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Sonntags-Blatt. Nr. 35. Berlin, 29. August 1869.

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[Beginn Spaltensatz] kann und daß er morgen -- in aller Frühe werden wir aufbrechen --
im Stande ist, uns nachzufolgen. Und mir scheint, wir können Bei-
des zugleich auf die einfachste Weise, indem Du ihm, sobald er sich
zu Bette begeben, seine Kleider nimmst und sie so verbirgst, daß er sie
nicht zu finden vermag. Ehe es ihm dann am Morgen möglich wird,
sich hier in diesem Dorf andere Kleider zu verschaffen, sind wir in
Wahrheit über die Berge."

"Doch wenn er -- Sie -- Du sag' -- Sie sagten es vorhin
selbst -- wenn er sich nun mit den Kleidern ins Bett legt?" stotterte
der lange Fritz.

"Armes Herzkind, Du bist ja bis auf's Herz durchnäßt", murmelte
Nisida, indem sie ihre Hand mit einem Druck in die ihres Anbeters
legte. "Dann, wenn er das thut", fuhr sie mit gedämpfter Stimme
fort, "wirst Du für mich -- es ist ja auch für Dich -- eine Gefahr
nicht scheuen, Dich nicht vor seiner Kraft fürchten --"

"Fürchten? Jhn? Hilmar?" lachte Fritz Werner kühn -- "ich zer-
breche ihn mit einer Hand --"

"Nein, ich wiederhole Dir, vor Allem mußt Du Dich hüten, ihm
etwas Uebles zuzufügen; Du würdest Dir damit meinen Dank nicht
erwerben. Jch meine nur, Du hättest in dem Fall wohl Einen unter
Deinen Kameraden, den Du bewegen könntest --"

"Sie müssen alle thun, was ich will; ich befehle und sie gehorchen.
Jch bin Primus und Anführer" fiel der lange Fritz stolz ein.

"Nun für den Fall also bleibt nichts Anderes übrig, als ihn mit
Hülfe Deiner Genossen -- es wird droben wohl irgend eine Kammer
geben, die Du ausfindig machen kannst -- gutwillig oder gewaltsam --
und ich glaube fast, er wird, sobald er sieht, daß es Ernst ist, das
Erstere vorziehen -- sicher einzusperren, so daß er erst nach unserer
Abfahrt morgen früh entdeckt und befreit wird. Sollte er sich indeß,
wider meine Vermuthung, wirklich zur Wehre setzen und etwa zu
schreien anfangen, so schont ihn nicht, sondern zerrauft ihm sein Milch-
gesicht und seine Kleider ordentlich, daß man die Spuren deutlich an
ihm bemerkt. Und dann werft ihn vor die Thür und ruft, wenn auch
das ganze Haus darüber aufwachen sollte, nach Licht. Dann überlaßt
das Weitere mir --"

Die Sprecherin blickte bei den letzten Worten in's Jnnere der Ruine
zurück und setzte hinzu: "Jch glaube die Eulen kommen, um wieder
Besitz von dem alten Gerümpel zu nehmen, und die Fackeln verschwin-
den, wir müssen eilen, auf dem abschüssigen Wege nachzufolgen. Du
hast verstanden, was ich gesagt, nicht wahr?"

"Ja", stammelte Fritz Werner, "aber ich begreife nicht --"

"Handle, wie ich Dir geboten, nein, wie ich Dich gebeten", ver-
besserte Nisida, "und" -- sie zog ihn einen Augenblick tiefer in den
Schatten des Mauerbruchstücks, neben dem sie standen -- "Du wirst
zufrieden sein, nicht wahr?" Sie lachte unwillkürlich dazu und fügte
bei: "Jetzt führe mich hübsch den Berg hinunter" -- -- --

Sie waren trotzdem nicht die letzten, welche die Ruine verließen.
Ein Schatten hüpfte noch hinter ihnen drein, bis der Weg in Win-
dungen über eine Halde hinunterstieg. Da flog der Schatten tollkühn
grad' aus, so daß er vor jenen noch die Fackeln erreichte. Dann ging
Otto Busse -- denn er war der Schatten -- sehr nachdenklich im
Zuge mit.

Er trug in der Hand einen halben Trödlerladen von allerlei zer-
fetztem, durchnäßtem und beschmutztem Toilettenkram, Kopfputz, Schlei-
fen, Bänder, auch einige Hüte darunter, denen Wirbelwind, Dornen
und Wolkenbruch gleich übel mitgespielt und die Otto Busse, der all-
zeit Beschäftigungslustige, aufgelesen und in ein für Frauengemüther
herzzerreißendes Knäuel zusammengeballt hatte. Allein eben so thätig
wie seine Hände, waren auch seine Augen und er sah gar Manches,
wovon die Meisten in der Gesellschaft keine Ahnung hatten. Was
ihm aber am Allerinteressantesten war, sah er erst im letzten Augen-
blick, als fast alle bereits den alten Burghof verlassen. Die Jtalienerin
und der lange Fritz allein zurückbleibend -- das war für die von der
Erzählung des alten Herrn abenteuerlich angeregte Phantasie des
Kleinen ein Ereigniß von solcher Tragweite, daß er seine verdienst-
vollen Bemühungen um Herren= oder besser Damenloses Gut instinc-
tiv aufgab und ohne irgend egoistische Rücksicht auf die Geldtasche
seines Vaters, über den triefenden Boden auf den Knieen geräuschlos
an die beiden herankroch.

"Klatsch!" sagte Otto Busse jetzt plötzlich, indem er, bei den Fackeln
angelangt, alle seine sorgsam aufgesammelten Schätze mit einer äußerst
geringschätzigen Handbewegung in einen Graben am Wegrand warf,
dessen Wasser in der rothglühenden Beleuchtung nicht eben in ein-
ladendster Weise aufglänzte. "Ob der Kram da im Schmutz liegt
oder oben, ist einerlei; wer ihn wieder haben will, kann ihn sich selbst
holen."

Er sah noch einen Augenblick mit Behagen zu, wie die bunten
Bänder und Schleifen allmälig unter die trübe Oberfläche des Graben-
wassers hinuntersanken, dann hüpfte er durch die schweigsam und frö-
stelnd dahinwandernde Gesellschaft bis er Kleist's habhaft wurde, der
in sich gekehrt, vereinzelt auf dem jetzt breiter werdenden Wege fort-
[Spaltenumbruch] schlenderte. Otto Busse hakte von hinten in seinen Arm und ging
eine Weile stumm mit ihm vorwärts.

"Bist Du müde, Kleiner?" fragte Kleist.

Otto schüttelte, nach seiner Gewohnheit bei Fragen, die ihm nicht
paßten, einsilbig den Kopf und antwortete: "Nein." Dann öffnete
er nach einer Minute die Lippen und sagte mit fast zärtlichem Tone:
"Georg!"

"Was hast Du, Kleiner?"

"Nichts." Und Otto Busse schüttelte wieder den Kopf und schwieg.
Endlich fragte er mit gleichgültiger Miene: "Bist Du schon einmal
verliebt gewesen, Georg?"

Kleist lachte.

"Jch könnte es leicht nach Fritzens Vorgang in Deine Ohren wer-
den ", erwiderte Kleist, die Hand scherzhaft nach dem Kopf des Frag-
stellers ausstreckend.

"Zwick' mich, aber hör' mich." Otto Busse sagte es mit derselben
stoischen Gelassenheit, mit welcher der Autor des klassischen Dictums
es gesprochen. "Jch habe mich eigentlich falsch ausgedrückt, Georg;
ich meinte, möchtest Du Dich nicht verheirathen?"

Diesmal drehte Kleist den Kopf um und erwiderte, ihn aufmerksam
ansehend: "Du hast Dir doch kein Fieber bei dem Sturzbad geholt,
Kleiner? daß Du hier auf der Landstraße zu deliriren anfängst?"

"Jch wüßte ein Mädchen für Dich", fuhr Otto seelenruhig fort,
"das Du lieb haben müßtest. Das ist auch falsch, denn Du hast es
schon lieb, und ich glaube, sie hat Dich auch lieb. Jch weiß es schon
seit sechs" -- er zählte an den Fingern -- "seit sieben Stunden, und
der lange Fritz könnte mich eher todtschlagen, ehe er es aus mir heraus
brächte. Jch hätte es Dir auch nicht gesagt, wenn es nicht gerade
um des langen Fritz und der Jtalienerin willen nothwendig wäre und
ich nicht solche Angst hätte --"

Kleist faßte ihn fest an der Schulter. " Was schwatzest Du da
eigentlich, Otto?"

Der Knabe schlang den Arm bittend um den Nacken des Prima-
ners. "Jch weiß mir ja nicht mehr allein zu helfen und deshalb muß
ich's Dir sagen. Sie wird mir böse werden, daß ich es thue --"

Er zog Kleist's Ohr an seinen Mund und flüsterte in zitternder
Eilfertigkeit ihm den Jnhalt der Unterredung zwischen Nisida und Fritz
Werner, die er eben belauscht hatte, zu. Das Gesicht Georg Kleist's
wurde immer starrer vor Erstaunen. "Das ist ja unmöglich, Otto",
stotterte er, "da ist ja Einer schändlicher als der Andere. Von Fritz
kann ich mir so etwas denken, aber von Hilmar mit seinem scheinheili-
gen Gesicht hätte ich mir, trotz der Geschichte mit der Wirthin in
Andeer, doch nicht --"

"Ach, Georg", fiel Otto Busse ihm mit fast schluchzender Stimme
ins Wort, "es ist ja Alles schändlich gelogen, und ich weiß nicht wes-
halb, und kann es auch gar nicht begreifen, denn ich werde immer
dummer, je mehr ich darüber nachdenke. Deshalb bin ich ja grade
zu Dir gekommen und habe es Dir erzählt, damit wir zusammen be-
rathen können, was wir thun müssen. Bist Du denn auch gar so
blind, Georg, wie Alle die Andern und merkst gar nichts und weißt
nicht, daß Hilmar --"

Kleist sah ihm sprachlos in's Gesicht -- "daß Hilmar --?" wie-
derholte er.

"Gar kein Primaner, noch etwas Anderes, sondern ein Mädchen
ist", flüsterte Otto, die Lippen so fest wie möglich an Kleist's Ohr-
muschel drückend. "Jch merkte es ja schon lange, d. h. ich wußte es
immer noch nicht gewiß, wie er -- wie sie nicht rauchen wollte und
die lateinische Jnschrift nicht übersetzen konnte und immer mit den
Handschuhen ging und manchmal plötzlich so roth und so verlegen
ward. Aber Du siehst auch gar nichts und glaubtest ruhig an die
dumme Geschichte mit der Wirthin, die Fritz Euch aufband, und das
ist ja auch der Grund, weshalb sie -- er für heute Nacht das Zimmer
unten allein behalten will und es keinem von uns mit angeboten hat.
Und es ist ein Glück, daß Marie das Zimmer hat, denn so können
die beiden ihre schändlichen Absichten gegen sie doch nicht ausführen,
wie sie es gedacht. Aber Du mußt mir die Hand darauf geben, daß
Du mit keinem Wort verrathen willst, was ich Dir gesagt."

Georg Kleist's schwermüthige Augen hatten während der letzten
hastigen Mittheilung des Kleinen einen ganz anderen Ausdruck be-
kommen. Der Zweifel, der anfänglich darin gelegen, schwand mehr
und mehr vor einem eigenthümlich verklärten Aufleuchten und er mur-
melte wie verwirrt: "Marie -- Marie -- deshalb also war er mir
so lieb, wie ich ihn noch kaum gesehen --" Seine Hand stützte sich
auf Otto Busse's Schultern, denn ihm war, als ob die Füße haltlos
unter ihm wegschwänden und er antwortete nur:

"Wenn Du Dich täuschtest, Otto --

Doch er brach kurz ab, denn der Gegenstand ihres Gesprächs stand an
einer Biegung des Weges, wo die ersten Häuser des Dorfes begannen,
plötzlich dicht vor ihnen. "Nun", sagte Ernst Hilmar freundlich, wo
seid Jhr gewesen, ich habe Euch vergeblich gesucht.

Ein scharfer Beobachter hätte freilich gesehen, daß sein Blick, wäh-
[Ende Spaltensatz]

[Beginn Spaltensatz] kann und daß er morgen — in aller Frühe werden wir aufbrechen —
im Stande ist, uns nachzufolgen. Und mir scheint, wir können Bei-
des zugleich auf die einfachste Weise, indem Du ihm, sobald er sich
zu Bette begeben, seine Kleider nimmst und sie so verbirgst, daß er sie
nicht zu finden vermag. Ehe es ihm dann am Morgen möglich wird,
sich hier in diesem Dorf andere Kleider zu verschaffen, sind wir in
Wahrheit über die Berge.“

„Doch wenn er — Sie — Du sag' — Sie sagten es vorhin
selbst — wenn er sich nun mit den Kleidern ins Bett legt?“ stotterte
der lange Fritz.

„Armes Herzkind, Du bist ja bis auf's Herz durchnäßt“, murmelte
Nisida, indem sie ihre Hand mit einem Druck in die ihres Anbeters
legte. „Dann, wenn er das thut“, fuhr sie mit gedämpfter Stimme
fort, „wirst Du für mich — es ist ja auch für Dich — eine Gefahr
nicht scheuen, Dich nicht vor seiner Kraft fürchten —“

„Fürchten? Jhn? Hilmar?“ lachte Fritz Werner kühn — „ich zer-
breche ihn mit einer Hand —“

„Nein, ich wiederhole Dir, vor Allem mußt Du Dich hüten, ihm
etwas Uebles zuzufügen; Du würdest Dir damit meinen Dank nicht
erwerben. Jch meine nur, Du hättest in dem Fall wohl Einen unter
Deinen Kameraden, den Du bewegen könntest —“

„Sie müssen alle thun, was ich will; ich befehle und sie gehorchen.
Jch bin Primus und Anführer“ fiel der lange Fritz stolz ein.

„Nun für den Fall also bleibt nichts Anderes übrig, als ihn mit
Hülfe Deiner Genossen — es wird droben wohl irgend eine Kammer
geben, die Du ausfindig machen kannst — gutwillig oder gewaltsam —
und ich glaube fast, er wird, sobald er sieht, daß es Ernst ist, das
Erstere vorziehen — sicher einzusperren, so daß er erst nach unserer
Abfahrt morgen früh entdeckt und befreit wird. Sollte er sich indeß,
wider meine Vermuthung, wirklich zur Wehre setzen und etwa zu
schreien anfangen, so schont ihn nicht, sondern zerrauft ihm sein Milch-
gesicht und seine Kleider ordentlich, daß man die Spuren deutlich an
ihm bemerkt. Und dann werft ihn vor die Thür und ruft, wenn auch
das ganze Haus darüber aufwachen sollte, nach Licht. Dann überlaßt
das Weitere mir —“

Die Sprecherin blickte bei den letzten Worten in's Jnnere der Ruine
zurück und setzte hinzu: „Jch glaube die Eulen kommen, um wieder
Besitz von dem alten Gerümpel zu nehmen, und die Fackeln verschwin-
den, wir müssen eilen, auf dem abschüssigen Wege nachzufolgen. Du
hast verstanden, was ich gesagt, nicht wahr?“

„Ja“, stammelte Fritz Werner, „aber ich begreife nicht —“

„Handle, wie ich Dir geboten, nein, wie ich Dich gebeten“, ver-
besserte Nisida, „und“ — sie zog ihn einen Augenblick tiefer in den
Schatten des Mauerbruchstücks, neben dem sie standen — „Du wirst
zufrieden sein, nicht wahr?“ Sie lachte unwillkürlich dazu und fügte
bei: „Jetzt führe mich hübsch den Berg hinunter“ — — —

Sie waren trotzdem nicht die letzten, welche die Ruine verließen.
Ein Schatten hüpfte noch hinter ihnen drein, bis der Weg in Win-
dungen über eine Halde hinunterstieg. Da flog der Schatten tollkühn
grad' aus, so daß er vor jenen noch die Fackeln erreichte. Dann ging
Otto Busse — denn er war der Schatten — sehr nachdenklich im
Zuge mit.

Er trug in der Hand einen halben Trödlerladen von allerlei zer-
fetztem, durchnäßtem und beschmutztem Toilettenkram, Kopfputz, Schlei-
fen, Bänder, auch einige Hüte darunter, denen Wirbelwind, Dornen
und Wolkenbruch gleich übel mitgespielt und die Otto Busse, der all-
zeit Beschäftigungslustige, aufgelesen und in ein für Frauengemüther
herzzerreißendes Knäuel zusammengeballt hatte. Allein eben so thätig
wie seine Hände, waren auch seine Augen und er sah gar Manches,
wovon die Meisten in der Gesellschaft keine Ahnung hatten. Was
ihm aber am Allerinteressantesten war, sah er erst im letzten Augen-
blick, als fast alle bereits den alten Burghof verlassen. Die Jtalienerin
und der lange Fritz allein zurückbleibend — das war für die von der
Erzählung des alten Herrn abenteuerlich angeregte Phantasie des
Kleinen ein Ereigniß von solcher Tragweite, daß er seine verdienst-
vollen Bemühungen um Herren= oder besser Damenloses Gut instinc-
tiv aufgab und ohne irgend egoistische Rücksicht auf die Geldtasche
seines Vaters, über den triefenden Boden auf den Knieen geräuschlos
an die beiden herankroch.

„Klatsch!“ sagte Otto Busse jetzt plötzlich, indem er, bei den Fackeln
angelangt, alle seine sorgsam aufgesammelten Schätze mit einer äußerst
geringschätzigen Handbewegung in einen Graben am Wegrand warf,
dessen Wasser in der rothglühenden Beleuchtung nicht eben in ein-
ladendster Weise aufglänzte. „Ob der Kram da im Schmutz liegt
oder oben, ist einerlei; wer ihn wieder haben will, kann ihn sich selbst
holen.“

Er sah noch einen Augenblick mit Behagen zu, wie die bunten
Bänder und Schleifen allmälig unter die trübe Oberfläche des Graben-
wassers hinuntersanken, dann hüpfte er durch die schweigsam und frö-
stelnd dahinwandernde Gesellschaft bis er Kleist's habhaft wurde, der
in sich gekehrt, vereinzelt auf dem jetzt breiter werdenden Wege fort-
[Spaltenumbruch] schlenderte. Otto Busse hakte von hinten in seinen Arm und ging
eine Weile stumm mit ihm vorwärts.

„Bist Du müde, Kleiner?“ fragte Kleist.

Otto schüttelte, nach seiner Gewohnheit bei Fragen, die ihm nicht
paßten, einsilbig den Kopf und antwortete: „Nein.“ Dann öffnete
er nach einer Minute die Lippen und sagte mit fast zärtlichem Tone:
„Georg!“

„Was hast Du, Kleiner?“

„Nichts.“ Und Otto Busse schüttelte wieder den Kopf und schwieg.
Endlich fragte er mit gleichgültiger Miene: „Bist Du schon einmal
verliebt gewesen, Georg?“

Kleist lachte.

„Jch könnte es leicht nach Fritzens Vorgang in Deine Ohren wer-
den “, erwiderte Kleist, die Hand scherzhaft nach dem Kopf des Frag-
stellers ausstreckend.

„Zwick' mich, aber hör' mich.“ Otto Busse sagte es mit derselben
stoischen Gelassenheit, mit welcher der Autor des klassischen Dictums
es gesprochen. „Jch habe mich eigentlich falsch ausgedrückt, Georg;
ich meinte, möchtest Du Dich nicht verheirathen?“

Diesmal drehte Kleist den Kopf um und erwiderte, ihn aufmerksam
ansehend: „Du hast Dir doch kein Fieber bei dem Sturzbad geholt,
Kleiner? daß Du hier auf der Landstraße zu deliriren anfängst?“

„Jch wüßte ein Mädchen für Dich“, fuhr Otto seelenruhig fort,
„das Du lieb haben müßtest. Das ist auch falsch, denn Du hast es
schon lieb, und ich glaube, sie hat Dich auch lieb. Jch weiß es schon
seit sechs“ — er zählte an den Fingern — „seit sieben Stunden, und
der lange Fritz könnte mich eher todtschlagen, ehe er es aus mir heraus
brächte. Jch hätte es Dir auch nicht gesagt, wenn es nicht gerade
um des langen Fritz und der Jtalienerin willen nothwendig wäre und
ich nicht solche Angst hätte —“

Kleist faßte ihn fest an der Schulter. „ Was schwatzest Du da
eigentlich, Otto?“

Der Knabe schlang den Arm bittend um den Nacken des Prima-
ners. „Jch weiß mir ja nicht mehr allein zu helfen und deshalb muß
ich's Dir sagen. Sie wird mir böse werden, daß ich es thue —“

Er zog Kleist's Ohr an seinen Mund und flüsterte in zitternder
Eilfertigkeit ihm den Jnhalt der Unterredung zwischen Nisida und Fritz
Werner, die er eben belauscht hatte, zu. Das Gesicht Georg Kleist's
wurde immer starrer vor Erstaunen. „Das ist ja unmöglich, Otto“,
stotterte er, „da ist ja Einer schändlicher als der Andere. Von Fritz
kann ich mir so etwas denken, aber von Hilmar mit seinem scheinheili-
gen Gesicht hätte ich mir, trotz der Geschichte mit der Wirthin in
Andeer, doch nicht —“

„Ach, Georg“, fiel Otto Busse ihm mit fast schluchzender Stimme
ins Wort, „es ist ja Alles schändlich gelogen, und ich weiß nicht wes-
halb, und kann es auch gar nicht begreifen, denn ich werde immer
dummer, je mehr ich darüber nachdenke. Deshalb bin ich ja grade
zu Dir gekommen und habe es Dir erzählt, damit wir zusammen be-
rathen können, was wir thun müssen. Bist Du denn auch gar so
blind, Georg, wie Alle die Andern und merkst gar nichts und weißt
nicht, daß Hilmar —“

Kleist sah ihm sprachlos in's Gesicht — „daß Hilmar —?“ wie-
derholte er.

„Gar kein Primaner, noch etwas Anderes, sondern ein Mädchen
ist“, flüsterte Otto, die Lippen so fest wie möglich an Kleist's Ohr-
muschel drückend. „Jch merkte es ja schon lange, d. h. ich wußte es
immer noch nicht gewiß, wie er — wie sie nicht rauchen wollte und
die lateinische Jnschrift nicht übersetzen konnte und immer mit den
Handschuhen ging und manchmal plötzlich so roth und so verlegen
ward. Aber Du siehst auch gar nichts und glaubtest ruhig an die
dumme Geschichte mit der Wirthin, die Fritz Euch aufband, und das
ist ja auch der Grund, weshalb sie — er für heute Nacht das Zimmer
unten allein behalten will und es keinem von uns mit angeboten hat.
Und es ist ein Glück, daß Marie das Zimmer hat, denn so können
die beiden ihre schändlichen Absichten gegen sie doch nicht ausführen,
wie sie es gedacht. Aber Du mußt mir die Hand darauf geben, daß
Du mit keinem Wort verrathen willst, was ich Dir gesagt.“

Georg Kleist's schwermüthige Augen hatten während der letzten
hastigen Mittheilung des Kleinen einen ganz anderen Ausdruck be-
kommen. Der Zweifel, der anfänglich darin gelegen, schwand mehr
und mehr vor einem eigenthümlich verklärten Aufleuchten und er mur-
melte wie verwirrt: „Marie — Marie — deshalb also war er mir
so lieb, wie ich ihn noch kaum gesehen —“ Seine Hand stützte sich
auf Otto Busse's Schultern, denn ihm war, als ob die Füße haltlos
unter ihm wegschwänden und er antwortete nur:

„Wenn Du Dich täuschtest, Otto —

Doch er brach kurz ab, denn der Gegenstand ihres Gesprächs stand an
einer Biegung des Weges, wo die ersten Häuser des Dorfes begannen,
plötzlich dicht vor ihnen. „Nun“, sagte Ernst Hilmar freundlich, wo
seid Jhr gewesen, ich habe Euch vergeblich gesucht.

Ein scharfer Beobachter hätte freilich gesehen, daß sein Blick, wäh-
[Ende Spaltensatz]

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[274/0002] 274 kann und daß er morgen — in aller Frühe werden wir aufbrechen — im Stande ist, uns nachzufolgen. Und mir scheint, wir können Bei- des zugleich auf die einfachste Weise, indem Du ihm, sobald er sich zu Bette begeben, seine Kleider nimmst und sie so verbirgst, daß er sie nicht zu finden vermag. Ehe es ihm dann am Morgen möglich wird, sich hier in diesem Dorf andere Kleider zu verschaffen, sind wir in Wahrheit über die Berge.“ „Doch wenn er — Sie — Du sag' — Sie sagten es vorhin selbst — wenn er sich nun mit den Kleidern ins Bett legt?“ stotterte der lange Fritz. „Armes Herzkind, Du bist ja bis auf's Herz durchnäßt“, murmelte Nisida, indem sie ihre Hand mit einem Druck in die ihres Anbeters legte. „Dann, wenn er das thut“, fuhr sie mit gedämpfter Stimme fort, „wirst Du für mich — es ist ja auch für Dich — eine Gefahr nicht scheuen, Dich nicht vor seiner Kraft fürchten —“ „Fürchten? Jhn? Hilmar?“ lachte Fritz Werner kühn — „ich zer- breche ihn mit einer Hand —“ „Nein, ich wiederhole Dir, vor Allem mußt Du Dich hüten, ihm etwas Uebles zuzufügen; Du würdest Dir damit meinen Dank nicht erwerben. Jch meine nur, Du hättest in dem Fall wohl Einen unter Deinen Kameraden, den Du bewegen könntest —“ „Sie müssen alle thun, was ich will; ich befehle und sie gehorchen. Jch bin Primus und Anführer“ fiel der lange Fritz stolz ein. „Nun für den Fall also bleibt nichts Anderes übrig, als ihn mit Hülfe Deiner Genossen — es wird droben wohl irgend eine Kammer geben, die Du ausfindig machen kannst — gutwillig oder gewaltsam — und ich glaube fast, er wird, sobald er sieht, daß es Ernst ist, das Erstere vorziehen — sicher einzusperren, so daß er erst nach unserer Abfahrt morgen früh entdeckt und befreit wird. Sollte er sich indeß, wider meine Vermuthung, wirklich zur Wehre setzen und etwa zu schreien anfangen, so schont ihn nicht, sondern zerrauft ihm sein Milch- gesicht und seine Kleider ordentlich, daß man die Spuren deutlich an ihm bemerkt. Und dann werft ihn vor die Thür und ruft, wenn auch das ganze Haus darüber aufwachen sollte, nach Licht. Dann überlaßt das Weitere mir —“ Die Sprecherin blickte bei den letzten Worten in's Jnnere der Ruine zurück und setzte hinzu: „Jch glaube die Eulen kommen, um wieder Besitz von dem alten Gerümpel zu nehmen, und die Fackeln verschwin- den, wir müssen eilen, auf dem abschüssigen Wege nachzufolgen. Du hast verstanden, was ich gesagt, nicht wahr?“ „Ja“, stammelte Fritz Werner, „aber ich begreife nicht —“ „Handle, wie ich Dir geboten, nein, wie ich Dich gebeten“, ver- besserte Nisida, „und“ — sie zog ihn einen Augenblick tiefer in den Schatten des Mauerbruchstücks, neben dem sie standen — „Du wirst zufrieden sein, nicht wahr?“ Sie lachte unwillkürlich dazu und fügte bei: „Jetzt führe mich hübsch den Berg hinunter“ — — — Sie waren trotzdem nicht die letzten, welche die Ruine verließen. Ein Schatten hüpfte noch hinter ihnen drein, bis der Weg in Win- dungen über eine Halde hinunterstieg. Da flog der Schatten tollkühn grad' aus, so daß er vor jenen noch die Fackeln erreichte. Dann ging Otto Busse — denn er war der Schatten — sehr nachdenklich im Zuge mit. Er trug in der Hand einen halben Trödlerladen von allerlei zer- fetztem, durchnäßtem und beschmutztem Toilettenkram, Kopfputz, Schlei- fen, Bänder, auch einige Hüte darunter, denen Wirbelwind, Dornen und Wolkenbruch gleich übel mitgespielt und die Otto Busse, der all- zeit Beschäftigungslustige, aufgelesen und in ein für Frauengemüther herzzerreißendes Knäuel zusammengeballt hatte. Allein eben so thätig wie seine Hände, waren auch seine Augen und er sah gar Manches, wovon die Meisten in der Gesellschaft keine Ahnung hatten. Was ihm aber am Allerinteressantesten war, sah er erst im letzten Augen- blick, als fast alle bereits den alten Burghof verlassen. Die Jtalienerin und der lange Fritz allein zurückbleibend — das war für die von der Erzählung des alten Herrn abenteuerlich angeregte Phantasie des Kleinen ein Ereigniß von solcher Tragweite, daß er seine verdienst- vollen Bemühungen um Herren= oder besser Damenloses Gut instinc- tiv aufgab und ohne irgend egoistische Rücksicht auf die Geldtasche seines Vaters, über den triefenden Boden auf den Knieen geräuschlos an die beiden herankroch. „Klatsch!“ sagte Otto Busse jetzt plötzlich, indem er, bei den Fackeln angelangt, alle seine sorgsam aufgesammelten Schätze mit einer äußerst geringschätzigen Handbewegung in einen Graben am Wegrand warf, dessen Wasser in der rothglühenden Beleuchtung nicht eben in ein- ladendster Weise aufglänzte. „Ob der Kram da im Schmutz liegt oder oben, ist einerlei; wer ihn wieder haben will, kann ihn sich selbst holen.“ Er sah noch einen Augenblick mit Behagen zu, wie die bunten Bänder und Schleifen allmälig unter die trübe Oberfläche des Graben- wassers hinuntersanken, dann hüpfte er durch die schweigsam und frö- stelnd dahinwandernde Gesellschaft bis er Kleist's habhaft wurde, der in sich gekehrt, vereinzelt auf dem jetzt breiter werdenden Wege fort- schlenderte. Otto Busse hakte von hinten in seinen Arm und ging eine Weile stumm mit ihm vorwärts. „Bist Du müde, Kleiner?“ fragte Kleist. Otto schüttelte, nach seiner Gewohnheit bei Fragen, die ihm nicht paßten, einsilbig den Kopf und antwortete: „Nein.“ Dann öffnete er nach einer Minute die Lippen und sagte mit fast zärtlichem Tone: „Georg!“ „Was hast Du, Kleiner?“ „Nichts.“ Und Otto Busse schüttelte wieder den Kopf und schwieg. Endlich fragte er mit gleichgültiger Miene: „Bist Du schon einmal verliebt gewesen, Georg?“ Kleist lachte. „Jch könnte es leicht nach Fritzens Vorgang in Deine Ohren wer- den “, erwiderte Kleist, die Hand scherzhaft nach dem Kopf des Frag- stellers ausstreckend. „Zwick' mich, aber hör' mich.“ Otto Busse sagte es mit derselben stoischen Gelassenheit, mit welcher der Autor des klassischen Dictums es gesprochen. „Jch habe mich eigentlich falsch ausgedrückt, Georg; ich meinte, möchtest Du Dich nicht verheirathen?“ Diesmal drehte Kleist den Kopf um und erwiderte, ihn aufmerksam ansehend: „Du hast Dir doch kein Fieber bei dem Sturzbad geholt, Kleiner? daß Du hier auf der Landstraße zu deliriren anfängst?“ „Jch wüßte ein Mädchen für Dich“, fuhr Otto seelenruhig fort, „das Du lieb haben müßtest. Das ist auch falsch, denn Du hast es schon lieb, und ich glaube, sie hat Dich auch lieb. Jch weiß es schon seit sechs“ — er zählte an den Fingern — „seit sieben Stunden, und der lange Fritz könnte mich eher todtschlagen, ehe er es aus mir heraus brächte. Jch hätte es Dir auch nicht gesagt, wenn es nicht gerade um des langen Fritz und der Jtalienerin willen nothwendig wäre und ich nicht solche Angst hätte —“ Kleist faßte ihn fest an der Schulter. „ Was schwatzest Du da eigentlich, Otto?“ Der Knabe schlang den Arm bittend um den Nacken des Prima- ners. „Jch weiß mir ja nicht mehr allein zu helfen und deshalb muß ich's Dir sagen. Sie wird mir böse werden, daß ich es thue —“ Er zog Kleist's Ohr an seinen Mund und flüsterte in zitternder Eilfertigkeit ihm den Jnhalt der Unterredung zwischen Nisida und Fritz Werner, die er eben belauscht hatte, zu. Das Gesicht Georg Kleist's wurde immer starrer vor Erstaunen. „Das ist ja unmöglich, Otto“, stotterte er, „da ist ja Einer schändlicher als der Andere. Von Fritz kann ich mir so etwas denken, aber von Hilmar mit seinem scheinheili- gen Gesicht hätte ich mir, trotz der Geschichte mit der Wirthin in Andeer, doch nicht —“ „Ach, Georg“, fiel Otto Busse ihm mit fast schluchzender Stimme ins Wort, „es ist ja Alles schändlich gelogen, und ich weiß nicht wes- halb, und kann es auch gar nicht begreifen, denn ich werde immer dummer, je mehr ich darüber nachdenke. Deshalb bin ich ja grade zu Dir gekommen und habe es Dir erzählt, damit wir zusammen be- rathen können, was wir thun müssen. Bist Du denn auch gar so blind, Georg, wie Alle die Andern und merkst gar nichts und weißt nicht, daß Hilmar —“ Kleist sah ihm sprachlos in's Gesicht — „daß Hilmar —?“ wie- derholte er. „Gar kein Primaner, noch etwas Anderes, sondern ein Mädchen ist“, flüsterte Otto, die Lippen so fest wie möglich an Kleist's Ohr- muschel drückend. „Jch merkte es ja schon lange, d. h. ich wußte es immer noch nicht gewiß, wie er — wie sie nicht rauchen wollte und die lateinische Jnschrift nicht übersetzen konnte und immer mit den Handschuhen ging und manchmal plötzlich so roth und so verlegen ward. Aber Du siehst auch gar nichts und glaubtest ruhig an die dumme Geschichte mit der Wirthin, die Fritz Euch aufband, und das ist ja auch der Grund, weshalb sie — er für heute Nacht das Zimmer unten allein behalten will und es keinem von uns mit angeboten hat. Und es ist ein Glück, daß Marie das Zimmer hat, denn so können die beiden ihre schändlichen Absichten gegen sie doch nicht ausführen, wie sie es gedacht. Aber Du mußt mir die Hand darauf geben, daß Du mit keinem Wort verrathen willst, was ich Dir gesagt.“ Georg Kleist's schwermüthige Augen hatten während der letzten hastigen Mittheilung des Kleinen einen ganz anderen Ausdruck be- kommen. Der Zweifel, der anfänglich darin gelegen, schwand mehr und mehr vor einem eigenthümlich verklärten Aufleuchten und er mur- melte wie verwirrt: „Marie — Marie — deshalb also war er mir so lieb, wie ich ihn noch kaum gesehen —“ Seine Hand stützte sich auf Otto Busse's Schultern, denn ihm war, als ob die Füße haltlos unter ihm wegschwänden und er antwortete nur: „Wenn Du Dich täuschtest, Otto — Doch er brach kurz ab, denn der Gegenstand ihres Gesprächs stand an einer Biegung des Weges, wo die ersten Häuser des Dorfes begannen, plötzlich dicht vor ihnen. „Nun“, sagte Ernst Hilmar freundlich, wo seid Jhr gewesen, ich habe Euch vergeblich gesucht. Ein scharfer Beobachter hätte freilich gesehen, daß sein Blick, wäh-

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Zitationshilfe: Sonntags-Blatt. Nr. 35. Berlin, 29. August 1869, S. 274. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_sonntagsblatt35_1869/2>, abgerufen am 01.06.2024.