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Sonntags-Blatt. Nr. 32. Berlin, 9. August 1868.

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[Beginn Spaltensatz]

Fonfrede, Gensonn e, Carra, Brissot und Vergniaud sprachen sich
in begeisterter Rede für die Göttlichkeit der menschlichen Vernunft
und die Unsterblichkeit des menschlichen Geistes aus. Fauchet sprach
über den Kreuzestod Christi und verglich ihre Hinrichtung mit der
auf Golgatha. Sillery erklärte sich für den Glauben an Vernunft
und Religion zugleich. "Religion ist nicht Knechtschaft, sondern Be-
freiung!" schloß er.

Noch einmal nahm Vergniaud das Wort.

"Glauben wir, was wir wollen", sagte er; "aber sterben wir in
der Ueberzeugung, in der wir gelebt haben. Wir geben unser Blut
für die Freiheit, und wenn der Mensch sich selbst zum Opfer bringt,
so thut er, was Christus gethan!"

Jn diesem Moment öffnete sich die Thür, und die Gefangnen-
wärter in Begleitung eines Beamten des Tribunals traten herein,
um die Gefangenen, nachdem sie auf den Namensaufruf geantwortet,
in ihre Zellen zurückzuführen.

"Meine Herren, die Sitzung ist aufgehoben!" sagte Vergniaud
lächelnd.

Die Girondisten standen auf und blickten sich einen Moment an.
Dann stürzten sie einander in die Arme. Jede Meinungsverschieden-
heit, jede persönliche Vorliebe oder Antipathie schien in diesem Augen-
blick verschwunden. Der Tod riß die letzten Schranken zwischen ihnen
nieder, er verwischte alle Nuancen der Parteien. Sie hatten die Gleich-
heit so heiß ersehnt und erstrebt -- da war sie!

Selbst Mainvielle's Gelächter verstummte in diesem feierlichen
Augenblick.

"An Jhre Plätze, meine Herren!" rief der Gefängnißvogt. "An
Jhre Plätze. Sagen Sie sich meinetwegen Guten Morgen oder
Gute Nacht, aber halten Sie den Dienst nicht auf."

Die Männer, welche noch vor wenigen Monaten so mächtig ge-
wesen, welche Könige von ihren Thronen gestoßen und alle Jnstitu-
tionen ihres Landes vernichtet hatten, gehorchten dem Befehl des
Kerkermeisters ohne Murren.

Fünf Minuten später weilte nur noch ein Gast im Banquettsaal
der Girondisten -- der Leichnam Valaz e 's.

II.
Der Tod der Girondisten.

Mit Ausnahme Gensonn e 's, dem man ein abgesondertes Gemach
angewiesen, hatte man sämmtliche Girondisten in einen aus mehreren
Abtheilungen bestehenden Raum gebracht, der nach ihnen noch lange
"die Gironde" genannt wurde, bei späteren inneren Umgestaltungen
des Gebäudes indessen verschwunden ist.

Viele von ihnen hatten sich auf ihre Lagerstätten geworfen und
schliefen, Andere unterhielten sich mit leiser Stimme. Duchatel und
Lehardy hatten sich mit den Abb e 's Emery und Lothringer, denen
man Zutritt zu den Gefangenen gestattet, in eine der Abtheilungen
des Raums zurückgezogen. Jn einer andern Ecke hörte Fauchet, der
in den Schooß der Kirche zurückgekehrte Bischof von Calvados, die
Beichte Sillery's. Brissot, obgleich ein gläubiger Christ, hatte, wie
die meisten übrigen Gefangenen, die Tröstungen der Religion zurück-
gewiesen. "Jch glaube, ein Mann, der auf dem Schaffot stirbt, weil
er sich weigerte, das Leben seiner Mitmenschen blutdürstigen Bestien
preiszugeben, bedarf keiner Absolution", hatte er geantwortet. Der
Priester drang nicht weiter in ihn.

Carra entwickelte, auf seinem Lager sitzend, vor zwei oder drei
ziemlich aufmerksamen Zuhörern eine seiner unmöglichen Theorien;
Duprat nahm Abschied von einem alten Diener und trug ihm die
Sorge für seine junge Frau und seine Kinder auf. Seine Verhält-
nisse waren zerrüttet; die Gläubiger hatten sein Vermögen mit Be-
schlag belegt, und er versuchte noch in den letzten Stunden seines
Lebens Maßregeln zu treffen und Hülfsquellen zu entdecken, welche
seine Familie vor Noth und Sorgen schützten.

Mainvielle war auf andere Weise beschäftigt. Er machte Verse
an eine kalte Schöne, die seine Bewerbungen unbeachtet gelassen.
Sobald er eine Strophe fertig hatte, las er sich dieselbe mit lauter
Stimme und burleskem Pathos vor. Einige der Gefangenen schrieben
Abschiedsworte an ihre Freunde, und Vergniaud, der behauptete, nie
einen Brief geschrieben zu haben, bemühte sich, mit einer Stecknadel
den Namen "Adele" und seinen eigenen in das Gehäuse seiner Uhr zu
graviren. Er bestimmte dies letzte Geschenk, das er zu machen hatte,
einem jungen Mädchen von dreizehn Jahren, zu dem er eine zärtliche
Neigung empfand.

Ehe sich Vergniaud indessen von der Uhr trennte, öffnete er durch
einen Federdruck das daran hängende Petschaft und schüttete daraus
ein stark wirkendes Gift auf den Tisch. Er hatte es für den Fall,
der jetzt eingetreten, in diesem kleinen Behälter aufbewahrt.

"Für Vier ist es nicht genug, und so müde ich auch bin, so
darf ich Euch doch den letzten Weg nicht allein machen lassen", sagte
er lächelnd zu den neben ihm sitzenden Freunden.

[Spaltenumbruch]

Lacaze umschlang ihn mit seinen Armen und hielt ihn lange an
seine Brust gepreßt.

"Die blutige Exekution, die uns erwartet, ist der nothwendige
Schluß unseres politischen Lebens; wir dürfen uns ihm nicht ent-
ziehen!" sagte Fonfrede, indem er das Gift vom Tisch auf den
Boden strich.

Einer der Gefangenen nach dem Andern warf sich jetzt ermüdet
auf seine Matratze und schlief ein. Auch Ducos, der bis dahin ge-
schrieben hatte, folgte diesem Beispiel -- nur Vergniaud blieb sitzen.
Mit über der Brust gekreuzten Armen, den Kopf auf die Rücklehne
des Stuhls gestützt, die Augen auf die gewölbte Decke gerichtet,
erwartete er, in tiefe Gedanken versunken, die verhängnißvolle Stunde.

Um zehn Uhr traten die Gefangnenwärter mit den Gehülfen des
Scharfrichters ein.

Ruhig, als handelte es sich um die gewöhnliche Morgentoilette,
setzte sich Einer der Gefangenen nach dem Andern auf den hölzernen
Schemel, um sich die Haare abschneiden und die Hände binden zu
lassen. Kein Wort der Klage oder des Bedauerns wurde laut. Nur
als sich Fonfrede nach der an ihm vollzogenen Prozedur bemühte,
wieder an die Seite des Freundes zu gelangen, um bis zum Moment
des Todes an seiner Seite zu sein, wandte sich Ducos mit einer
Thräne im Auge zu ihm.

"Jch bin es, der Dich in den Tod führt", sagte er traurig.

"Beklage mich nicht, wir sterben zusammen!" entgegnete Fon-
fr ede, indem er den Freund zärtlich anblickte.

Gensonn e nahm eine Locke seines schwarzen Haars vom Boden
auf, reichte sie dem Abb e Lambert und bat ihn, sie seiner jungen
Frau, die bald seine Wittwe sein sollte, zu bringen.

"Sagen Sie, daß ich ihr sonst nichts zu vererben habe, daß ich
aber mit dem Gedanken an sie sterbe!" fügte er hinzu.

Als alle Haare gefallen waren, wurden die Gefangenen in Reih'
und Glied gestellt und in Begleitung von Gensdarmen nach dem Hof
der Conciergerie geführt. Hier setzte man die zwanzig lebenden Gi-
rondisten auf einen Leiterwagen; die Leiche Valaz e 's wurde auf einen
nur von einem Pferde gezogenen Karren gelegt und mit einem Stück
grober Leinwand bedeckt.

Der Morgen des 31. Oktober war trübe und grau. Es fiel ein
feiner, durchdringender Regen. Dennoch waren die Straßen von
einer unabsehbaren Menschenmenge erfüllt, die sich das pikante Schau-
spiel eines im Namen des Gesetzes ausgeübten öffentlichen Mordes
nicht entgehen lassen wollte. Die zusammengedrängten Köpfe der auf
und ab strömenden Massen erschienen wie ein wogendes Meer, und
der Ruf: "Es lebe der Berg!", der die Gefangenen empfing, als der
Wagen auf der Straße erschien, klang wie rollender Donner.

"Es lebe die Republik!" antworteten die Girondisten.

"Es lebe Frankreich!" rief Lehardy mit seiner Alles übertönenden
Stentorstimme.

"Es lebe die Republik!" wiederholte Gensonn e ironisch -- "die
Republik, die Jhr nicht habt und niemals haben werdet!"

"Wie viel Bayonnete würden wohl dazu gehören, diese blut-
dürstige Kanaille auseinander zu treiben?" murmelte Viger zwischen
den Zähnen.

"Nehmt die Kinder in Acht, sie werden zu Schaden kommen!"
rief Fauchet der Menge zu, die sich beinahe bis unter die Räder des
Wagens drängte.

Plötzlich stimmten die Gefangenen die Marseillaise an. Jn ge-
waltigem Chor ertönten die Verse Rouget de Lisle's:

" Allons enfans de la patrie " --

Der Hymnus der Revolution war der Trauermarsch, unter deren mäch-
tigen Klängen die Girondisten zum Tode gingen.

"Es lebe der Berg!" schrie die Menge.

" Contre nous de la tyrannie
L'etendard sanglant est leve
" --

sangen die Girondisten. Das Brausen des unermeßlichen Volks-
stromes übertönte zuweilen ihre Stimmen; aber sie schwiegen keinen
Augenblick, und siegreich stiegen die begeisternden Strophen wieder
und wieder zum Himmel empor.

Endlich war das Schaffot erreicht.

Die Menge verstummte jetzt einen Moment, um sich mit un-
getheilter Aufmerksamkeit dem Schauspiel hinzugeben, das sich vor
ihren Augen entwickelte.

Die Girondisten küßten sich zum Zeichen ihrer Gemeinschaft im
Leben wie im Tode, dann nahmen sie den, einen Augenblick unter-
brochenen Gesang wieder auf.

" Allons enfans de la patrie " --

ertönte es von Neuem in vollem Chor. Keiner wurde schwach --
Alle sangen.

Samson, der Scharfrichter von Paris, stand unter einem grünen,
aufgespannten Regenschirm, mit einer ungeheuren dreifarbigen Kokarde
[Ende Spaltensatz]

[Beginn Spaltensatz]

Fonfrède, Gensonn é, Carra, Brissot und Vergniaud sprachen sich
in begeisterter Rede für die Göttlichkeit der menschlichen Vernunft
und die Unsterblichkeit des menschlichen Geistes aus. Fauchet sprach
über den Kreuzestod Christi und verglich ihre Hinrichtung mit der
auf Golgatha. Sillery erklärte sich für den Glauben an Vernunft
und Religion zugleich. „Religion ist nicht Knechtschaft, sondern Be-
freiung!“ schloß er.

Noch einmal nahm Vergniaud das Wort.

„Glauben wir, was wir wollen“, sagte er; „aber sterben wir in
der Ueberzeugung, in der wir gelebt haben. Wir geben unser Blut
für die Freiheit, und wenn der Mensch sich selbst zum Opfer bringt,
so thut er, was Christus gethan!“

Jn diesem Moment öffnete sich die Thür, und die Gefangnen-
wärter in Begleitung eines Beamten des Tribunals traten herein,
um die Gefangenen, nachdem sie auf den Namensaufruf geantwortet,
in ihre Zellen zurückzuführen.

„Meine Herren, die Sitzung ist aufgehoben!“ sagte Vergniaud
lächelnd.

Die Girondisten standen auf und blickten sich einen Moment an.
Dann stürzten sie einander in die Arme. Jede Meinungsverschieden-
heit, jede persönliche Vorliebe oder Antipathie schien in diesem Augen-
blick verschwunden. Der Tod riß die letzten Schranken zwischen ihnen
nieder, er verwischte alle Nuancen der Parteien. Sie hatten die Gleich-
heit so heiß ersehnt und erstrebt — da war sie!

Selbst Mainvielle's Gelächter verstummte in diesem feierlichen
Augenblick.

„An Jhre Plätze, meine Herren!“ rief der Gefängnißvogt. „An
Jhre Plätze. Sagen Sie sich meinetwegen Guten Morgen oder
Gute Nacht, aber halten Sie den Dienst nicht auf.“

Die Männer, welche noch vor wenigen Monaten so mächtig ge-
wesen, welche Könige von ihren Thronen gestoßen und alle Jnstitu-
tionen ihres Landes vernichtet hatten, gehorchten dem Befehl des
Kerkermeisters ohne Murren.

Fünf Minuten später weilte nur noch ein Gast im Banquettsaal
der Girondisten — der Leichnam Valaz é 's.

II.
Der Tod der Girondisten.

Mit Ausnahme Gensonn é 's, dem man ein abgesondertes Gemach
angewiesen, hatte man sämmtliche Girondisten in einen aus mehreren
Abtheilungen bestehenden Raum gebracht, der nach ihnen noch lange
„die Gironde“ genannt wurde, bei späteren inneren Umgestaltungen
des Gebäudes indessen verschwunden ist.

Viele von ihnen hatten sich auf ihre Lagerstätten geworfen und
schliefen, Andere unterhielten sich mit leiser Stimme. Duchâtel und
Lehardy hatten sich mit den Abb é 's Emery und Lothringer, denen
man Zutritt zu den Gefangenen gestattet, in eine der Abtheilungen
des Raums zurückgezogen. Jn einer andern Ecke hörte Fauchet, der
in den Schooß der Kirche zurückgekehrte Bischof von Calvados, die
Beichte Sillery's. Brissot, obgleich ein gläubiger Christ, hatte, wie
die meisten übrigen Gefangenen, die Tröstungen der Religion zurück-
gewiesen. „Jch glaube, ein Mann, der auf dem Schaffot stirbt, weil
er sich weigerte, das Leben seiner Mitmenschen blutdürstigen Bestien
preiszugeben, bedarf keiner Absolution“, hatte er geantwortet. Der
Priester drang nicht weiter in ihn.

Carra entwickelte, auf seinem Lager sitzend, vor zwei oder drei
ziemlich aufmerksamen Zuhörern eine seiner unmöglichen Theorien;
Duprat nahm Abschied von einem alten Diener und trug ihm die
Sorge für seine junge Frau und seine Kinder auf. Seine Verhält-
nisse waren zerrüttet; die Gläubiger hatten sein Vermögen mit Be-
schlag belegt, und er versuchte noch in den letzten Stunden seines
Lebens Maßregeln zu treffen und Hülfsquellen zu entdecken, welche
seine Familie vor Noth und Sorgen schützten.

Mainvielle war auf andere Weise beschäftigt. Er machte Verse
an eine kalte Schöne, die seine Bewerbungen unbeachtet gelassen.
Sobald er eine Strophe fertig hatte, las er sich dieselbe mit lauter
Stimme und burleskem Pathos vor. Einige der Gefangenen schrieben
Abschiedsworte an ihre Freunde, und Vergniaud, der behauptete, nie
einen Brief geschrieben zu haben, bemühte sich, mit einer Stecknadel
den Namen „Adele“ und seinen eigenen in das Gehäuse seiner Uhr zu
graviren. Er bestimmte dies letzte Geschenk, das er zu machen hatte,
einem jungen Mädchen von dreizehn Jahren, zu dem er eine zärtliche
Neigung empfand.

Ehe sich Vergniaud indessen von der Uhr trennte, öffnete er durch
einen Federdruck das daran hängende Petschaft und schüttete daraus
ein stark wirkendes Gift auf den Tisch. Er hatte es für den Fall,
der jetzt eingetreten, in diesem kleinen Behälter aufbewahrt.

„Für Vier ist es nicht genug, und so müde ich auch bin, so
darf ich Euch doch den letzten Weg nicht allein machen lassen“, sagte
er lächelnd zu den neben ihm sitzenden Freunden.

[Spaltenumbruch]

Lacaze umschlang ihn mit seinen Armen und hielt ihn lange an
seine Brust gepreßt.

„Die blutige Exekution, die uns erwartet, ist der nothwendige
Schluß unseres politischen Lebens; wir dürfen uns ihm nicht ent-
ziehen!“ sagte Fonfrède, indem er das Gift vom Tisch auf den
Boden strich.

Einer der Gefangenen nach dem Andern warf sich jetzt ermüdet
auf seine Matratze und schlief ein. Auch Ducos, der bis dahin ge-
schrieben hatte, folgte diesem Beispiel — nur Vergniaud blieb sitzen.
Mit über der Brust gekreuzten Armen, den Kopf auf die Rücklehne
des Stuhls gestützt, die Augen auf die gewölbte Decke gerichtet,
erwartete er, in tiefe Gedanken versunken, die verhängnißvolle Stunde.

Um zehn Uhr traten die Gefangnenwärter mit den Gehülfen des
Scharfrichters ein.

Ruhig, als handelte es sich um die gewöhnliche Morgentoilette,
setzte sich Einer der Gefangenen nach dem Andern auf den hölzernen
Schemel, um sich die Haare abschneiden und die Hände binden zu
lassen. Kein Wort der Klage oder des Bedauerns wurde laut. Nur
als sich Fonfrède nach der an ihm vollzogenen Prozedur bemühte,
wieder an die Seite des Freundes zu gelangen, um bis zum Moment
des Todes an seiner Seite zu sein, wandte sich Ducos mit einer
Thräne im Auge zu ihm.

„Jch bin es, der Dich in den Tod führt“, sagte er traurig.

„Beklage mich nicht, wir sterben zusammen!“ entgegnete Fon-
fr ède, indem er den Freund zärtlich anblickte.

Gensonn é nahm eine Locke seines schwarzen Haars vom Boden
auf, reichte sie dem Abb é Lambert und bat ihn, sie seiner jungen
Frau, die bald seine Wittwe sein sollte, zu bringen.

„Sagen Sie, daß ich ihr sonst nichts zu vererben habe, daß ich
aber mit dem Gedanken an sie sterbe!“ fügte er hinzu.

Als alle Haare gefallen waren, wurden die Gefangenen in Reih'
und Glied gestellt und in Begleitung von Gensdarmen nach dem Hof
der Conciergerie geführt. Hier setzte man die zwanzig lebenden Gi-
rondisten auf einen Leiterwagen; die Leiche Valaz é 's wurde auf einen
nur von einem Pferde gezogenen Karren gelegt und mit einem Stück
grober Leinwand bedeckt.

Der Morgen des 31. Oktober war trübe und grau. Es fiel ein
feiner, durchdringender Regen. Dennoch waren die Straßen von
einer unabsehbaren Menschenmenge erfüllt, die sich das pikante Schau-
spiel eines im Namen des Gesetzes ausgeübten öffentlichen Mordes
nicht entgehen lassen wollte. Die zusammengedrängten Köpfe der auf
und ab strömenden Massen erschienen wie ein wogendes Meer, und
der Ruf: „Es lebe der Berg!“, der die Gefangenen empfing, als der
Wagen auf der Straße erschien, klang wie rollender Donner.

„Es lebe die Republik!“ antworteten die Girondisten.

„Es lebe Frankreich!“ rief Lehardy mit seiner Alles übertönenden
Stentorstimme.

„Es lebe die Republik!“ wiederholte Gensonn é ironisch — „die
Republik, die Jhr nicht habt und niemals haben werdet!“

„Wie viel Bayonnete würden wohl dazu gehören, diese blut-
dürstige Kanaille auseinander zu treiben?“ murmelte Viger zwischen
den Zähnen.

„Nehmt die Kinder in Acht, sie werden zu Schaden kommen!“
rief Fauchet der Menge zu, die sich beinahe bis unter die Räder des
Wagens drängte.

Plötzlich stimmten die Gefangenen die Marseillaise an. Jn ge-
waltigem Chor ertönten die Verse Rouget de Lisle's:

Allons enfans de la patrie “ —

Der Hymnus der Revolution war der Trauermarsch, unter deren mäch-
tigen Klängen die Girondisten zum Tode gingen.

„Es lebe der Berg!“ schrie die Menge.

Contre nous de la tyrannie
L'étendard sanglant est levé
“ —

sangen die Girondisten. Das Brausen des unermeßlichen Volks-
stromes übertönte zuweilen ihre Stimmen; aber sie schwiegen keinen
Augenblick, und siegreich stiegen die begeisternden Strophen wieder
und wieder zum Himmel empor.

Endlich war das Schaffot erreicht.

Die Menge verstummte jetzt einen Moment, um sich mit un-
getheilter Aufmerksamkeit dem Schauspiel hinzugeben, das sich vor
ihren Augen entwickelte.

Die Girondisten küßten sich zum Zeichen ihrer Gemeinschaft im
Leben wie im Tode, dann nahmen sie den, einen Augenblick unter-
brochenen Gesang wieder auf.

Allons enfans de la patrie “ —

ertönte es von Neuem in vollem Chor. Keiner wurde schwach —
Alle sangen.

Samson, der Scharfrichter von Paris, stand unter einem grünen,
aufgespannten Regenschirm, mit einer ungeheuren dreifarbigen Kokarde
[Ende Spaltensatz]

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[254/0006] 254 Fonfrède, Gensonn é, Carra, Brissot und Vergniaud sprachen sich in begeisterter Rede für die Göttlichkeit der menschlichen Vernunft und die Unsterblichkeit des menschlichen Geistes aus. Fauchet sprach über den Kreuzestod Christi und verglich ihre Hinrichtung mit der auf Golgatha. Sillery erklärte sich für den Glauben an Vernunft und Religion zugleich. „Religion ist nicht Knechtschaft, sondern Be- freiung!“ schloß er. Noch einmal nahm Vergniaud das Wort. „Glauben wir, was wir wollen“, sagte er; „aber sterben wir in der Ueberzeugung, in der wir gelebt haben. Wir geben unser Blut für die Freiheit, und wenn der Mensch sich selbst zum Opfer bringt, so thut er, was Christus gethan!“ Jn diesem Moment öffnete sich die Thür, und die Gefangnen- wärter in Begleitung eines Beamten des Tribunals traten herein, um die Gefangenen, nachdem sie auf den Namensaufruf geantwortet, in ihre Zellen zurückzuführen. „Meine Herren, die Sitzung ist aufgehoben!“ sagte Vergniaud lächelnd. Die Girondisten standen auf und blickten sich einen Moment an. Dann stürzten sie einander in die Arme. Jede Meinungsverschieden- heit, jede persönliche Vorliebe oder Antipathie schien in diesem Augen- blick verschwunden. Der Tod riß die letzten Schranken zwischen ihnen nieder, er verwischte alle Nuancen der Parteien. Sie hatten die Gleich- heit so heiß ersehnt und erstrebt — da war sie! Selbst Mainvielle's Gelächter verstummte in diesem feierlichen Augenblick. „An Jhre Plätze, meine Herren!“ rief der Gefängnißvogt. „An Jhre Plätze. Sagen Sie sich meinetwegen Guten Morgen oder Gute Nacht, aber halten Sie den Dienst nicht auf.“ Die Männer, welche noch vor wenigen Monaten so mächtig ge- wesen, welche Könige von ihren Thronen gestoßen und alle Jnstitu- tionen ihres Landes vernichtet hatten, gehorchten dem Befehl des Kerkermeisters ohne Murren. Fünf Minuten später weilte nur noch ein Gast im Banquettsaal der Girondisten — der Leichnam Valaz é 's. II. Der Tod der Girondisten. Mit Ausnahme Gensonn é 's, dem man ein abgesondertes Gemach angewiesen, hatte man sämmtliche Girondisten in einen aus mehreren Abtheilungen bestehenden Raum gebracht, der nach ihnen noch lange „die Gironde“ genannt wurde, bei späteren inneren Umgestaltungen des Gebäudes indessen verschwunden ist. Viele von ihnen hatten sich auf ihre Lagerstätten geworfen und schliefen, Andere unterhielten sich mit leiser Stimme. Duchâtel und Lehardy hatten sich mit den Abb é 's Emery und Lothringer, denen man Zutritt zu den Gefangenen gestattet, in eine der Abtheilungen des Raums zurückgezogen. Jn einer andern Ecke hörte Fauchet, der in den Schooß der Kirche zurückgekehrte Bischof von Calvados, die Beichte Sillery's. Brissot, obgleich ein gläubiger Christ, hatte, wie die meisten übrigen Gefangenen, die Tröstungen der Religion zurück- gewiesen. „Jch glaube, ein Mann, der auf dem Schaffot stirbt, weil er sich weigerte, das Leben seiner Mitmenschen blutdürstigen Bestien preiszugeben, bedarf keiner Absolution“, hatte er geantwortet. Der Priester drang nicht weiter in ihn. Carra entwickelte, auf seinem Lager sitzend, vor zwei oder drei ziemlich aufmerksamen Zuhörern eine seiner unmöglichen Theorien; Duprat nahm Abschied von einem alten Diener und trug ihm die Sorge für seine junge Frau und seine Kinder auf. Seine Verhält- nisse waren zerrüttet; die Gläubiger hatten sein Vermögen mit Be- schlag belegt, und er versuchte noch in den letzten Stunden seines Lebens Maßregeln zu treffen und Hülfsquellen zu entdecken, welche seine Familie vor Noth und Sorgen schützten. Mainvielle war auf andere Weise beschäftigt. Er machte Verse an eine kalte Schöne, die seine Bewerbungen unbeachtet gelassen. Sobald er eine Strophe fertig hatte, las er sich dieselbe mit lauter Stimme und burleskem Pathos vor. Einige der Gefangenen schrieben Abschiedsworte an ihre Freunde, und Vergniaud, der behauptete, nie einen Brief geschrieben zu haben, bemühte sich, mit einer Stecknadel den Namen „Adele“ und seinen eigenen in das Gehäuse seiner Uhr zu graviren. Er bestimmte dies letzte Geschenk, das er zu machen hatte, einem jungen Mädchen von dreizehn Jahren, zu dem er eine zärtliche Neigung empfand. Ehe sich Vergniaud indessen von der Uhr trennte, öffnete er durch einen Federdruck das daran hängende Petschaft und schüttete daraus ein stark wirkendes Gift auf den Tisch. Er hatte es für den Fall, der jetzt eingetreten, in diesem kleinen Behälter aufbewahrt. „Für Vier ist es nicht genug, und so müde ich auch bin, so darf ich Euch doch den letzten Weg nicht allein machen lassen“, sagte er lächelnd zu den neben ihm sitzenden Freunden. Lacaze umschlang ihn mit seinen Armen und hielt ihn lange an seine Brust gepreßt. „Die blutige Exekution, die uns erwartet, ist der nothwendige Schluß unseres politischen Lebens; wir dürfen uns ihm nicht ent- ziehen!“ sagte Fonfrède, indem er das Gift vom Tisch auf den Boden strich. Einer der Gefangenen nach dem Andern warf sich jetzt ermüdet auf seine Matratze und schlief ein. Auch Ducos, der bis dahin ge- schrieben hatte, folgte diesem Beispiel — nur Vergniaud blieb sitzen. Mit über der Brust gekreuzten Armen, den Kopf auf die Rücklehne des Stuhls gestützt, die Augen auf die gewölbte Decke gerichtet, erwartete er, in tiefe Gedanken versunken, die verhängnißvolle Stunde. Um zehn Uhr traten die Gefangnenwärter mit den Gehülfen des Scharfrichters ein. Ruhig, als handelte es sich um die gewöhnliche Morgentoilette, setzte sich Einer der Gefangenen nach dem Andern auf den hölzernen Schemel, um sich die Haare abschneiden und die Hände binden zu lassen. Kein Wort der Klage oder des Bedauerns wurde laut. Nur als sich Fonfrède nach der an ihm vollzogenen Prozedur bemühte, wieder an die Seite des Freundes zu gelangen, um bis zum Moment des Todes an seiner Seite zu sein, wandte sich Ducos mit einer Thräne im Auge zu ihm. „Jch bin es, der Dich in den Tod führt“, sagte er traurig. „Beklage mich nicht, wir sterben zusammen!“ entgegnete Fon- fr ède, indem er den Freund zärtlich anblickte. Gensonn é nahm eine Locke seines schwarzen Haars vom Boden auf, reichte sie dem Abb é Lambert und bat ihn, sie seiner jungen Frau, die bald seine Wittwe sein sollte, zu bringen. „Sagen Sie, daß ich ihr sonst nichts zu vererben habe, daß ich aber mit dem Gedanken an sie sterbe!“ fügte er hinzu. Als alle Haare gefallen waren, wurden die Gefangenen in Reih' und Glied gestellt und in Begleitung von Gensdarmen nach dem Hof der Conciergerie geführt. Hier setzte man die zwanzig lebenden Gi- rondisten auf einen Leiterwagen; die Leiche Valaz é 's wurde auf einen nur von einem Pferde gezogenen Karren gelegt und mit einem Stück grober Leinwand bedeckt. Der Morgen des 31. Oktober war trübe und grau. Es fiel ein feiner, durchdringender Regen. Dennoch waren die Straßen von einer unabsehbaren Menschenmenge erfüllt, die sich das pikante Schau- spiel eines im Namen des Gesetzes ausgeübten öffentlichen Mordes nicht entgehen lassen wollte. Die zusammengedrängten Köpfe der auf und ab strömenden Massen erschienen wie ein wogendes Meer, und der Ruf: „Es lebe der Berg!“, der die Gefangenen empfing, als der Wagen auf der Straße erschien, klang wie rollender Donner. „Es lebe die Republik!“ antworteten die Girondisten. „Es lebe Frankreich!“ rief Lehardy mit seiner Alles übertönenden Stentorstimme. „Es lebe die Republik!“ wiederholte Gensonn é ironisch — „die Republik, die Jhr nicht habt und niemals haben werdet!“ „Wie viel Bayonnete würden wohl dazu gehören, diese blut- dürstige Kanaille auseinander zu treiben?“ murmelte Viger zwischen den Zähnen. „Nehmt die Kinder in Acht, sie werden zu Schaden kommen!“ rief Fauchet der Menge zu, die sich beinahe bis unter die Räder des Wagens drängte. Plötzlich stimmten die Gefangenen die Marseillaise an. Jn ge- waltigem Chor ertönten die Verse Rouget de Lisle's: „ Allons enfans de la patrie “ — Der Hymnus der Revolution war der Trauermarsch, unter deren mäch- tigen Klängen die Girondisten zum Tode gingen. „Es lebe der Berg!“ schrie die Menge. „ Contre nous de la tyrannie L'étendard sanglant est levé “ — sangen die Girondisten. Das Brausen des unermeßlichen Volks- stromes übertönte zuweilen ihre Stimmen; aber sie schwiegen keinen Augenblick, und siegreich stiegen die begeisternden Strophen wieder und wieder zum Himmel empor. Endlich war das Schaffot erreicht. Die Menge verstummte jetzt einen Moment, um sich mit un- getheilter Aufmerksamkeit dem Schauspiel hinzugeben, das sich vor ihren Augen entwickelte. Die Girondisten küßten sich zum Zeichen ihrer Gemeinschaft im Leben wie im Tode, dann nahmen sie den, einen Augenblick unter- brochenen Gesang wieder auf. „ Allons enfans de la patrie “ — ertönte es von Neuem in vollem Chor. Keiner wurde schwach — Alle sangen. Samson, der Scharfrichter von Paris, stand unter einem grünen, aufgespannten Regenschirm, mit einer ungeheuren dreifarbigen Kokarde

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Deutsches Textarchiv: Metadatenerfassung
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Susanne Haaf, Rahel Hartz, Nicole Postelt: Nachkorrektur und Vervollständigung der TEI/DTABf-Annotation
Rahel Hartz: Artikelstrukturierung

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Zitationshilfe: Sonntags-Blatt. Nr. 32. Berlin, 9. August 1868, S. 254. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_sonntagsblatt32_1868/6>, abgerufen am 01.06.2024.