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Pappenheim, Bertha u. a.: Zur Lage der jüdischen Bevölkerung in Galizien. Reise-Eindrücke und Vorschläge zur Besserung der Verhältnisse. Frankfurt (Main), 1904.

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Typhus, sehr oft ist es der Hungertyphus, einfach nicht zur Anzeige und werden gar nicht, oder mit Hausmitteln behandelt. Desinfektion und Trennung der kranken und gesunden Familienmitglieder gibt es nicht, da eben Arzt und Pflegerin fehlen, die anordnen und überwachen, resp. ausführen was nötig ist und was gleichzeitig dem Volke als Lehre und Beispiel dienen könnte.

Lemberg besitzt ein von einem privaten Wohltäter mit großem Kostenaufwand erbautes, modern eingerichtetes Spital, in dem auch eine Ambulanz vorgesehen ist. Ob aber die Gemeinde so viel Verständnis für ihre sozialen Aufgaben und für ihre exponierte Stellung als reichste Gemeinde Galiziens hat und dasselbe darin zum Ausdruck bringt, wenigstens eine gebildete Frau, eine geschulte Kraft in diesem neuen Hause einzustellen, - das ist noch sehr fraglich.

In kleineren Orten ist für Krankenpflege gar nicht gesorgt. Die christlichen Spitäler nehmen zwar überall jüdische Kranke auf, aber wegen der fehlenden rituellen Verköstigung wird von diesem Rechte der jüdischen Gemeinden nirgends Gebrauch gemacht.

Für die dringendsten Fälle schwerer Erkrankungen gibt es an manchen Orten Gegenseitigkeitsvereine. Bei einer wöchentlichen Einzahlung von 1 bis 2 Kreuzern verpflichten sich die Mitglieder des Vereins, bei vorkommenden schweren Krankheitsfällen abwechselnd Nachtwachen zu leisten. Man kann sich denken, wie es um einen solchen Kranken bestellt ist, bei dem je eine Nacht ein Schuhmacher oder Fuhrmann, Schlächter oder Viehhändler u. s. w. die Nachtpflege besorgt.

Es ist ja rührend, wie solche Männer, die sich tagsüber im Broterwerb schwer gemüht haben, sich jederzeit bereit finden, im Rahmen ihres Verständnisses Krankendienste zu tun.

In der Praxis wird aber mehr einer religiösen Vorschrift genügt, als eine Hilfeleistung geboten, die dem Kranken, oft auch nur noch dem Sterbenden, eine Erleichterung bringt.

Ohne Zweifel läge es den Spitälern, ihren Vorstehern, Ärzten und Pflegerinnen ob, im Volke unermüdlich aufklärend zu wirken, aber von der Seite dieser Verwaltungen geschieht in dieser Richtung nichts.

Wenn man so in die Mangelhaftigkeit dieser wichtigen Einrichtungen auch nur flüchtig Einblick genommen hat, dann muß

Typhus, sehr oft ist es der Hungertyphus, einfach nicht zur Anzeige und werden gar nicht, oder mit Hausmitteln behandelt. Desinfektion und Trennung der kranken und gesunden Familienmitglieder gibt es nicht, da eben Arzt und Pflegerin fehlen, die anordnen und überwachen, resp. ausführen was nötig ist und was gleichzeitig dem Volke als Lehre und Beispiel dienen könnte.

Lemberg besitzt ein von einem privaten Wohltäter mit großem Kostenaufwand erbautes, modern eingerichtetes Spital, in dem auch eine Ambulanz vorgesehen ist. Ob aber die Gemeinde so viel Verständnis für ihre sozialen Aufgaben und für ihre exponierte Stellung als reichste Gemeinde Galiziens hat und dasselbe darin zum Ausdruck bringt, wenigstens eine gebildete Frau, eine geschulte Kraft in diesem neuen Hause einzustellen, – das ist noch sehr fraglich.

In kleineren Orten ist für Krankenpflege gar nicht gesorgt. Die christlichen Spitäler nehmen zwar überall jüdische Kranke auf, aber wegen der fehlenden rituellen Verköstigung wird von diesem Rechte der jüdischen Gemeinden nirgends Gebrauch gemacht.

Für die dringendsten Fälle schwerer Erkrankungen gibt es an manchen Orten Gegenseitigkeitsvereine. Bei einer wöchentlichen Einzahlung von 1 bis 2 Kreuzern verpflichten sich die Mitglieder des Vereins, bei vorkommenden schweren Krankheitsfällen abwechselnd Nachtwachen zu leisten. Man kann sich denken, wie es um einen solchen Kranken bestellt ist, bei dem je eine Nacht ein Schuhmacher oder Fuhrmann, Schlächter oder Viehhändler u. s. w. die Nachtpflege besorgt.

Es ist ja rührend, wie solche Männer, die sich tagsüber im Broterwerb schwer gemüht haben, sich jederzeit bereit finden, im Rahmen ihres Verständnisses Krankendienste zu tun.

In der Praxis wird aber mehr einer religiösen Vorschrift genügt, als eine Hilfeleistung geboten, die dem Kranken, oft auch nur noch dem Sterbenden, eine Erleichterung bringt.

Ohne Zweifel läge es den Spitälern, ihren Vorstehern, Ärzten und Pflegerinnen ob, im Volke unermüdlich aufklärend zu wirken, aber von der Seite dieser Verwaltungen geschieht in dieser Richtung nichts.

Wenn man so in die Mangelhaftigkeit dieser wichtigen Einrichtungen auch nur flüchtig Einblick genommen hat, dann muß

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[24/0024] Typhus, sehr oft ist es der Hungertyphus, einfach nicht zur Anzeige und werden gar nicht, oder mit Hausmitteln behandelt. Desinfektion und Trennung der kranken und gesunden Familienmitglieder gibt es nicht, da eben Arzt und Pflegerin fehlen, die anordnen und überwachen, resp. ausführen was nötig ist und was gleichzeitig dem Volke als Lehre und Beispiel dienen könnte. Lemberg besitzt ein von einem privaten Wohltäter mit großem Kostenaufwand erbautes, modern eingerichtetes Spital, in dem auch eine Ambulanz vorgesehen ist. Ob aber die Gemeinde so viel Verständnis für ihre sozialen Aufgaben und für ihre exponierte Stellung als reichste Gemeinde Galiziens hat und dasselbe darin zum Ausdruck bringt, wenigstens eine gebildete Frau, eine geschulte Kraft in diesem neuen Hause einzustellen, – das ist noch sehr fraglich. In kleineren Orten ist für Krankenpflege gar nicht gesorgt. Die christlichen Spitäler nehmen zwar überall jüdische Kranke auf, aber wegen der fehlenden rituellen Verköstigung wird von diesem Rechte der jüdischen Gemeinden nirgends Gebrauch gemacht. Für die dringendsten Fälle schwerer Erkrankungen gibt es an manchen Orten Gegenseitigkeitsvereine. Bei einer wöchentlichen Einzahlung von 1 bis 2 Kreuzern verpflichten sich die Mitglieder des Vereins, bei vorkommenden schweren Krankheitsfällen abwechselnd Nachtwachen zu leisten. Man kann sich denken, wie es um einen solchen Kranken bestellt ist, bei dem je eine Nacht ein Schuhmacher oder Fuhrmann, Schlächter oder Viehhändler u. s. w. die Nachtpflege besorgt. Es ist ja rührend, wie solche Männer, die sich tagsüber im Broterwerb schwer gemüht haben, sich jederzeit bereit finden, im Rahmen ihres Verständnisses Krankendienste zu tun. In der Praxis wird aber mehr einer religiösen Vorschrift genügt, als eine Hilfeleistung geboten, die dem Kranken, oft auch nur noch dem Sterbenden, eine Erleichterung bringt. Ohne Zweifel läge es den Spitälern, ihren Vorstehern, Ärzten und Pflegerinnen ob, im Volke unermüdlich aufklärend zu wirken, aber von der Seite dieser Verwaltungen geschieht in dieser Richtung nichts. Wenn man so in die Mangelhaftigkeit dieser wichtigen Einrichtungen auch nur flüchtig Einblick genommen hat, dann muß

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Zitationshilfe: Pappenheim, Bertha u. a.: Zur Lage der jüdischen Bevölkerung in Galizien. Reise-Eindrücke und Vorschläge zur Besserung der Verhältnisse. Frankfurt (Main), 1904, S. 24. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/pappenheim_galizien_1904/24>, abgerufen am 28.04.2024.