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Novalis: Die Christenheit oder Europa. In: Tieck/Schlegel (Hg.): Novalis. Schriften. Bd. 1. Berlin, 1826, S. 187-208.

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Himmels, bald nachher ist schon die Vertrocknung des heili¬
gen Sinns bemerklich; das Weltliche hat die Oberhand ge¬
wonnen, der Kunstsinn leidet sympathetisch mit, nur selten,
daß hie und da ein gediegener, ewiger Lebensfunke hervor¬
springt, und eine kleine Gemeinde sich assimilirt. Er verlischt
und die Gemeinde fließt wieder auseinander und schwimmt mit
dem Strome fort. So Zinzendorf, Jacob Böhme und meh¬
rere. Die Moderatisten behalten die Oberhand, und die Zeit
nähert sich einer gänzlichen Atonie der höhern Organe, der
Periode des praktischen Unglaubens. Mit der Reformation
wars um die Christenheit gethan. Von nun an war keine
mehr vorhanden. Katholiken und Protestanten oder Refor¬
mirte standen in sektirischer Abgeschnittenheit weiter von einan¬
der, als von Mahomedanern und Heiden. Die übriggebliebe¬
nen katholischen Staaten vegetirten fort, nicht ohne den schäd¬
lichen Einfluß der benachbarten protestantischen Staaten un¬
merklich zu fühlen. Die neuere Politik entstand erst in diesem
Zeitpunkt, und einzelne mächtige Staaten suchten den vakan¬
ten Universalstuhl, in einen Thron verwandelt, in Besitz zu
nehmen.

Den meisten Fürsten schien es eine Erniedrigung sich nach
einem ohnmächtigen Geistlichen zu geniren. -- Sie fühlten
zum erstenmal das Gewicht ihrer körperlichen Kraft auf Er¬
den, sahen die himmlischen Mächte unthätig bei Verletzung ih¬
rer Repräsentanten, und suchten nun allgemach ohne Aufsehn
vor den noch eifrig päbstlich gesinnten Unterthanen das lästige
römische Joch abzuwerfen und sich unabhängig auf Erden zu
machen. -- Ihr unruhiges Gewissen beruhigten kluge Seelsor¬
ger, die nichts dabei verloren, daß ihre geistlichen Kinder die
Disposition über das Kirchenvermögen sich anmaßten.

Zum Glück für die alte Verfassung that sich jetzt ein neu
entstandener Orden hervor, auf welchen der sterbende Geist
der Hierarchie seine letzten Gaben ausgegossen zu haben schien,
der mit neuer Kraft das Alte zurüstete und mit wunderbarer

Himmels, bald nachher iſt ſchon die Vertrocknung des heili¬
gen Sinns bemerklich; das Weltliche hat die Oberhand ge¬
wonnen, der Kunſtſinn leidet ſympathetiſch mit, nur ſelten,
daß hie und da ein gediegener, ewiger Lebensfunke hervor¬
ſpringt, und eine kleine Gemeinde ſich aſſimilirt. Er verliſcht
und die Gemeinde fließt wieder auseinander und ſchwimmt mit
dem Strome fort. So Zinzendorf, Jacob Boͤhme und meh¬
rere. Die Moderatiſten behalten die Oberhand, und die Zeit
naͤhert ſich einer gaͤnzlichen Atonie der hoͤhern Organe, der
Periode des praktiſchen Unglaubens. Mit der Reformation
wars um die Chriſtenheit gethan. Von nun an war keine
mehr vorhanden. Katholiken und Proteſtanten oder Refor¬
mirte ſtanden in ſektiriſcher Abgeſchnittenheit weiter von einan¬
der, als von Mahomedanern und Heiden. Die uͤbriggebliebe¬
nen katholiſchen Staaten vegetirten fort, nicht ohne den ſchaͤd¬
lichen Einfluß der benachbarten proteſtantiſchen Staaten un¬
merklich zu fuͤhlen. Die neuere Politik entſtand erſt in dieſem
Zeitpunkt, und einzelne maͤchtige Staaten ſuchten den vakan¬
ten Univerſalſtuhl, in einen Thron verwandelt, in Beſitz zu
nehmen.

Den meiſten Fuͤrſten ſchien es eine Erniedrigung ſich nach
einem ohnmaͤchtigen Geiſtlichen zu geniren. — Sie fuͤhlten
zum erſtenmal das Gewicht ihrer koͤrperlichen Kraft auf Er¬
den, ſahen die himmliſchen Maͤchte unthaͤtig bei Verletzung ih¬
rer Repraͤſentanten, und ſuchten nun allgemach ohne Aufſehn
vor den noch eifrig paͤbſtlich geſinnten Unterthanen das laͤſtige
roͤmiſche Joch abzuwerfen und ſich unabhaͤngig auf Erden zu
machen. — Ihr unruhiges Gewiſſen beruhigten kluge Seelſor¬
ger, die nichts dabei verloren, daß ihre geiſtlichen Kinder die
Dispoſition uͤber das Kirchenvermoͤgen ſich anmaßten.

Zum Gluͤck fuͤr die alte Verfaſſung that ſich jetzt ein neu
entſtandener Orden hervor, auf welchen der ſterbende Geiſt
der Hierarchie ſeine letzten Gaben ausgegoſſen zu haben ſchien,
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[196/0018] Himmels, bald nachher iſt ſchon die Vertrocknung des heili¬ gen Sinns bemerklich; das Weltliche hat die Oberhand ge¬ wonnen, der Kunſtſinn leidet ſympathetiſch mit, nur ſelten, daß hie und da ein gediegener, ewiger Lebensfunke hervor¬ ſpringt, und eine kleine Gemeinde ſich aſſimilirt. Er verliſcht und die Gemeinde fließt wieder auseinander und ſchwimmt mit dem Strome fort. So Zinzendorf, Jacob Boͤhme und meh¬ rere. Die Moderatiſten behalten die Oberhand, und die Zeit naͤhert ſich einer gaͤnzlichen Atonie der hoͤhern Organe, der Periode des praktiſchen Unglaubens. Mit der Reformation wars um die Chriſtenheit gethan. Von nun an war keine mehr vorhanden. Katholiken und Proteſtanten oder Refor¬ mirte ſtanden in ſektiriſcher Abgeſchnittenheit weiter von einan¬ der, als von Mahomedanern und Heiden. Die uͤbriggebliebe¬ nen katholiſchen Staaten vegetirten fort, nicht ohne den ſchaͤd¬ lichen Einfluß der benachbarten proteſtantiſchen Staaten un¬ merklich zu fuͤhlen. Die neuere Politik entſtand erſt in dieſem Zeitpunkt, und einzelne maͤchtige Staaten ſuchten den vakan¬ ten Univerſalſtuhl, in einen Thron verwandelt, in Beſitz zu nehmen. Den meiſten Fuͤrſten ſchien es eine Erniedrigung ſich nach einem ohnmaͤchtigen Geiſtlichen zu geniren. — Sie fuͤhlten zum erſtenmal das Gewicht ihrer koͤrperlichen Kraft auf Er¬ den, ſahen die himmliſchen Maͤchte unthaͤtig bei Verletzung ih¬ rer Repraͤſentanten, und ſuchten nun allgemach ohne Aufſehn vor den noch eifrig paͤbſtlich geſinnten Unterthanen das laͤſtige roͤmiſche Joch abzuwerfen und ſich unabhaͤngig auf Erden zu machen. — Ihr unruhiges Gewiſſen beruhigten kluge Seelſor¬ ger, die nichts dabei verloren, daß ihre geiſtlichen Kinder die Dispoſition uͤber das Kirchenvermoͤgen ſich anmaßten. Zum Gluͤck fuͤr die alte Verfaſſung that ſich jetzt ein neu entſtandener Orden hervor, auf welchen der ſterbende Geiſt der Hierarchie ſeine letzten Gaben ausgegoſſen zu haben ſchien, der mit neuer Kraft das Alte zuruͤſtete und mit wunderbarer

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Zitationshilfe: Novalis: Die Christenheit oder Europa. In: Tieck/Schlegel (Hg.): Novalis. Schriften. Bd. 1. Berlin, 1826, S. 187-208, hier S. 196. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/novalis_christenheit_1826/18>, abgerufen am 21.11.2024.