jh, ih, Herr Kantor, nun müssen Sie aber transponiren und in „ fis “ spielen, denn die Orgel steht einen halben Ton höher als unsere Jnstrumente.“ „Was? Transponiren?“ antwortete der Kantor. „Jch spiele, wie's auf dem Papier steht. Du, Landsmann!“ rief er mir zu. „Komm, orgele Du, und laß mich pauken; das Transponiren ist meine Sache nicht.“ „Ach, meine erst recht nicht!“ erwiderte ich, und mit dem bestrumpften Zuckerhammer bewaffnet, begab ich mich auf meinen Posten zur Pauke. Meinem Freunde mochte in der That nicht wohl auf der Orgelbank sein; ich sah große Schweißtropfen von seiner Stirn auf die Tasten der Orgel fallen. Endlich aber, mit ausgeprägter Entschlossenheit im Antlitz, machte er einen ziemlich unvorbereiteten Schluß. Jm Augenblick setzte die Musik ein; die Gemeinde begann. Da that auch der Kantor einen kühnen Griff und spielte — o weh! — richtig wie es auf dem Papier stand, einen halben Ton höher als die Dorfkapelle. „ Fis, fis, fis!“ schrie der Maurer=Kapellmeister. „Ach, kommen Sie mir nicht“, entgegnete unwirsch der Kantor, „wer Herr wird, wird Herr!“ Und dabei zog er alle Register und ließ sich durch nichts mehr beirren. Mir ward bei diesen Dissonanzen ganz wunderlich zu Muth; es war mir, als träumte ich, bis ich mich besann, daß auch ich eine Rolle im Konzert hatte, und mit Verzweiflung, ja mit wahrer Todesverachtung schwang ich den Zuckerhammer und mischte die mächtigen Donner des Zeus in die wunderlichen Klänge der irdischen Kirchenmusik. Meine Fermaten aber verstand ich, laut Anweisung, besonders effektvoll auszubilden, daß sie sich den zürnenden Gewittern der Alpen würdig zur Seite stellen konnten. Und bei der Schluß=Fermate des letzten Verses gar steigerte sich die Be- geisterung so sehr, daß mein wahrlich übergeduldiges Trommelfell nicht länger widerstehen konnte — es gab seinen Geist auf. Strahlenden Antlitzes sprang mein Freund von der Orgelbank und schüttelte mir die Hand. Fast hätte er mich in der Kirche geküßt. „Alles glücklich zu Ende gebracht!“ flüsterte er beseligt. Am Nachmittag wurde ich von mehreren Bauern zu Gaste geladen und mußte da mit Erstaunen, aber tiefer Beschämung allerdings, mein Lob und meine Bewunderung in allen Tonarten variirt anhören. Jm Gasthof wiederholte sich dasselbe. Freund Fugenberger, dem gleichfalls ziemlich freigebig Lorbeern gespendet wurden, strich dieselben ruhig ein. Mir aber wollte es auf der Taubenfelder Kirmes doch nicht mehr recht wohl werden. Jch machte mich daher so zeitig als möglich auf den Rückweg. Wissenschaft, Kunst und Literatur. Ueber Geheimmittel. ( Fortsetzung. ) Hätten endlich die Geheimmittel die von deren Entdecker gerühmte Zauber= und Wunderkraft, so müßte es doch auffallen, daß der Staat einen großen Theil der Lehrer der Arzneikunde nicht pen- sionirt, sondern immer neue anstellt; er könnte deren Gehalt doch wohl zu besseren Zwecken verwenden. Lächerlich und thöricht wäre es ja, noch Kranke zu untersuchen, Diagnosen und; Prognosen zu stellen; denn vor dem Universalmittel ist Krebs, Schwindsucht, Cholera u. s. w. ja völlig gleich und sicher zu heilen. Nicht minder thöricht und ein- fältig wäre es, daß Jünglinge, welche sich der ärztlichen Laufbahn widmen wollen, noch immer die Hochschule beziehen; sie würden viel Geld und Zeit ersparen, wenn sie, zumal da man raisonnirt, zum Be- handeln von Krankheiten sei kein umfassendes und gründliches Wissen erforderlich, zu einem Universal=Jndustrieritter in die Lehre gingen, bei dem sie in gar kurzer Zeit die Kunst, welche auf den Universitäten doch nicht gelehrt werden kann, erlernen können, nämlich: unfehlbare und untrügliche Mittel zu fabriziren aus in ihren Wirkungen längst bekannten und den Aerzten geläufigen Mitteln. Auf die so eben an- geführte Weise machte der früher schon erwähnte Hofrath Dr. Brinck- meier seine medizinischen Studien. Er stand, nachdem er mit seinem Lokalblatt Fiasko gemacht hatte, als Annoncenfabrikant im Dienst des gleichfalls schon erwähnten Buchhändlers und Geheimmittelkrämers Fr. Müller, in dessen Arbeitszimmer er die Anzeigen für die Müller- schen Mittel schrieb. Allein als sein Brotherr eines Tages beim Ver- lassen des Arbeitszimmers die Unbesonnenheit beging, die Schublade, in welcher sich das Original=Rezept zu seinen Kräutern befand, offen stehen zu lassen, schrieb der Handlanger dasselbe ab, und mit dem Moment, wo er im Besitz der Abschrift war, hörte die Lehrzeit und das bisherige freundschaftliche Verhältniß auf. Sofort wurde er Müllers ärgster Konkurrent, machte ihm überall den Rang streitig, und sein Stern strahlte als ein hellglänzendes Meteor in weiter Ferne auf dem Markt der Geheimmittel=Jndustrie. Es hat zu allen Zeiten Pfuscher gegeben; allein das aufgeklärte neunzehnte Jahrhundert hat in der Pfuscherei den finstersten Zeiten des Mittelalters den Rang streitig gemacht. Es hält in der That schwer, zu glauben, daß im Allgemeinen die große Mehrzahl von Freibriefen über den guten Erfolg von Geheim- mitteln von feilen Miethlingen im Dienst von Jndustrierittern her- rühren. Und doch hatte schon ein medizinischer Schriftsteller am Ende des vorigen Jahrhunderts Veranlassung, zu bemerken: „Ein schänd- licher Mißbrauch ist die Gewohnheit, sich falsche Atteste zu Ankün- digungen von Arzneimitteln zu erhandeln. Noch schädlichere Wirkung hat es, wiewohl die Absicht nicht so schlimm ist, wenn Personen von vornehmem Stande, wie jetzt oft zu geschehen pflegt, obschon sie nicht im Stande sind, Krankheiten zu unterscheiden und die Wirksamkeit von Medikamenten zu beurtheilen, dennoch Quacksalbern erlauben, von ihrem Namen in Attesten Gebrauch zu machen, von denen sie Augenzeugen gewesen zu sein glauben. Aber die Nachwelt wird ge- wiß viele Thatsachen an das Licht bringen, welche man in Betreff der Wirkungen und Kräfte der Medikamente, entweder geradezu erdichtet oder aus Uebereilung für wahr gehalten und ausgegeben hat.“ *) Diese Worte des berühmten Engländers haben sich glänzend be- wahrheitet. Jch sagte, die große Mehrzahl von Bescheinigungen über die gün- *) Cullens Mater. Bd. I. 153. Browns System der Heilkunde von Pfaff.

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Rahel Hartz: Artikelstrukturierung

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Zitationshilfe: Sonntags-Blatt. Nr. 11. Berlin, 15. März 1868, S. 86. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_sonntagsblatt11_1868/6>, abgerufen am 15.06.2024.