Pappenheim, Bertha u. a.: Zur Lage der jüdischen Bevölkerung in Galizien. Reise-Eindrücke und Vorschläge zur Besserung der Verhältnisse. Frankfurt (Main), 1904.man es nur zu begreiflich finden, daß viele Kranke, dem Triebe der Selbsterhaltung folgend, ihre Heimat verlassen, um außerhalb derselben Pflege und Heilung zu suchen. Sie wissen, daß sie nirgends elender zu Grunde gehen müssen als zu Hause. Und wieder frage ich nach den Frauen in den Gemeinden, und wieder höre ich und sehe ich, daß sie abseits stehen, blind für ihre Pflichten, ihre Rechte nicht erkennend, schweigend nach der Vorschrift eines alten Kirchenvaters. Kaum daß sie, mit wenigen Ausnahmen, wissen, daß es "draußen" eine Bewegung gibt, die, indem sie die einzelne Frau befreit, der Allgemeinheit die größten Dienste leistet. Mit dem Kapitel der Krankenpflege verlasse ich das Gebiet jener stabilen Institutionen, die zum Zwecke des Unterrichtes und der traditionellen Wohltätigkeit in Galizien geschaffen wurden. Um das Bild des Landes zu vervollständigen, habe ich noch über Faktoren Rechenschaft zu geben, die, in allgemeinen Verhältnissen wurzelnd, die Physiognomie des Landes prägen. Hierher gehören vor allem Mitteilungen über die Wohnungsverhältnisse in Galizien. Ich kann dieselben abkürzen, indem ich sage, daß alles, was über sittliche und hygienische Mißstände des Wohnungselendes je beobachtet, gesagt und geschrieben wurde, vollinhaltlich auf die galizischen Zustände angewendet werden muß. Die mangelnde Kanalisation, die Abwesenheit von Kloseteinrichtungen und Wasser, der Mangel an Betten und Möbeln gibt aber den Wohnhöhlen in der Anlage, sowie in der Überfüllung einen noch viel grauenvolleren Charakter. Die Wohnungen, die zu ebener Erde gelegen sind, das Dach konnte ich meist leicht mit der Hand berühren, sind die verhältnismäßig gesünderen, weil durch alle Fugen und Ritzen die Luft und auch die Sonne eindringen kann, aber die Kellerwohnungen, an deren Öffnung die Menschen wie Insekten an dunklen Fluglöchern aus- und einschlüpfen, sind unbeschreiblich. Und da haben wir alles im Mai, der besten Jahreszeit gesehen. Wie oft, wenn wir einen Raum betraten, bei dem man am Eingang zurückprallen zu müssen glaubte, dachte ich: wie muß es hier im Winter sein, wo man die Fenster verklebt und die schlecht schließenden Türen nach Möglichkeit geschlossen hält, weil neben all den hungrigen Mäulern der Familie auch noch der Ofen gespeist werden muß! man es nur zu begreiflich finden, daß viele Kranke, dem Triebe der Selbsterhaltung folgend, ihre Heimat verlassen, um außerhalb derselben Pflege und Heilung zu suchen. Sie wissen, daß sie nirgends elender zu Grunde gehen müssen als zu Hause. Und wieder frage ich nach den Frauen in den Gemeinden, und wieder höre ich und sehe ich, daß sie abseits stehen, blind für ihre Pflichten, ihre Rechte nicht erkennend, schweigend nach der Vorschrift eines alten Kirchenvaters. Kaum daß sie, mit wenigen Ausnahmen, wissen, daß es „draußen“ eine Bewegung gibt, die, indem sie die einzelne Frau befreit, der Allgemeinheit die größten Dienste leistet. Mit dem Kapitel der Krankenpflege verlasse ich das Gebiet jener stabilen Institutionen, die zum Zwecke des Unterrichtes und der traditionellen Wohltätigkeit in Galizien geschaffen wurden. Um das Bild des Landes zu vervollständigen, habe ich noch über Faktoren Rechenschaft zu geben, die, in allgemeinen Verhältnissen wurzelnd, die Physiognomie des Landes prägen. Hierher gehören vor allem Mitteilungen über die Wohnungsverhältnisse in Galizien. Ich kann dieselben abkürzen, indem ich sage, daß alles, was über sittliche und hygienische Mißstände des Wohnungselendes je beobachtet, gesagt und geschrieben wurde, vollinhaltlich auf die galizischen Zustände angewendet werden muß. Die mangelnde Kanalisation, die Abwesenheit von Kloseteinrichtungen und Wasser, der Mangel an Betten und Möbeln gibt aber den Wohnhöhlen in der Anlage, sowie in der Überfüllung einen noch viel grauenvolleren Charakter. Die Wohnungen, die zu ebener Erde gelegen sind, das Dach konnte ich meist leicht mit der Hand berühren, sind die verhältnismäßig gesünderen, weil durch alle Fugen und Ritzen die Luft und auch die Sonne eindringen kann, aber die Kellerwohnungen, an deren Öffnung die Menschen wie Insekten an dunklen Fluglöchern aus- und einschlüpfen, sind unbeschreiblich. Und da haben wir alles im Mai, der besten Jahreszeit gesehen. Wie oft, wenn wir einen Raum betraten, bei dem man am Eingang zurückprallen zu müssen glaubte, dachte ich: wie muß es hier im Winter sein, wo man die Fenster verklebt und die schlecht schließenden Türen nach Möglichkeit geschlossen hält, weil neben all den hungrigen Mäulern der Familie auch noch der Ofen gespeist werden muß! <TEI> <text> <body> <div> <p><pb facs="#f0025" n="25"/> man es nur zu begreiflich finden, daß viele Kranke, dem Triebe der Selbsterhaltung folgend, ihre Heimat verlassen, um außerhalb derselben Pflege und Heilung zu suchen. 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Ich kann dieselben abkürzen, indem ich sage, daß alles, was über sittliche und hygienische Mißstände des Wohnungselendes je beobachtet, gesagt und geschrieben wurde, vollinhaltlich auf die galizischen Zustände angewendet werden muß. Die mangelnde Kanalisation, die Abwesenheit von Kloseteinrichtungen und Wasser, der Mangel an Betten und Möbeln gibt aber den Wohnhöhlen in der Anlage, sowie in der Überfüllung einen noch viel grauenvolleren Charakter.</p> <p>Die Wohnungen, die zu ebener Erde gelegen sind, das Dach konnte ich meist leicht mit der Hand berühren, sind die verhältnismäßig gesünderen, weil durch alle Fugen und Ritzen die Luft und auch die Sonne eindringen kann, aber die Kellerwohnungen, an deren Öffnung die Menschen wie Insekten an dunklen Fluglöchern aus- und einschlüpfen, sind unbeschreiblich. Und da haben wir alles im Mai, der besten Jahreszeit gesehen. Wie oft, wenn wir einen Raum betraten, bei dem man am Eingang zurückprallen zu müssen glaubte, dachte ich: wie muß es hier im Winter sein, wo man die Fenster verklebt und die schlecht schließenden Türen nach Möglichkeit geschlossen hält, weil neben all den hungrigen Mäulern der Familie auch noch der Ofen gespeist werden muß!</p> </div> </body> </text> </TEI> [25/0025]
man es nur zu begreiflich finden, daß viele Kranke, dem Triebe der Selbsterhaltung folgend, ihre Heimat verlassen, um außerhalb derselben Pflege und Heilung zu suchen. Sie wissen, daß sie nirgends elender zu Grunde gehen müssen als zu Hause.
Und wieder frage ich nach den Frauen in den Gemeinden, und wieder höre ich und sehe ich, daß sie abseits stehen, blind für ihre Pflichten, ihre Rechte nicht erkennend, schweigend nach der Vorschrift eines alten Kirchenvaters.
Kaum daß sie, mit wenigen Ausnahmen, wissen, daß es „draußen“ eine Bewegung gibt, die, indem sie die einzelne Frau befreit, der Allgemeinheit die größten Dienste leistet.
Mit dem Kapitel der Krankenpflege verlasse ich das Gebiet jener stabilen Institutionen, die zum Zwecke des Unterrichtes und der traditionellen Wohltätigkeit in Galizien geschaffen wurden.
Um das Bild des Landes zu vervollständigen, habe ich noch über Faktoren Rechenschaft zu geben, die, in allgemeinen Verhältnissen wurzelnd, die Physiognomie des Landes prägen. Hierher gehören vor allem Mitteilungen über die Wohnungsverhältnisse in Galizien. Ich kann dieselben abkürzen, indem ich sage, daß alles, was über sittliche und hygienische Mißstände des Wohnungselendes je beobachtet, gesagt und geschrieben wurde, vollinhaltlich auf die galizischen Zustände angewendet werden muß. Die mangelnde Kanalisation, die Abwesenheit von Kloseteinrichtungen und Wasser, der Mangel an Betten und Möbeln gibt aber den Wohnhöhlen in der Anlage, sowie in der Überfüllung einen noch viel grauenvolleren Charakter.
Die Wohnungen, die zu ebener Erde gelegen sind, das Dach konnte ich meist leicht mit der Hand berühren, sind die verhältnismäßig gesünderen, weil durch alle Fugen und Ritzen die Luft und auch die Sonne eindringen kann, aber die Kellerwohnungen, an deren Öffnung die Menschen wie Insekten an dunklen Fluglöchern aus- und einschlüpfen, sind unbeschreiblich. Und da haben wir alles im Mai, der besten Jahreszeit gesehen. Wie oft, wenn wir einen Raum betraten, bei dem man am Eingang zurückprallen zu müssen glaubte, dachte ich: wie muß es hier im Winter sein, wo man die Fenster verklebt und die schlecht schließenden Türen nach Möglichkeit geschlossen hält, weil neben all den hungrigen Mäulern der Familie auch noch der Ofen gespeist werden muß!
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