Ich war darauf im Traume unter den herr¬ lichsten Gestalten und Menschen, und unend¬ liche Zeiten gaukelten mit mannichfaltigen Veränderungen vor meinen Augen vorüber. Wie gelöst war meine Zunge, und was ich sprach, klang wie Musik. Darauf ward al¬ les wieder dunkel und eng und gewöhnlich; ich sah deine Mutter mit freundlichem, ver¬ schämten Blick vor mir; sie hielt ein glän¬ zendes Kind in den Armen, und reichte mir es hin, als auf einmal das Kind zusehends wuchs, immer heller und glänzender ward, und sich endlich mit blendendweißen Flügeln über uns erhob, uns beyde in seinen Arm nahm, und so hoch mit uns flog, daß die Erde nur wie eine goldene Schüssel mit dem saubersten Schnitzwerk aussah. Dann erinne¬ re ich mir nur, daß wieder jene Blume und der Berg und der Greis vorkamen; aber ich erwachte bald darauf und fühlte mich von
Ich war darauf im Traume unter den herr¬ lichſten Geſtalten und Menſchen, und unend¬ liche Zeiten gaukelten mit mannichfaltigen Veränderungen vor meinen Augen vorüber. Wie gelöſt war meine Zunge, und was ich ſprach, klang wie Muſik. Darauf ward al¬ les wieder dunkel und eng und gewöhnlich; ich ſah deine Mutter mit freundlichem, ver¬ ſchämten Blick vor mir; ſie hielt ein glän¬ zendes Kind in den Armen, und reichte mir es hin, als auf einmal das Kind zuſehends wuchs, immer heller und glänzender ward, und ſich endlich mit blendendweißen Flügeln über uns erhob, uns beyde in ſeinen Arm nahm, und ſo hoch mit uns flog, daß die Erde nur wie eine goldene Schüſſel mit dem ſauberſten Schnitzwerk ausſah. Dann erinne¬ re ich mir nur, daß wieder jene Blume und der Berg und der Greis vorkamen; aber ich erwachte bald darauf und fühlte mich von
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><pbfacs="#f0036"n="28"/><p>Ich war darauf im Traume unter den herr¬<lb/>
lichſten Geſtalten und Menſchen, und unend¬<lb/>
liche Zeiten gaukelten mit mannichfaltigen<lb/>
Veränderungen vor meinen Augen vorüber.<lb/>
Wie gelöſt war meine Zunge, und was ich<lb/>ſprach, klang wie Muſik. Darauf ward al¬<lb/>
les wieder dunkel und eng und gewöhnlich;<lb/>
ich ſah deine Mutter mit freundlichem, ver¬<lb/>ſchämten Blick vor mir; ſie hielt ein glän¬<lb/>
zendes Kind in den Armen, und reichte mir<lb/>
es hin, als auf einmal das Kind zuſehends<lb/>
wuchs, immer heller und glänzender ward,<lb/>
und ſich endlich mit blendendweißen Flügeln<lb/>
über uns erhob, uns beyde in ſeinen Arm<lb/>
nahm, und ſo hoch mit uns flog, daß die<lb/>
Erde nur wie eine goldene Schüſſel mit dem<lb/>ſauberſten Schnitzwerk ausſah. Dann erinne¬<lb/>
re ich mir nur, daß wieder jene Blume und<lb/>
der Berg und der Greis vorkamen; aber ich<lb/>
erwachte bald darauf und fühlte mich von<lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[28/0036]
Ich war darauf im Traume unter den herr¬
lichſten Geſtalten und Menſchen, und unend¬
liche Zeiten gaukelten mit mannichfaltigen
Veränderungen vor meinen Augen vorüber.
Wie gelöſt war meine Zunge, und was ich
ſprach, klang wie Muſik. Darauf ward al¬
les wieder dunkel und eng und gewöhnlich;
ich ſah deine Mutter mit freundlichem, ver¬
ſchämten Blick vor mir; ſie hielt ein glän¬
zendes Kind in den Armen, und reichte mir
es hin, als auf einmal das Kind zuſehends
wuchs, immer heller und glänzender ward,
und ſich endlich mit blendendweißen Flügeln
über uns erhob, uns beyde in ſeinen Arm
nahm, und ſo hoch mit uns flog, daß die
Erde nur wie eine goldene Schüſſel mit dem
ſauberſten Schnitzwerk ausſah. Dann erinne¬
re ich mir nur, daß wieder jene Blume und
der Berg und der Greis vorkamen; aber ich
erwachte bald darauf und fühlte mich von
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Novalis: Heinrich von Ofterdingen. Berlin, 1802, S. 28. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/novalis_ofterdingen_1802/36>, abgerufen am 21.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.