Novalis: Die Christenheit oder Europa. In: Tieck/Schlegel (Hg.): Novalis. Schriften. Bd. 1. Berlin, 1826, S. 187-208.Das waren die schönen wesentlichen Züge der ächtkatholi¬ und
Das waren die ſchoͤnen weſentlichen Zuͤge der aͤchtkatholi¬ und
<TEI> <text> <body> <div n="1"> <pb facs="#f0014" n="192"/> <p>Das waren die ſchoͤnen weſentlichen Zuͤge der aͤchtkatholi¬<lb/> ſchen oder aͤcht chriſtlichen Zeiten. Noch war die Menſchheit<lb/> fuͤr dieſes herrliche Reich nicht reif, nicht gebildet genug. Es<lb/> war eine erſte Liebe, die im Drucke des Geſchaͤftlebens ent¬<lb/> ſchlummerte, deren Andenken durch eigennuͤtzige Sorgen ver¬<lb/> draͤngt, und deren Band nachher als Trug und Wahn ausge¬<lb/> ſchrien und nach ſpaͤtern Erfahrungen beurtheilt, — auf im¬<lb/> mer von einem großen Theil der Europaͤer zerriſſen wurde.<lb/> Dieſe innere große Spaltung, die zerſtoͤrende Kriege begleite¬<lb/> ten, war ein merkwuͤrdiges Zeichen der Schaͤdlichkeit der Kul¬<lb/> tur, fuͤr den Sinn des Unſichtbaren, wenigſtens einer tempo¬<lb/> rellen Schaͤdlichkeit der Kultur einer gewiſſen Stufe. Vernich¬<lb/> tet kann jener unſterbliche Sinn nicht werden, aber getruͤbt,<lb/> gelaͤhmt, von andern Sinnen verdraͤngt. — Eine laͤngere Ge¬<lb/> meinſchaft der Menſchen vermindert die Neigungen, den Glau¬<lb/> ben an ihr Geſchlecht, und gewoͤhnt ſie ihr ganzes Dichten und<lb/> Trachten, den Mitteln des Wohlbefindens allein zuzuwenden,<lb/> die Beduͤrfniſſe und die Kuͤnſte ihrer Befriedigung werden ver¬<lb/> wickelter, der habſuͤchtige Menſch hat, ſo viel Zeit noͤthig ſich<lb/> mit ihnen bekannt zu machen und Fertigkeiten in ihnen ſich zu<lb/> erwerben, daß keine Zeit zum ſtillen Sammeln des Gemuͤths,<lb/> zur aufmerkſamen Betrachtung der innern Welt uͤbrig bleibt.<lb/> — In Colliſions-Faͤllen ſcheint ihm das gegenwaͤrtige Intereſſe<lb/> naͤher zu liegen, und ſo faͤllt die ſchoͤne Bluͤte ſeiner Jugend,<lb/> Glauben und Liebe ab, und macht den derbern Fruͤchten, Wiſ¬<lb/> ſen und Haben Platz. Man gedenkt des Fruͤhlings im Spaͤt¬<lb/> herbſt, wie eines kindiſchen Traums und hofft mit kindiſcher<lb/> Einfalt, die vollen Speicher ſollen auf immer aushalten. Eine<lb/> gewiſſe Einſamkeit, ſcheint dem Gedeihen der hoͤhern Sinne<lb/> nothwendig zu ſeyn, und daher muß ein zu ausgebreiteter Um¬<lb/> gang der Menſchen mit einander, manchen heiligen Keim er¬<lb/> ſticken und die Goͤtter, die den unruhigen Tumult zerſtreuender<lb/> Geſellſchaften, und die Verhandlungen kleinlicher Angelegenhei¬<lb/> ten fliehen, verſcheuchen. Ueberdem haben wir ja mit Zeiten<lb/> <fw place="bottom" type="catch">und<lb/></fw> </p> </div> </body> </text> </TEI> [192/0014]
Das waren die ſchoͤnen weſentlichen Zuͤge der aͤchtkatholi¬
ſchen oder aͤcht chriſtlichen Zeiten. Noch war die Menſchheit
fuͤr dieſes herrliche Reich nicht reif, nicht gebildet genug. Es
war eine erſte Liebe, die im Drucke des Geſchaͤftlebens ent¬
ſchlummerte, deren Andenken durch eigennuͤtzige Sorgen ver¬
draͤngt, und deren Band nachher als Trug und Wahn ausge¬
ſchrien und nach ſpaͤtern Erfahrungen beurtheilt, — auf im¬
mer von einem großen Theil der Europaͤer zerriſſen wurde.
Dieſe innere große Spaltung, die zerſtoͤrende Kriege begleite¬
ten, war ein merkwuͤrdiges Zeichen der Schaͤdlichkeit der Kul¬
tur, fuͤr den Sinn des Unſichtbaren, wenigſtens einer tempo¬
rellen Schaͤdlichkeit der Kultur einer gewiſſen Stufe. Vernich¬
tet kann jener unſterbliche Sinn nicht werden, aber getruͤbt,
gelaͤhmt, von andern Sinnen verdraͤngt. — Eine laͤngere Ge¬
meinſchaft der Menſchen vermindert die Neigungen, den Glau¬
ben an ihr Geſchlecht, und gewoͤhnt ſie ihr ganzes Dichten und
Trachten, den Mitteln des Wohlbefindens allein zuzuwenden,
die Beduͤrfniſſe und die Kuͤnſte ihrer Befriedigung werden ver¬
wickelter, der habſuͤchtige Menſch hat, ſo viel Zeit noͤthig ſich
mit ihnen bekannt zu machen und Fertigkeiten in ihnen ſich zu
erwerben, daß keine Zeit zum ſtillen Sammeln des Gemuͤths,
zur aufmerkſamen Betrachtung der innern Welt uͤbrig bleibt.
— In Colliſions-Faͤllen ſcheint ihm das gegenwaͤrtige Intereſſe
naͤher zu liegen, und ſo faͤllt die ſchoͤne Bluͤte ſeiner Jugend,
Glauben und Liebe ab, und macht den derbern Fruͤchten, Wiſ¬
ſen und Haben Platz. Man gedenkt des Fruͤhlings im Spaͤt¬
herbſt, wie eines kindiſchen Traums und hofft mit kindiſcher
Einfalt, die vollen Speicher ſollen auf immer aushalten. Eine
gewiſſe Einſamkeit, ſcheint dem Gedeihen der hoͤhern Sinne
nothwendig zu ſeyn, und daher muß ein zu ausgebreiteter Um¬
gang der Menſchen mit einander, manchen heiligen Keim er¬
ſticken und die Goͤtter, die den unruhigen Tumult zerſtreuender
Geſellſchaften, und die Verhandlungen kleinlicher Angelegenhei¬
ten fliehen, verſcheuchen. Ueberdem haben wir ja mit Zeiten
und
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