Otto, Louise: Schloß und Fabrik, Bd. 2. Leipzig, 1846.daß Diejenigen, welche mir nahe stehen, die Ursache sind, welche uns verhindern sollte, unser Versprechen zu halten, und Sie mögen deshalb keine Klagen wider sie erheben -- ich ehre das, denn Vorurtheile sind gewiß auf beiden Seiten, und diejenigen, in welchen ein Mensch erzogen ist, leben mit ihm fort und beherrschen ihn, so daß er von einem andern Standpunkt aus ungerecht erscheint, wo er auf dem, welchen er nun einmal einnimmt, von Gerechtigkeit reden kann. Ich aber bin in den Lehren Ihres Bruders erzogen, welchem ich in der Stunde, wo er von mir Abschied nahm, gelobte -- ich weiß es noch wörtlich wie einen Eid, den er mir abnahm, er sagte: >Versprechen Sie mir, wenn nicht die Schwester, doch die Freundin der Armen und Niedriggeborenen zu sein und niemals die Regungen des Mitgefühls ersticken zu lassen, weil Sie vielleicht gewaltsam daran gewöhnt werden, das Elend um sich zu sehen, weil Sie vielleicht eines Tages sich sagen müssen: was ich thun kann, um die Noth zu verringern, ist nur ein Tropfen, den ich hinwegschöpfe von der Fluth des Unglücks, die Alles überschwemmt.<" "Ach, in diesen Worten erkenn' ich meinen Bruder." "Die Zeit ist schon da, wo ich mir das sagen muß," fuhr sie fort, "aber niemals wird die Zeit kommen, wo ich diesen Schwur brechen werde." "Ja," rief er begeistert, aber mit Thränen, "wenn daß Diejenigen, welche mir nahe stehen, die Ursache sind, welche uns verhindern sollte, unser Versprechen zu halten, und Sie mögen deshalb keine Klagen wider sie erheben — ich ehre das, denn Vorurtheile sind gewiß auf beiden Seiten, und diejenigen, in welchen ein Mensch erzogen ist, leben mit ihm fort und beherrschen ihn, so daß er von einem andern Standpunkt aus ungerecht erscheint, wo er auf dem, welchen er nun einmal einnimmt, von Gerechtigkeit reden kann. Ich aber bin in den Lehren Ihres Bruders erzogen, welchem ich in der Stunde, wo er von mir Abschied nahm, gelobte — ich weiß es noch wörtlich wie einen Eid, den er mir abnahm, er sagte: ›Versprechen Sie mir, wenn nicht die Schwester, doch die Freundin der Armen und Niedriggeborenen zu sein und niemals die Regungen des Mitgefühls ersticken zu lassen, weil Sie vielleicht gewaltsam daran gewöhnt werden, das Elend um sich zu sehen, weil Sie vielleicht eines Tages sich sagen müssen: was ich thun kann, um die Noth zu verringern, ist nur ein Tropfen, den ich hinwegschöpfe von der Fluth des Unglücks, die Alles überschwemmt.‹“ „Ach, in diesen Worten erkenn’ ich meinen Bruder.“ „Die Zeit ist schon da, wo ich mir das sagen muß,“ fuhr sie fort, „aber niemals wird die Zeit kommen, wo ich diesen Schwur brechen werde.“ „Ja,“ rief er begeistert, aber mit Thränen, „wenn <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0077" n="71"/> daß Diejenigen, welche mir nahe stehen, die Ursache sind, welche uns verhindern sollte, unser Versprechen zu halten, und Sie mögen deshalb keine Klagen wider sie erheben — ich ehre das, denn Vorurtheile sind gewiß auf beiden Seiten, und diejenigen, in welchen ein Mensch erzogen ist, leben mit ihm fort und beherrschen ihn, so daß er von einem andern Standpunkt aus ungerecht erscheint, wo er auf dem, welchen er nun einmal einnimmt, von Gerechtigkeit reden kann. Ich aber bin in den Lehren Ihres Bruders erzogen, welchem ich in der Stunde, wo er von mir Abschied nahm, gelobte — ich weiß es noch wörtlich wie einen Eid, den er mir abnahm, er sagte: ›Versprechen Sie mir, wenn nicht die Schwester, doch die Freundin der Armen und Niedriggeborenen zu sein und niemals die Regungen des Mitgefühls ersticken zu lassen, weil Sie vielleicht gewaltsam daran gewöhnt werden, das Elend um sich zu sehen, weil Sie vielleicht eines Tages sich sagen müssen: was ich thun kann, um die Noth zu verringern, ist nur ein Tropfen, den ich hinwegschöpfe von der Fluth des Unglücks, die Alles überschwemmt.‹“</p> <p>„Ach, in diesen Worten erkenn’ ich meinen Bruder.“</p> <p>„Die Zeit ist schon da, wo ich mir das sagen muß,“ fuhr sie fort, „aber niemals wird die Zeit kommen, wo ich diesen Schwur brechen werde.“</p> <p>„Ja,“ rief er begeistert, aber mit Thränen, „wenn </p> </div> </body> </text> </TEI> [71/0077]
daß Diejenigen, welche mir nahe stehen, die Ursache sind, welche uns verhindern sollte, unser Versprechen zu halten, und Sie mögen deshalb keine Klagen wider sie erheben — ich ehre das, denn Vorurtheile sind gewiß auf beiden Seiten, und diejenigen, in welchen ein Mensch erzogen ist, leben mit ihm fort und beherrschen ihn, so daß er von einem andern Standpunkt aus ungerecht erscheint, wo er auf dem, welchen er nun einmal einnimmt, von Gerechtigkeit reden kann. Ich aber bin in den Lehren Ihres Bruders erzogen, welchem ich in der Stunde, wo er von mir Abschied nahm, gelobte — ich weiß es noch wörtlich wie einen Eid, den er mir abnahm, er sagte: ›Versprechen Sie mir, wenn nicht die Schwester, doch die Freundin der Armen und Niedriggeborenen zu sein und niemals die Regungen des Mitgefühls ersticken zu lassen, weil Sie vielleicht gewaltsam daran gewöhnt werden, das Elend um sich zu sehen, weil Sie vielleicht eines Tages sich sagen müssen: was ich thun kann, um die Noth zu verringern, ist nur ein Tropfen, den ich hinwegschöpfe von der Fluth des Unglücks, die Alles überschwemmt.‹“
„Ach, in diesen Worten erkenn’ ich meinen Bruder.“
„Die Zeit ist schon da, wo ich mir das sagen muß,“ fuhr sie fort, „aber niemals wird die Zeit kommen, wo ich diesen Schwur brechen werde.“
„Ja,“ rief er begeistert, aber mit Thränen, „wenn
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