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Pappenheim, Bertha u. a.: Zur Lage der jüdischen Bevölkerung in Galizien. Reise-Eindrücke und Vorschläge zur Besserung der Verhältnisse. Frankfurt (Main), 1904.

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feste Betteltage, an denen oft nur in halben Kreuzern eine Art von Steuer eingefordert wird. Wenige der gebenden Männer und Frauen erkennen darin das Symptom einer Krankheit im Volke, die aus dem Zusammenwirken verschiedener Ursachen entstanden ist, und die mit ebenso vielen Gegenmitteln bekämpft werden muß. Gedankenlos und gewohnheitsgemäß wird das Almosen gegeben und genommen. Denn da nach der Auffassung der Orthodoxie der Arme dem Gebenden als Medium dient, ein gottgefälliges Werk zu tun, so ist der Gebende dem Armen Dank schuldig, nicht umgekehrt, und die Idee, daß diese Art des "Wohltuns" das Proletariat demoralisiert, findet keinen Eingang. Auch die religiöse Vorschrift, derzufolge ein Almosen dem Armen direkt gegeben werden muß, um für den Geber wirksam zu sein, ist ein Hindernis dafür, das schädliche Almosengeben in nützliche Fürsorge zu verwandeln. Dieselben halben Kreuzer, die man an der Türe verteilt, in Zentralstellen eingesammelt, könnten wirksam helfen, wenn sie sachgemäß praktisch verwendet würden. Aber dafür fehlt in Galizien noch das Verständnis, und darum der Wille.

Besonders den Frauen ist meines Erachtens der Vorwurf nicht zu ersparen, daß sie sich einschlägigen Erwägungen gegenüber noch sehr indolent verhalten.

So fortgeschritten modern sie in der Kleidermode sind, so unentwickelt altmodisch im Denken, so rückständig erscheinen sie noch in der Auffassung allgemeiner Pflichten.

Als Gradmesser für diesen bedauerlichen Kulturtiefstand dient die Unwichtigkeit, die man der Kinderpflege beimißt, und die Stellung der Frauen zur Dienstbotenfrage.

Es ist mir aufgefallen, daß in den Straßen und öffentlichen Anlagen und Gärten die meisten der reichgekleideten Kinder der Aufsicht von ganz ungebildeten Personen anvertraut sind. Ammen oder gewesene Ammen, Bäuerinnen, die sich nur Sonntags die Gene auferlegen, ihre Röhrenstiefel zu tragen. Weiter ist das Fehlen von Kinderwagen bezeichnend. Die gewickelten Kinder werden mitsamt ihrer Wärterin in eine Paradedecke eingehüllt und, wenn die Würmchen in diesem Dunstkreis wimmern, jederzeit und jedenorts gestillt und mit energischer Schüttelbewegung zum Schlafen gebracht.

Diese Beobachtungen von der Straße lassen ganz direkt auf die Kinderzimmer schließen.

feste Betteltage, an denen oft nur in halben Kreuzern eine Art von Steuer eingefordert wird. Wenige der gebenden Männer und Frauen erkennen darin das Symptom einer Krankheit im Volke, die aus dem Zusammenwirken verschiedener Ursachen entstanden ist, und die mit ebenso vielen Gegenmitteln bekämpft werden muß. Gedankenlos und gewohnheitsgemäß wird das Almosen gegeben und genommen. Denn da nach der Auffassung der Orthodoxie der Arme dem Gebenden als Medium dient, ein gottgefälliges Werk zu tun, so ist der Gebende dem Armen Dank schuldig, nicht umgekehrt, und die Idee, daß diese Art des „Wohltuns“ das Proletariat demoralisiert, findet keinen Eingang. Auch die religiöse Vorschrift, derzufolge ein Almosen dem Armen direkt gegeben werden muß, um für den Geber wirksam zu sein, ist ein Hindernis dafür, das schädliche Almosengeben in nützliche Fürsorge zu verwandeln. Dieselben halben Kreuzer, die man an der Türe verteilt, in Zentralstellen eingesammelt, könnten wirksam helfen, wenn sie sachgemäß praktisch verwendet würden. Aber dafür fehlt in Galizien noch das Verständnis, und darum der Wille.

Besonders den Frauen ist meines Erachtens der Vorwurf nicht zu ersparen, daß sie sich einschlägigen Erwägungen gegenüber noch sehr indolent verhalten.

So fortgeschritten modern sie in der Kleidermode sind, so unentwickelt altmodisch im Denken, so rückständig erscheinen sie noch in der Auffassung allgemeiner Pflichten.

Als Gradmesser für diesen bedauerlichen Kulturtiefstand dient die Unwichtigkeit, die man der Kinderpflege beimißt, und die Stellung der Frauen zur Dienstbotenfrage.

Es ist mir aufgefallen, daß in den Straßen und öffentlichen Anlagen und Gärten die meisten der reichgekleideten Kinder der Aufsicht von ganz ungebildeten Personen anvertraut sind. Ammen oder gewesene Ammen, Bäuerinnen, die sich nur Sonntags die Gène auferlegen, ihre Röhrenstiefel zu tragen. Weiter ist das Fehlen von Kinderwagen bezeichnend. Die gewickelten Kinder werden mitsamt ihrer Wärterin in eine Paradedecke eingehüllt und, wenn die Würmchen in diesem Dunstkreis wimmern, jederzeit und jedenorts gestillt und mit energischer Schüttelbewegung zum Schlafen gebracht.

Diese Beobachtungen von der Straße lassen ganz direkt auf die Kinderzimmer schließen.

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feste Betteltage, an denen oft nur in halben Kreuzern eine Art von Steuer eingefordert wird. Wenige der gebenden Männer und Frauen erkennen darin das Symptom einer Krankheit im Volke, die aus dem Zusammenwirken verschiedener Ursachen entstanden ist, und die mit ebenso vielen Gegenmitteln bekämpft werden muß. Gedankenlos und gewohnheitsgemäß wird das Almosen gegeben und genommen. Denn da nach der Auffassung der Orthodoxie der Arme dem Gebenden als Medium dient, ein gottgefälliges Werk zu tun, so ist der Gebende dem Armen Dank schuldig, nicht umgekehrt, und die Idee, daß diese Art des &#x201E;Wohltuns&#x201C; das Proletariat demoralisiert, findet keinen Eingang. Auch die religiöse Vorschrift, derzufolge ein Almosen dem Armen direkt gegeben werden muß, um für den Geber wirksam zu sein, ist ein Hindernis dafür, das schädliche Almosengeben in nützliche Fürsorge zu verwandeln. Dieselben halben Kreuzer, die man an der Türe verteilt, in Zentralstellen eingesammelt, könnten wirksam helfen, wenn sie sachgemäß praktisch verwendet würden. Aber dafür fehlt in Galizien noch das Verständnis, und darum der Wille.</p>
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[20/0020] feste Betteltage, an denen oft nur in halben Kreuzern eine Art von Steuer eingefordert wird. Wenige der gebenden Männer und Frauen erkennen darin das Symptom einer Krankheit im Volke, die aus dem Zusammenwirken verschiedener Ursachen entstanden ist, und die mit ebenso vielen Gegenmitteln bekämpft werden muß. Gedankenlos und gewohnheitsgemäß wird das Almosen gegeben und genommen. Denn da nach der Auffassung der Orthodoxie der Arme dem Gebenden als Medium dient, ein gottgefälliges Werk zu tun, so ist der Gebende dem Armen Dank schuldig, nicht umgekehrt, und die Idee, daß diese Art des „Wohltuns“ das Proletariat demoralisiert, findet keinen Eingang. Auch die religiöse Vorschrift, derzufolge ein Almosen dem Armen direkt gegeben werden muß, um für den Geber wirksam zu sein, ist ein Hindernis dafür, das schädliche Almosengeben in nützliche Fürsorge zu verwandeln. Dieselben halben Kreuzer, die man an der Türe verteilt, in Zentralstellen eingesammelt, könnten wirksam helfen, wenn sie sachgemäß praktisch verwendet würden. Aber dafür fehlt in Galizien noch das Verständnis, und darum der Wille. Besonders den Frauen ist meines Erachtens der Vorwurf nicht zu ersparen, daß sie sich einschlägigen Erwägungen gegenüber noch sehr indolent verhalten. So fortgeschritten modern sie in der Kleidermode sind, so unentwickelt altmodisch im Denken, so rückständig erscheinen sie noch in der Auffassung allgemeiner Pflichten. Als Gradmesser für diesen bedauerlichen Kulturtiefstand dient die Unwichtigkeit, die man der Kinderpflege beimißt, und die Stellung der Frauen zur Dienstbotenfrage. Es ist mir aufgefallen, daß in den Straßen und öffentlichen Anlagen und Gärten die meisten der reichgekleideten Kinder der Aufsicht von ganz ungebildeten Personen anvertraut sind. Ammen oder gewesene Ammen, Bäuerinnen, die sich nur Sonntags die Gène auferlegen, ihre Röhrenstiefel zu tragen. Weiter ist das Fehlen von Kinderwagen bezeichnend. Die gewickelten Kinder werden mitsamt ihrer Wärterin in eine Paradedecke eingehüllt und, wenn die Würmchen in diesem Dunstkreis wimmern, jederzeit und jedenorts gestillt und mit energischer Schüttelbewegung zum Schlafen gebracht. Diese Beobachtungen von der Straße lassen ganz direkt auf die Kinderzimmer schließen.

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Zitationshilfe: Pappenheim, Bertha u. a.: Zur Lage der jüdischen Bevölkerung in Galizien. Reise-Eindrücke und Vorschläge zur Besserung der Verhältnisse. Frankfurt (Main), 1904, S. 20. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/pappenheim_galizien_1904/20>, abgerufen am 27.04.2024.