Talvj, Volkslieder der Serben, 1825Wittwe und Jungfrau. Ueber Sarajewo fliegt ein Falke, Suchet Kühle, um sich abzukühlen. Findet eine Tann' in Sarajewo, Drunter einen Born mit frischem Wasser, An dem Born die Wittwe Hyazinthe, Und die duft'ge, jungfräuliche Rose. Sann der Falke, alles wohl bedenkend, Ob die Wittwe Hyazinth' er küsse, Oder ob die jungfräuliche Rose? Aber sinnend kam er zum Entschlusse, Und sprach also zu sich selber leise: "Gold ist mehr werth, wenn auch abgetragen. Mehr als Silber, wenn auch neu geschmiedet." Und er küßt die Wittwe Hyazinthe. Zürnend spricht die jungfräuliche Rose: "Sarajewo! Unheil soll Dich treffen! Weil der böse Brauch in Dir begonnen, Daß die Jünglinge die Wittwen lieben, Und die greisen Greise schöne Jungfrauen!" -- Wittwe und Jungfrau. Ueber Sarajewo fliegt ein Falke, Suchet Kühle, um sich abzukühlen. Findet eine Tann' in Sarajewo, Drunter einen Born mit frischem Wasser, An dem Born die Wittwe Hyazinthe, Und die duft'ge, jungfräuliche Rose. Sann der Falke, alles wohl bedenkend, Ob die Wittwe Hyazinth' er küsse, Oder ob die jungfräuliche Rose? Aber sinnend kam er zum Entschlusse, Und sprach also zu sich selber leise: „Gold ist mehr werth, wenn auch abgetragen. Mehr als Silber, wenn auch neu geschmiedet.“ Und er küßt die Wittwe Hyazinthe. Zürnend spricht die jungfräuliche Rose: „Sarajewo! Unheil soll Dich treffen! Weil der böse Brauch in Dir begonnen, Daß die Jünglinge die Wittwen lieben, Und die greisen Greise schöne Jungfrauen!“ — <TEI> <text> <body> <div n="1"> <pb facs="#f0073" n="7"/> <div n="2"> <head> <hi rendition="#c"> <hi rendition="#b"><hi rendition="#g">Wittwe und Jungfrau</hi>.</hi> </hi> </head><lb/> <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> <lg type="poem"> <lg> <l><hi rendition="#in">U</hi>eber Sarajewo fliegt ein Falke,</l><lb/> <l>Suchet Kühle, um sich abzukühlen.</l><lb/> <l>Findet eine Tann' in Sarajewo,</l><lb/> <l>Drunter einen Born mit frischem Wasser,</l><lb/> <l>An dem Born die Wittwe Hyazinthe,</l><lb/> <l>Und die duft'ge, jungfräuliche Rose.</l><lb/> <l>Sann der Falke, alles wohl bedenkend,</l><lb/> <l>Ob die Wittwe Hyazinth' er küsse,</l><lb/> <l>Oder ob die jungfräuliche Rose?</l><lb/> <l>Aber sinnend kam er zum Entschlusse,</l><lb/> <l>Und sprach also zu sich selber leise:</l><lb/> <l>„Gold ist mehr werth, wenn auch abgetragen.</l><lb/> <l>Mehr als Silber, wenn auch neu geschmiedet.“</l><lb/> <l>Und er küßt die Wittwe Hyazinthe.</l><lb/> <l>Zürnend spricht die jungfräuliche Rose:</l><lb/> <l>„Sarajewo! Unheil soll Dich treffen!</l><lb/> <l>Weil der böse Brauch in Dir begonnen,</l><lb/> <l>Daß die Jünglinge die Wittwen lieben,</l><lb/> <l>Und die greisen Greise schöne Jungfrauen!“ —</l> </lg> </lg> </div><lb/> <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> </div> </body> </text> </TEI> [7/0073]
Wittwe und Jungfrau.
Ueber Sarajewo fliegt ein Falke,
Suchet Kühle, um sich abzukühlen.
Findet eine Tann' in Sarajewo,
Drunter einen Born mit frischem Wasser,
An dem Born die Wittwe Hyazinthe,
Und die duft'ge, jungfräuliche Rose.
Sann der Falke, alles wohl bedenkend,
Ob die Wittwe Hyazinth' er küsse,
Oder ob die jungfräuliche Rose?
Aber sinnend kam er zum Entschlusse,
Und sprach also zu sich selber leise:
„Gold ist mehr werth, wenn auch abgetragen.
Mehr als Silber, wenn auch neu geschmiedet.“
Und er küßt die Wittwe Hyazinthe.
Zürnend spricht die jungfräuliche Rose:
„Sarajewo! Unheil soll Dich treffen!
Weil der böse Brauch in Dir begonnen,
Daß die Jünglinge die Wittwen lieben,
Und die greisen Greise schöne Jungfrauen!“ —
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