Novalis: Die Christenheit oder Europa. In: Tieck/Schlegel (Hg.): Novalis. Schriften. Bd. 1. Berlin, 1826, S. 187-208.Einsicht und Beharrlichkeit, klüger, als je vorher geschehen, sich Einſicht und Beharrlichkeit, kluͤger, als je vorher geſchehen, ſich <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0019" n="197"/> Einſicht und Beharrlichkeit, kluͤger, als je vorher geſchehen, ſich<lb/> des paͤbſtlichen Reichs und ſeiner maͤchtigern Regeneration an¬<lb/> nahm. Noch war keine ſolche Geſellſchaft in der Weltgeſchichte<lb/> anzutreffen geweſen Mit groͤßerer Sicherheit des Erfolgs hatte<lb/> ſelbſt der alte roͤmiſche Senat nicht Plaͤne zur Welteroberung<lb/> entworfen. Mit groͤßerem Verſtand war an die Ausfuͤhrung<lb/> einer groͤßeren Idee noch nicht gedacht worden. Ewig wird<lb/> dieſe Geſellſchaft ein Muſter aller Geſellſchaften ſeyn, die eine<lb/> organiſche Sehnſucht nach unendlicher Verbreitung und ewiger<lb/> Dauer fuͤhlen, — aber auch ewig ein Beweis, daß die unbe¬<lb/> wachte Zeit allein die kluͤgſten Unternehmungen vereitelt, und<lb/> der natuͤrliche Wachsthum des ganzen Geſchlechts unaufhaltſam<lb/> den kuͤnſtlichen Wachsthum eines Theils unterdruͤckt. Alles<lb/> Einzelne fuͤr ſich hat ein eigenes Maaß von Faͤhigkeit, nur die<lb/> Capacitaͤt des Geſchlechts iſt unermeßlich. Alle Plaͤne muͤſſen<lb/> fehlſchlagen, die nicht auf alle Anlagen des Geſchlechts voll¬<lb/> ſtaͤndig angelegte Plaͤne ſind. Noch merkwuͤrdiger wird dieſe<lb/> Geſellſchaft, als Mutter der ſogenannten geheimen Geſellſchaf¬<lb/> ten, eines jetzt noch unreifen, aber gewiß wichtigen geſchichtli¬<lb/> chen Keims. Einen gefaͤhrlichern Nebenbuhler konnte der neue<lb/> Lutheranismus, nicht Proteſtantismus, gewiß nicht erhalten. Alle<lb/> Zauber des katholiſchen Glaubens wurden unter ſeiner Hand<lb/> noch kraͤftiger, die Schaͤtze der Wiſſenſchaften floſſen in ſeine<lb/> Zelle zuruͤck. Was in Europa verloren war, ſuchten ſie in<lb/> den andern Welttheilen, in dem fernſten Abend und Morgen,<lb/> vielfach wieder zu gewinnen, und die apoſtoliſche Wuͤrde und<lb/> Beruf ſich zuzueignen und geltend zu machen. Auch ſie blieben<lb/> in den Bemuͤhungen nach Popularitaͤt nicht zuruͤck, und wu߬<lb/> ten wohl wieviel Luther ſeinen demagogiſchen Kuͤnſten, ſeinem<lb/> Studium des gemeinen Volks zu verdanken gehabt hatte. Ue¬<lb/> berall legten ſie Schulen an, drangen in die Beichtſtuͤhle, be¬<lb/> ſtiegen die Katheder und beſchaͤftigten die Preſſen, wurden<lb/> Dichter und Weltweiſe, Miniſter und Maͤrtyrer, und blieben<lb/> in der ungeheuren Ausdehnung von Amerika uͤber Europa nach<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [197/0019]
Einſicht und Beharrlichkeit, kluͤger, als je vorher geſchehen, ſich
des paͤbſtlichen Reichs und ſeiner maͤchtigern Regeneration an¬
nahm. Noch war keine ſolche Geſellſchaft in der Weltgeſchichte
anzutreffen geweſen Mit groͤßerer Sicherheit des Erfolgs hatte
ſelbſt der alte roͤmiſche Senat nicht Plaͤne zur Welteroberung
entworfen. Mit groͤßerem Verſtand war an die Ausfuͤhrung
einer groͤßeren Idee noch nicht gedacht worden. Ewig wird
dieſe Geſellſchaft ein Muſter aller Geſellſchaften ſeyn, die eine
organiſche Sehnſucht nach unendlicher Verbreitung und ewiger
Dauer fuͤhlen, — aber auch ewig ein Beweis, daß die unbe¬
wachte Zeit allein die kluͤgſten Unternehmungen vereitelt, und
der natuͤrliche Wachsthum des ganzen Geſchlechts unaufhaltſam
den kuͤnſtlichen Wachsthum eines Theils unterdruͤckt. Alles
Einzelne fuͤr ſich hat ein eigenes Maaß von Faͤhigkeit, nur die
Capacitaͤt des Geſchlechts iſt unermeßlich. Alle Plaͤne muͤſſen
fehlſchlagen, die nicht auf alle Anlagen des Geſchlechts voll¬
ſtaͤndig angelegte Plaͤne ſind. Noch merkwuͤrdiger wird dieſe
Geſellſchaft, als Mutter der ſogenannten geheimen Geſellſchaf¬
ten, eines jetzt noch unreifen, aber gewiß wichtigen geſchichtli¬
chen Keims. Einen gefaͤhrlichern Nebenbuhler konnte der neue
Lutheranismus, nicht Proteſtantismus, gewiß nicht erhalten. Alle
Zauber des katholiſchen Glaubens wurden unter ſeiner Hand
noch kraͤftiger, die Schaͤtze der Wiſſenſchaften floſſen in ſeine
Zelle zuruͤck. Was in Europa verloren war, ſuchten ſie in
den andern Welttheilen, in dem fernſten Abend und Morgen,
vielfach wieder zu gewinnen, und die apoſtoliſche Wuͤrde und
Beruf ſich zuzueignen und geltend zu machen. Auch ſie blieben
in den Bemuͤhungen nach Popularitaͤt nicht zuruͤck, und wu߬
ten wohl wieviel Luther ſeinen demagogiſchen Kuͤnſten, ſeinem
Studium des gemeinen Volks zu verdanken gehabt hatte. Ue¬
berall legten ſie Schulen an, drangen in die Beichtſtuͤhle, be¬
ſtiegen die Katheder und beſchaͤftigten die Preſſen, wurden
Dichter und Weltweiſe, Miniſter und Maͤrtyrer, und blieben
in der ungeheuren Ausdehnung von Amerika uͤber Europa nach
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