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Pappenheim, Bertha u. a.: Zur Lage der jüdischen Bevölkerung in Galizien. Reise-Eindrücke und Vorschläge zur Besserung der Verhältnisse. Frankfurt (Main), 1904.

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Die Theoretiker für Galizien werden oft ungerecht, indem sie außer acht lassen, daß das Volk, für das sie mit viel gutem Willen und Begeisterung am grünen Tisch arbeiten, keine gleichförmige Masse, sondern ein Konglomerat von Individuen ist, die bewußt oder unbewußt den Beglückungstheorien fremd bleiben, darum nicht wie gehorsame Kinder sofort auf dieselben eingehen.

Die ersten schlechten Erfahrungen, die die J. C. A. mit ihren Versuchen landwirtschaftlicher Kolonisation in Argentinien machte, sind sehr lehrreich. Heute hat man zwei wertvolle Erfahrungen aus jener Versuchsperiode zu verzeichnen: 1. man lasse nicht wahllos jedermann und jede Familie zur Neukolonisation eines Landes zu, und 2. man bereite die Emigranten für die Kolonisation vor.

Die Auswahl, sowie die Vorbereitung bedingen das Ausscheiden der Alten, Kranken und Schwachen, eine scheinbare Härte, ebenso wie sie die zielbewußte Vorbildung der Jugend - das Wollen lernen - zum unerläßlichen Grundsatz machen.

Der Aufgabe, die männliche Jugend für den Ackerbau vorzubereiten, suchte die J. C. A. durch die Gründung der landwirtschaftlichen Schule in Slobotka lesnia gerecht zu werden.

Die Gerüchte, die über den Ankauf des Gutes, seinen Preis, seinen Wert, seine Bodenbeschaffenheit und andere nicht gleichgiltige Umstände in Umlauf sind, bin ich nicht im stande, authentisch richtig zu stellen. Keinesfalls ist alles, was eine wohlmeinende Auslegung zuläßt, auch schlankweg gut zu heißen. Aber auch ein zu teuer gekauftes Gut mit teilweise minderwertigem Boden könnte mit der Zeit das Experiment der J. C. A. als solches rechtfertigen.

Da aber zur Zeit die ersten Zöglinge der Anstalt noch nicht fertig ausgebildet sind, da man heute noch nicht weiß, ob die jungen Leute wirklich bei der Landwirtschaft bleiben wollen und können, so ist das Experiment der J. C. A. vor der Hand noch nicht als gelungen zu bezeichnen.

Slobotka lesnia ist ein teures Experiment. Warum verteuert man es durch Schul- und Luxusbauten, die wertlos werden, wenn sich binnen weniger Jahre herausstellt, daß der Versuch mißlungen ist, d. h. daß die Zöglinge sich nach zurückgelegter Lehrzeit anderen Berufen widmen, als dem Ackerbau und verwandten? Denn nur um kräftige, gesunde Jungen zu erziehen, bedürfte es

Die Theoretiker für Galizien werden oft ungerecht, indem sie außer acht lassen, daß das Volk, für das sie mit viel gutem Willen und Begeisterung am grünen Tisch arbeiten, keine gleichförmige Masse, sondern ein Konglomerat von Individuen ist, die bewußt oder unbewußt den Beglückungstheorien fremd bleiben, darum nicht wie gehorsame Kinder sofort auf dieselben eingehen.

Die ersten schlechten Erfahrungen, die die J. C. A. mit ihren Versuchen landwirtschaftlicher Kolonisation in Argentinien machte, sind sehr lehrreich. Heute hat man zwei wertvolle Erfahrungen aus jener Versuchsperiode zu verzeichnen: 1. man lasse nicht wahllos jedermann und jede Familie zur Neukolonisation eines Landes zu, und 2. man bereite die Emigranten für die Kolonisation vor.

Die Auswahl, sowie die Vorbereitung bedingen das Ausscheiden der Alten, Kranken und Schwachen, eine scheinbare Härte, ebenso wie sie die zielbewußte Vorbildung der Jugend – das Wollen lernen – zum unerläßlichen Grundsatz machen.

Der Aufgabe, die männliche Jugend für den Ackerbau vorzubereiten, suchte die J. C. A. durch die Gründung der landwirtschaftlichen Schule in Slobotka lesnia gerecht zu werden.

Die Gerüchte, die über den Ankauf des Gutes, seinen Preis, seinen Wert, seine Bodenbeschaffenheit und andere nicht gleichgiltige Umstände in Umlauf sind, bin ich nicht im stande, authentisch richtig zu stellen. Keinesfalls ist alles, was eine wohlmeinende Auslegung zuläßt, auch schlankweg gut zu heißen. Aber auch ein zu teuer gekauftes Gut mit teilweise minderwertigem Boden könnte mit der Zeit das Experiment der J. C. A. als solches rechtfertigen.

Da aber zur Zeit die ersten Zöglinge der Anstalt noch nicht fertig ausgebildet sind, da man heute noch nicht weiß, ob die jungen Leute wirklich bei der Landwirtschaft bleiben wollen und können, so ist das Experiment der J. C. A. vor der Hand noch nicht als gelungen zu bezeichnen.

Slobotka lesnia ist ein teures Experiment. Warum verteuert man es durch Schul- und Luxusbauten, die wertlos werden, wenn sich binnen weniger Jahre herausstellt, daß der Versuch mißlungen ist, d. h. daß die Zöglinge sich nach zurückgelegter Lehrzeit anderen Berufen widmen, als dem Ackerbau und verwandten? Denn nur um kräftige, gesunde Jungen zu erziehen, bedürfte es

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        <p>Die Gerüchte, die über den Ankauf des Gutes, seinen Preis, seinen Wert, seine Bodenbeschaffenheit und andere nicht gleichgiltige Umstände in Umlauf sind, bin ich nicht im stande, authentisch richtig zu stellen. Keinesfalls ist alles, was eine wohlmeinende Auslegung zuläßt, auch schlankweg gut zu heißen. Aber auch ein zu teuer gekauftes Gut mit teilweise minderwertigem Boden könnte mit der Zeit das Experiment der J. C. A. als solches rechtfertigen.</p>
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[38/0038] Die Theoretiker für Galizien werden oft ungerecht, indem sie außer acht lassen, daß das Volk, für das sie mit viel gutem Willen und Begeisterung am grünen Tisch arbeiten, keine gleichförmige Masse, sondern ein Konglomerat von Individuen ist, die bewußt oder unbewußt den Beglückungstheorien fremd bleiben, darum nicht wie gehorsame Kinder sofort auf dieselben eingehen. Die ersten schlechten Erfahrungen, die die J. C. A. mit ihren Versuchen landwirtschaftlicher Kolonisation in Argentinien machte, sind sehr lehrreich. Heute hat man zwei wertvolle Erfahrungen aus jener Versuchsperiode zu verzeichnen: 1. man lasse nicht wahllos jedermann und jede Familie zur Neukolonisation eines Landes zu, und 2. man bereite die Emigranten für die Kolonisation vor. Die Auswahl, sowie die Vorbereitung bedingen das Ausscheiden der Alten, Kranken und Schwachen, eine scheinbare Härte, ebenso wie sie die zielbewußte Vorbildung der Jugend – das Wollen lernen – zum unerläßlichen Grundsatz machen. Der Aufgabe, die männliche Jugend für den Ackerbau vorzubereiten, suchte die J. C. A. durch die Gründung der landwirtschaftlichen Schule in Slobotka lesnia gerecht zu werden. Die Gerüchte, die über den Ankauf des Gutes, seinen Preis, seinen Wert, seine Bodenbeschaffenheit und andere nicht gleichgiltige Umstände in Umlauf sind, bin ich nicht im stande, authentisch richtig zu stellen. Keinesfalls ist alles, was eine wohlmeinende Auslegung zuläßt, auch schlankweg gut zu heißen. Aber auch ein zu teuer gekauftes Gut mit teilweise minderwertigem Boden könnte mit der Zeit das Experiment der J. C. A. als solches rechtfertigen. Da aber zur Zeit die ersten Zöglinge der Anstalt noch nicht fertig ausgebildet sind, da man heute noch nicht weiß, ob die jungen Leute wirklich bei der Landwirtschaft bleiben wollen und können, so ist das Experiment der J. C. A. vor der Hand noch nicht als gelungen zu bezeichnen. Slobotka lesnia ist ein teures Experiment. Warum verteuert man es durch Schul- und Luxusbauten, die wertlos werden, wenn sich binnen weniger Jahre herausstellt, daß der Versuch mißlungen ist, d. h. daß die Zöglinge sich nach zurückgelegter Lehrzeit anderen Berufen widmen, als dem Ackerbau und verwandten? Denn nur um kräftige, gesunde Jungen zu erziehen, bedürfte es

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Zitationshilfe: Pappenheim, Bertha u. a.: Zur Lage der jüdischen Bevölkerung in Galizien. Reise-Eindrücke und Vorschläge zur Besserung der Verhältnisse. Frankfurt (Main), 1904, S. 38. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/pappenheim_galizien_1904/38>, abgerufen am 28.04.2024.