Novalis: Die Christenheit oder Europa. In: Tieck/Schlegel (Hg.): Novalis. Schriften. Bd. 1. Berlin, 1826, S. 187-208.zuerst treffen, das am meisten modernisirt war, und am läng¬ Ruhig und unbefangen betrachte der ächte Beobachter die zuerſt treffen, das am meiſten moderniſirt war, und am laͤng¬ Ruhig und unbefangen betrachte der aͤchte Beobachter die <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0023" n="201"/> zuerſt treffen, das am meiſten moderniſirt war, und am laͤng¬<lb/> ſten aus Mangel an Freiheit in aſtheniſchem Zuſtande gelegen<lb/> hatte. Laͤngſt haͤtte ſich das uͤberirdiſche Feuer Luft gemacht,<lb/> und die klugen Aufklaͤrungs-Plaͤne vereitelt, wenn nicht welt¬<lb/> licher Druck und Einfluß denſelben zu Statten gekommen waͤ¬<lb/> ren. In dem Augenblick aber, wo ein Zwieſpalt unter den<lb/> Gelehrten und Regierungen, unter den Feinden der Religion<lb/> und ihrer ganzen Genoſſenſchaft entſtand, mußte ſie wieder als<lb/> drittes tonangebendes vermittelndes Glied hervortreten, und<lb/> dieſen Hervortritt muß nun jeder Freund derſelben anerkennen<lb/> und verkuͤndigen, wenn er noch nicht merklich genug ſeyn ſollte.<lb/> Daß die Zeit der Auferſtehung gekommen iſt, und grade die<lb/> Begebenheiten, die gegen ihre Belebung gerichtet zu ſeyn ſchie¬<lb/> nen und ihren Untergang zu vollenden drohten, die guͤnſtigſten<lb/> Zeichen ihrer Regeneration geworden ſind, dieſes kann einem<lb/> hiſtoriſchen Gemuͤthe gar nicht zweifelhaft bleiben. Wahrhafte<lb/> Anarchie iſt das Zeugungselement der Religion. Aus der Ver¬<lb/> nichtung alles Poſitiven hebt ſie ihr glorreiches Haupt als<lb/> neue Weltſtifterin empor. Wie von ſelbſt ſteigt der Menſch<lb/> gen Himmel auf, wenn ihn nichts mehr bindet, die hoͤhern Or¬<lb/> gane treten von ſelbſt aus der allgemeinen gleichfoͤrmigen Mi¬<lb/> ſchung und vollſtaͤndigen Aufloͤſung aller menſchlichen Anlagen<lb/> und Kraͤfte, als der Urkern der irdiſchen Geſtaltung zuerſt her¬<lb/> aus. Der Geiſt Gottes ſchwebt uͤber den Waſſern und ein<lb/> himmliſches Eiland wird als Wohnſtaͤtte der neuen Menſchen,<lb/> als Stromgebiet des ewigen Lebens zuerſt ſichtbar uͤber den<lb/> zuruͤckſtroͤmenden Wogen.</p><lb/> <p>Ruhig und unbefangen betrachte der aͤchte Beobachter die<lb/> neuen ſtaatsumwaͤlzenden Zeiten. Kommt ihm der Staats¬<lb/> umwaͤlzer nicht wie Siſyphus vor? Jetzt hat er die Spitze<lb/> des Gleichgewichts erreicht und ſchon rollt die maͤchtige Laſt<lb/> auf der andern Seite wieder herunter. Sie wird nie oben<lb/> bleiben, wenn nicht eine Anziehung gegen den Himmel ſie auf<lb/> der Hoͤhe ſchwebend erhaͤlt. Alle eure Stuͤtzen ſind zu ſchwach,<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [201/0023]
zuerſt treffen, das am meiſten moderniſirt war, und am laͤng¬
ſten aus Mangel an Freiheit in aſtheniſchem Zuſtande gelegen
hatte. Laͤngſt haͤtte ſich das uͤberirdiſche Feuer Luft gemacht,
und die klugen Aufklaͤrungs-Plaͤne vereitelt, wenn nicht welt¬
licher Druck und Einfluß denſelben zu Statten gekommen waͤ¬
ren. In dem Augenblick aber, wo ein Zwieſpalt unter den
Gelehrten und Regierungen, unter den Feinden der Religion
und ihrer ganzen Genoſſenſchaft entſtand, mußte ſie wieder als
drittes tonangebendes vermittelndes Glied hervortreten, und
dieſen Hervortritt muß nun jeder Freund derſelben anerkennen
und verkuͤndigen, wenn er noch nicht merklich genug ſeyn ſollte.
Daß die Zeit der Auferſtehung gekommen iſt, und grade die
Begebenheiten, die gegen ihre Belebung gerichtet zu ſeyn ſchie¬
nen und ihren Untergang zu vollenden drohten, die guͤnſtigſten
Zeichen ihrer Regeneration geworden ſind, dieſes kann einem
hiſtoriſchen Gemuͤthe gar nicht zweifelhaft bleiben. Wahrhafte
Anarchie iſt das Zeugungselement der Religion. Aus der Ver¬
nichtung alles Poſitiven hebt ſie ihr glorreiches Haupt als
neue Weltſtifterin empor. Wie von ſelbſt ſteigt der Menſch
gen Himmel auf, wenn ihn nichts mehr bindet, die hoͤhern Or¬
gane treten von ſelbſt aus der allgemeinen gleichfoͤrmigen Mi¬
ſchung und vollſtaͤndigen Aufloͤſung aller menſchlichen Anlagen
und Kraͤfte, als der Urkern der irdiſchen Geſtaltung zuerſt her¬
aus. Der Geiſt Gottes ſchwebt uͤber den Waſſern und ein
himmliſches Eiland wird als Wohnſtaͤtte der neuen Menſchen,
als Stromgebiet des ewigen Lebens zuerſt ſichtbar uͤber den
zuruͤckſtroͤmenden Wogen.
Ruhig und unbefangen betrachte der aͤchte Beobachter die
neuen ſtaatsumwaͤlzenden Zeiten. Kommt ihm der Staats¬
umwaͤlzer nicht wie Siſyphus vor? Jetzt hat er die Spitze
des Gleichgewichts erreicht und ſchon rollt die maͤchtige Laſt
auf der andern Seite wieder herunter. Sie wird nie oben
bleiben, wenn nicht eine Anziehung gegen den Himmel ſie auf
der Hoͤhe ſchwebend erhaͤlt. Alle eure Stuͤtzen ſind zu ſchwach,
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