Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Otto, Louise: Schloß und Fabrik, Bd. 2. Leipzig, 1846.

Bild:
<< vorherige Seite

daß Diejenigen, welche mir nahe stehen, die Ursache sind, welche uns verhindern sollte, unser Versprechen zu halten, und Sie mögen deshalb keine Klagen wider sie erheben -- ich ehre das, denn Vorurtheile sind gewiß auf beiden Seiten, und diejenigen, in welchen ein Mensch erzogen ist, leben mit ihm fort und beherrschen ihn, so daß er von einem andern Standpunkt aus ungerecht erscheint, wo er auf dem, welchen er nun einmal einnimmt, von Gerechtigkeit reden kann. Ich aber bin in den Lehren Ihres Bruders erzogen, welchem ich in der Stunde, wo er von mir Abschied nahm, gelobte -- ich weiß es noch wörtlich wie einen Eid, den er mir abnahm, er sagte: >Versprechen Sie mir, wenn nicht die Schwester, doch die Freundin der Armen und Niedriggeborenen zu sein und niemals die Regungen des Mitgefühls ersticken zu lassen, weil Sie vielleicht gewaltsam daran gewöhnt werden, das Elend um sich zu sehen, weil Sie vielleicht eines Tages sich sagen müssen: was ich thun kann, um die Noth zu verringern, ist nur ein Tropfen, den ich hinwegschöpfe von der Fluth des Unglücks, die Alles überschwemmt.<"

"Ach, in diesen Worten erkenn' ich meinen Bruder."

"Die Zeit ist schon da, wo ich mir das sagen muß," fuhr sie fort, "aber niemals wird die Zeit kommen, wo ich diesen Schwur brechen werde."

"Ja," rief er begeistert, aber mit Thränen, "wenn

daß Diejenigen, welche mir nahe stehen, die Ursache sind, welche uns verhindern sollte, unser Versprechen zu halten, und Sie mögen deshalb keine Klagen wider sie erheben — ich ehre das, denn Vorurtheile sind gewiß auf beiden Seiten, und diejenigen, in welchen ein Mensch erzogen ist, leben mit ihm fort und beherrschen ihn, so daß er von einem andern Standpunkt aus ungerecht erscheint, wo er auf dem, welchen er nun einmal einnimmt, von Gerechtigkeit reden kann. Ich aber bin in den Lehren Ihres Bruders erzogen, welchem ich in der Stunde, wo er von mir Abschied nahm, gelobte — ich weiß es noch wörtlich wie einen Eid, den er mir abnahm, er sagte: ›Versprechen Sie mir, wenn nicht die Schwester, doch die Freundin der Armen und Niedriggeborenen zu sein und niemals die Regungen des Mitgefühls ersticken zu lassen, weil Sie vielleicht gewaltsam daran gewöhnt werden, das Elend um sich zu sehen, weil Sie vielleicht eines Tages sich sagen müssen: was ich thun kann, um die Noth zu verringern, ist nur ein Tropfen, den ich hinwegschöpfe von der Fluth des Unglücks, die Alles überschwemmt.‹“

„Ach, in diesen Worten erkenn’ ich meinen Bruder.“

„Die Zeit ist schon da, wo ich mir das sagen muß,“ fuhr sie fort, „aber niemals wird die Zeit kommen, wo ich diesen Schwur brechen werde.“

„Ja,“ rief er begeistert, aber mit Thränen, „wenn

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0077" n="71"/>
daß Diejenigen, welche mir nahe stehen, die Ursache sind, welche uns verhindern sollte, unser Versprechen zu halten, und Sie mögen deshalb keine Klagen wider sie erheben &#x2014; ich ehre das, denn Vorurtheile sind gewiß auf beiden Seiten, und diejenigen, in welchen ein Mensch erzogen ist, leben mit ihm fort und beherrschen ihn, so daß er von einem andern Standpunkt aus ungerecht erscheint, wo er auf dem, welchen er nun einmal einnimmt, von Gerechtigkeit reden kann. Ich aber bin in den Lehren Ihres Bruders erzogen, welchem ich in der Stunde, wo er von mir Abschied nahm, gelobte &#x2014; ich weiß es noch wörtlich wie einen Eid, den er mir abnahm, er sagte: &#x203A;Versprechen Sie mir, wenn nicht die Schwester, doch die Freundin der Armen und Niedriggeborenen zu sein und niemals die Regungen des Mitgefühls ersticken zu lassen, weil Sie vielleicht gewaltsam daran gewöhnt werden, das Elend um sich zu sehen, weil Sie vielleicht eines Tages sich sagen müssen: was ich thun kann, um die Noth zu verringern, ist nur ein Tropfen, den ich hinwegschöpfe von der Fluth des Unglücks, die Alles überschwemmt.&#x2039;&#x201C;</p>
        <p>&#x201E;Ach, in diesen Worten erkenn&#x2019; ich meinen Bruder.&#x201C;</p>
        <p>&#x201E;Die Zeit ist schon da, wo ich mir das sagen muß,&#x201C; fuhr sie fort, &#x201E;aber niemals wird die Zeit kommen, wo ich diesen Schwur brechen werde.&#x201C;</p>
        <p>&#x201E;Ja,&#x201C; rief er begeistert, aber mit Thränen, &#x201E;wenn
</p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[71/0077] daß Diejenigen, welche mir nahe stehen, die Ursache sind, welche uns verhindern sollte, unser Versprechen zu halten, und Sie mögen deshalb keine Klagen wider sie erheben — ich ehre das, denn Vorurtheile sind gewiß auf beiden Seiten, und diejenigen, in welchen ein Mensch erzogen ist, leben mit ihm fort und beherrschen ihn, so daß er von einem andern Standpunkt aus ungerecht erscheint, wo er auf dem, welchen er nun einmal einnimmt, von Gerechtigkeit reden kann. Ich aber bin in den Lehren Ihres Bruders erzogen, welchem ich in der Stunde, wo er von mir Abschied nahm, gelobte — ich weiß es noch wörtlich wie einen Eid, den er mir abnahm, er sagte: ›Versprechen Sie mir, wenn nicht die Schwester, doch die Freundin der Armen und Niedriggeborenen zu sein und niemals die Regungen des Mitgefühls ersticken zu lassen, weil Sie vielleicht gewaltsam daran gewöhnt werden, das Elend um sich zu sehen, weil Sie vielleicht eines Tages sich sagen müssen: was ich thun kann, um die Noth zu verringern, ist nur ein Tropfen, den ich hinwegschöpfe von der Fluth des Unglücks, die Alles überschwemmt.‹“ „Ach, in diesen Worten erkenn’ ich meinen Bruder.“ „Die Zeit ist schon da, wo ich mir das sagen muß,“ fuhr sie fort, „aber niemals wird die Zeit kommen, wo ich diesen Schwur brechen werde.“ „Ja,“ rief er begeistert, aber mit Thränen, „wenn

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Repository TextGrid: Bereitstellung der Texttranskription. (2013-08-23T11:52:15Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Christoph Leijser, Frederike Neuber: Bearbeitung der digitalen Edition. (2013-08-23T11:52:15Z)
HATHI TRUST Digital Library: Bereitstellung der Bilddigitalisate (2013-08-23T11:52:15Z)

Weitere Informationen:

Anmerkungen zur Transkription:

  • I/J in Fraktur: Lautwert transkribiert
  • langes s (ſ): als s transkribiert
  • rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert



Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/otto_schloss02_1846
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/otto_schloss02_1846/77
Zitationshilfe: Otto, Louise: Schloß und Fabrik, Bd. 2. Leipzig, 1846, S. 71. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/otto_schloss02_1846/77>, abgerufen am 21.11.2024.