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Novalis: Die Christenheit oder Europa. In: Tieck/Schlegel (Hg.): Novalis. Schriften. Bd. 1. Berlin, 1826, S. 187-208.

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und Perioden zu thun, und ist diesen eine Oszillation, ein
Wechsel entgegengesetzter Bewegungen nicht wesentlich? und ist
diesen eine beschränkte Dauer nicht eigenthümlich, ein Wachs¬
thum und ein Abnehmen nicht ihre Natur? aber auch eine
Auferstehung, eine Verjüngung, in neuer, tüchtiger Gestalt,
nicht auch von ihnen mit Gewißheit zu erwarten? fortschrei¬
tende, immer mehr sich vergrößernde Evolutionen sind der
Stoff der Geschichte. -- Was jetzt nicht die Vollendung erreicht,
wird sie bei einem künftigen Versuch erreichen, oder bei einem
abermaligen; vergänglich ist nichts was die Geschichte ergriff,
aus unzähligen Verwandlungen geht es in immer reicheren
Gestalten erneuet wieder hervor. Einmal war doch das Chri¬
stenthum mit voller Macht und Herrlichkeit erschienen, bis zu
einer neuen Welt-Inspiration herrschte seine Ruine, sein Buch¬
stabe mit immer zunehmender Ohnmacht und Verspottung.
Unendliche Trägheit lag schwer auf der sicher gewordenen Zunft
der Geistlichkeit. Sie war stehn geblieben im Gefühl ihres
Ansehns und ihrer Bequemlichkeit, während die Layen ihr un¬
ter den Händen Erfahrung und Gelehrsamkeit entwandt und
mächtige Schritte auf dem Wege der Bildung vorausgethan
hatten. In der Vergessenheit ihres eigentlichen Amts, die Er¬
sten unter den Menschen an Geist, Einsicht und Bildung zu
seyn, waren ihnen die niedrigen Begierden zu Kopf gewach¬
sen, und die Gemeinheit und Niedrigkeit ihrer Denkungsart
wurde durch ihre Kleidung und ihren Beruf noch widerlicher.
So fielen Achtung und Zutrauen, die Stützen dieses und jedes
Reichs, allmählig weg, und damit war jene Zunft vernichtet,
und die eigentliche Herrschaft Roms hatte lange vor der ge¬
waltsamen Insurrection stillschweigend aufgehört. Nur kluge,
also auch nur zeitliche, Maaßregeln hielten den Leichnam der
Verfassung noch zusammen, und bewahrten ihn vor zu schleuni¬
ger Auflösung, wohin denn z. B. die Abschaffung der Priester-
Ehe vorzüglich gehörte. -- Eine Maaßregel die analog ange¬
wandt auch dem ähnlichen Soldatenstand eine fürchterliche Con¬

I. R

und Perioden zu thun, und iſt dieſen eine Oszillation, ein
Wechſel entgegengeſetzter Bewegungen nicht weſentlich? und iſt
dieſen eine beſchraͤnkte Dauer nicht eigenthuͤmlich, ein Wachs¬
thum und ein Abnehmen nicht ihre Natur? aber auch eine
Auferſtehung, eine Verjuͤngung, in neuer, tuͤchtiger Geſtalt,
nicht auch von ihnen mit Gewißheit zu erwarten? fortſchrei¬
tende, immer mehr ſich vergroͤßernde Evolutionen ſind der
Stoff der Geſchichte. — Was jetzt nicht die Vollendung erreicht,
wird ſie bei einem kuͤnftigen Verſuch erreichen, oder bei einem
abermaligen; vergaͤnglich iſt nichts was die Geſchichte ergriff,
aus unzaͤhligen Verwandlungen geht es in immer reicheren
Geſtalten erneuet wieder hervor. Einmal war doch das Chri¬
ſtenthum mit voller Macht und Herrlichkeit erſchienen, bis zu
einer neuen Welt-Inſpiration herrſchte ſeine Ruine, ſein Buch¬
ſtabe mit immer zunehmender Ohnmacht und Verſpottung.
Unendliche Traͤgheit lag ſchwer auf der ſicher gewordenen Zunft
der Geiſtlichkeit. Sie war ſtehn geblieben im Gefuͤhl ihres
Anſehns und ihrer Bequemlichkeit, waͤhrend die Layen ihr un¬
ter den Haͤnden Erfahrung und Gelehrſamkeit entwandt und
maͤchtige Schritte auf dem Wege der Bildung vorausgethan
hatten. In der Vergeſſenheit ihres eigentlichen Amts, die Er¬
ſten unter den Menſchen an Geiſt, Einſicht und Bildung zu
ſeyn, waren ihnen die niedrigen Begierden zu Kopf gewach¬
ſen, und die Gemeinheit und Niedrigkeit ihrer Denkungsart
wurde durch ihre Kleidung und ihren Beruf noch widerlicher.
So fielen Achtung und Zutrauen, die Stuͤtzen dieſes und jedes
Reichs, allmaͤhlig weg, und damit war jene Zunft vernichtet,
und die eigentliche Herrſchaft Roms hatte lange vor der ge¬
waltſamen Inſurrection ſtillſchweigend aufgehoͤrt. Nur kluge,
alſo auch nur zeitliche, Maaßregeln hielten den Leichnam der
Verfaſſung noch zuſammen, und bewahrten ihn vor zu ſchleuni¬
ger Aufloͤſung, wohin denn z. B. die Abſchaffung der Prieſter-
Ehe vorzuͤglich gehoͤrte. — Eine Maaßregel die analog ange¬
wandt auch dem aͤhnlichen Soldatenſtand eine fuͤrchterliche Con¬

I. R
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[193/0015] und Perioden zu thun, und iſt dieſen eine Oszillation, ein Wechſel entgegengeſetzter Bewegungen nicht weſentlich? und iſt dieſen eine beſchraͤnkte Dauer nicht eigenthuͤmlich, ein Wachs¬ thum und ein Abnehmen nicht ihre Natur? aber auch eine Auferſtehung, eine Verjuͤngung, in neuer, tuͤchtiger Geſtalt, nicht auch von ihnen mit Gewißheit zu erwarten? fortſchrei¬ tende, immer mehr ſich vergroͤßernde Evolutionen ſind der Stoff der Geſchichte. — Was jetzt nicht die Vollendung erreicht, wird ſie bei einem kuͤnftigen Verſuch erreichen, oder bei einem abermaligen; vergaͤnglich iſt nichts was die Geſchichte ergriff, aus unzaͤhligen Verwandlungen geht es in immer reicheren Geſtalten erneuet wieder hervor. Einmal war doch das Chri¬ ſtenthum mit voller Macht und Herrlichkeit erſchienen, bis zu einer neuen Welt-Inſpiration herrſchte ſeine Ruine, ſein Buch¬ ſtabe mit immer zunehmender Ohnmacht und Verſpottung. Unendliche Traͤgheit lag ſchwer auf der ſicher gewordenen Zunft der Geiſtlichkeit. Sie war ſtehn geblieben im Gefuͤhl ihres Anſehns und ihrer Bequemlichkeit, waͤhrend die Layen ihr un¬ ter den Haͤnden Erfahrung und Gelehrſamkeit entwandt und maͤchtige Schritte auf dem Wege der Bildung vorausgethan hatten. In der Vergeſſenheit ihres eigentlichen Amts, die Er¬ ſten unter den Menſchen an Geiſt, Einſicht und Bildung zu ſeyn, waren ihnen die niedrigen Begierden zu Kopf gewach¬ ſen, und die Gemeinheit und Niedrigkeit ihrer Denkungsart wurde durch ihre Kleidung und ihren Beruf noch widerlicher. So fielen Achtung und Zutrauen, die Stuͤtzen dieſes und jedes Reichs, allmaͤhlig weg, und damit war jene Zunft vernichtet, und die eigentliche Herrſchaft Roms hatte lange vor der ge¬ waltſamen Inſurrection ſtillſchweigend aufgehoͤrt. Nur kluge, alſo auch nur zeitliche, Maaßregeln hielten den Leichnam der Verfaſſung noch zuſammen, und bewahrten ihn vor zu ſchleuni¬ ger Aufloͤſung, wohin denn z. B. die Abſchaffung der Prieſter- Ehe vorzuͤglich gehoͤrte. — Eine Maaßregel die analog ange¬ wandt auch dem aͤhnlichen Soldatenſtand eine fuͤrchterliche Con¬ I. R

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Zitationshilfe: Novalis: Die Christenheit oder Europa. In: Tieck/Schlegel (Hg.): Novalis. Schriften. Bd. 1. Berlin, 1826, S. 187-208, hier S. 193. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/novalis_christenheit_1826/15>, abgerufen am 09.11.2024.