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Novalis: Die Christenheit oder Europa. In: Tieck/Schlegel (Hg.): Novalis. Schriften. Bd. 1. Berlin, 1826, S. 187-208.

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sistenz verleihen und sein Leben noch lange fristen könnte.
Was war natürlicher, als daß endlich ein feuerfangender Kopf
öffentlichen Aufstand gegen den despotischen Buchstaben der
ehemahligen Verfassung predigte, und mit um so größerm Glück,
da er selbst Zunft-Genosse war. --

Mit Recht nannten sich die Insurgenten Protestanten, denn
sie protestirten feyerlich gegen jede Anmaßung einer unbeque¬
men und unrechtmäßig scheinenden Gewalt über das Gewissen.
Sie nahmen ihr stillschweigend abgegebenes Recht auf Reli¬
gions-Untersuchung, Bestimmung und Wahl, als vakant wie¬
der einstweilen an sich zurück. Sie stellten auch eine Menge
richtiger Grundsätze auf, führten eine Menge löblicher Dinge ein,
und schafften eine Menge verderblicher Satzungen ab; aber sie
vergaßen das nothwendige Resultat ihres Prozesses; trennten
das Untrennbare, theilten die untheilbare Kirche und rissen
sich frevelnd aus dem allgemeinen christlichen Verein, durch
welchen und in welchem allein die ächte, dauernde Wiederge¬
burt möglich war. Der Zustand religiöser Anarchie darf nur
vorübergehend seyn, denn der nothwendige Grund, eine Zahl
Menschen lediglich diesem hohen Berufe zu widmen, und diese
Zahl Menschen unabhängig von der irdischen Gewalt in Rück¬
sicht dieser Angelegenheiten zu machen, bleibt in fortdauernder
Wirksamkeit und Gültigkeit. -- Die Errichtung der Consisto¬
rien und die Beibehaltung einer Art Geistlichkeit half diesem
Bedürfnisse nicht ab, und war kein zureichender Ersatz. Unglück¬
licher Weise hatten sich die Fürsten in diese Spaltung gemischt,
und viele benutzten diese Streitigkeiten zur Befestigung und
Erweiterung ihrer landesherrlichen Gewalt und Einkünfte.
Sie waren froh jenes hohen Einflusses überhoben zu seyn
und nahmen die neuen Consistorien nun unter ihre landesvä¬
terliche Beschützung und Leitung. Sie waren eifrigst besorgt
die gänzliche Vereinigung der protestantischen Kirchen zu hin¬
dern, und so wurde die Religion irreligiöser Weise in Staats-
Gränzen eingeschlossen, und damit der Grund zur allmähligen

ſiſtenz verleihen und ſein Leben noch lange friſten koͤnnte.
Was war natuͤrlicher, als daß endlich ein feuerfangender Kopf
oͤffentlichen Aufſtand gegen den despotiſchen Buchſtaben der
ehemahligen Verfaſſung predigte, und mit um ſo groͤßerm Gluͤck,
da er ſelbſt Zunft-Genoſſe war. —

Mit Recht nannten ſich die Inſurgenten Proteſtanten, denn
ſie proteſtirten feyerlich gegen jede Anmaßung einer unbeque¬
men und unrechtmaͤßig ſcheinenden Gewalt uͤber das Gewiſſen.
Sie nahmen ihr ſtillſchweigend abgegebenes Recht auf Reli¬
gions-Unterſuchung, Beſtimmung und Wahl, als vakant wie¬
der einſtweilen an ſich zuruͤck. Sie ſtellten auch eine Menge
richtiger Grundſaͤtze auf, fuͤhrten eine Menge loͤblicher Dinge ein,
und ſchafften eine Menge verderblicher Satzungen ab; aber ſie
vergaßen das nothwendige Reſultat ihres Prozeſſes; trennten
das Untrennbare, theilten die untheilbare Kirche und riſſen
ſich frevelnd aus dem allgemeinen chriſtlichen Verein, durch
welchen und in welchem allein die aͤchte, dauernde Wiederge¬
burt moͤglich war. Der Zuſtand religioͤſer Anarchie darf nur
voruͤbergehend ſeyn, denn der nothwendige Grund, eine Zahl
Menſchen lediglich dieſem hohen Berufe zu widmen, und dieſe
Zahl Menſchen unabhaͤngig von der irdiſchen Gewalt in Ruͤck¬
ſicht dieſer Angelegenheiten zu machen, bleibt in fortdauernder
Wirkſamkeit und Guͤltigkeit. — Die Errichtung der Conſiſto¬
rien und die Beibehaltung einer Art Geiſtlichkeit half dieſem
Beduͤrfniſſe nicht ab, und war kein zureichender Erſatz. Ungluͤck¬
licher Weiſe hatten ſich die Fuͤrſten in dieſe Spaltung gemiſcht,
und viele benutzten dieſe Streitigkeiten zur Befeſtigung und
Erweiterung ihrer landesherrlichen Gewalt und Einkuͤnfte.
Sie waren froh jenes hohen Einfluſſes uͤberhoben zu ſeyn
und nahmen die neuen Conſiſtorien nun unter ihre landesvaͤ¬
terliche Beſchuͤtzung und Leitung. Sie waren eifrigſt beſorgt
die gaͤnzliche Vereinigung der proteſtantiſchen Kirchen zu hin¬
dern, und ſo wurde die Religion irreligioͤſer Weiſe in Staats-
Graͤnzen eingeſchloſſen, und damit der Grund zur allmaͤhligen

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[194/0016] ſiſtenz verleihen und ſein Leben noch lange friſten koͤnnte. Was war natuͤrlicher, als daß endlich ein feuerfangender Kopf oͤffentlichen Aufſtand gegen den despotiſchen Buchſtaben der ehemahligen Verfaſſung predigte, und mit um ſo groͤßerm Gluͤck, da er ſelbſt Zunft-Genoſſe war. — Mit Recht nannten ſich die Inſurgenten Proteſtanten, denn ſie proteſtirten feyerlich gegen jede Anmaßung einer unbeque¬ men und unrechtmaͤßig ſcheinenden Gewalt uͤber das Gewiſſen. Sie nahmen ihr ſtillſchweigend abgegebenes Recht auf Reli¬ gions-Unterſuchung, Beſtimmung und Wahl, als vakant wie¬ der einſtweilen an ſich zuruͤck. Sie ſtellten auch eine Menge richtiger Grundſaͤtze auf, fuͤhrten eine Menge loͤblicher Dinge ein, und ſchafften eine Menge verderblicher Satzungen ab; aber ſie vergaßen das nothwendige Reſultat ihres Prozeſſes; trennten das Untrennbare, theilten die untheilbare Kirche und riſſen ſich frevelnd aus dem allgemeinen chriſtlichen Verein, durch welchen und in welchem allein die aͤchte, dauernde Wiederge¬ burt moͤglich war. Der Zuſtand religioͤſer Anarchie darf nur voruͤbergehend ſeyn, denn der nothwendige Grund, eine Zahl Menſchen lediglich dieſem hohen Berufe zu widmen, und dieſe Zahl Menſchen unabhaͤngig von der irdiſchen Gewalt in Ruͤck¬ ſicht dieſer Angelegenheiten zu machen, bleibt in fortdauernder Wirkſamkeit und Guͤltigkeit. — Die Errichtung der Conſiſto¬ rien und die Beibehaltung einer Art Geiſtlichkeit half dieſem Beduͤrfniſſe nicht ab, und war kein zureichender Erſatz. Ungluͤck¬ licher Weiſe hatten ſich die Fuͤrſten in dieſe Spaltung gemiſcht, und viele benutzten dieſe Streitigkeiten zur Befeſtigung und Erweiterung ihrer landesherrlichen Gewalt und Einkuͤnfte. Sie waren froh jenes hohen Einfluſſes uͤberhoben zu ſeyn und nahmen die neuen Conſiſtorien nun unter ihre landesvaͤ¬ terliche Beſchuͤtzung und Leitung. Sie waren eifrigſt beſorgt die gaͤnzliche Vereinigung der proteſtantiſchen Kirchen zu hin¬ dern, und ſo wurde die Religion irreligioͤſer Weiſe in Staats- Graͤnzen eingeſchloſſen, und damit der Grund zur allmaͤhligen

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Zitationshilfe: Novalis: Die Christenheit oder Europa. In: Tieck/Schlegel (Hg.): Novalis. Schriften. Bd. 1. Berlin, 1826, S. 187-208, hier S. 194. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/novalis_christenheit_1826/16>, abgerufen am 23.11.2024.