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Pappenheim, Bertha u. a.: Zur Lage der jüdischen Bevölkerung in Galizien. Reise-Eindrücke und Vorschläge zur Besserung der Verhältnisse. Frankfurt (Main), 1904.

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gibt es noch zwei mächtige, rein geistige Potenzen, die, wenn man für Galizien und in dem Lande wirken will, jederzeit beachtet und bedacht werden müssen: der Chassidismus und der Zionismus.

Der Chassidismus ist als Sekte, als eine Abzweigung innerhalb des orthodoxen Judentums anzusehen. Es gehört ihm ein so großer Teil der galizischen Bevölkerung an, daß er sehr bestimmend auf dieselbe eingewirkt hat. Historisch stellte er einst eine mystisch fromme, antitalmudische Richtung dar. Heute ist es der Chassidismus, der den Geist einer reinen Gottes- und Sittenlehre so fest in Formen und Formeln gebannt hält, daß seine Anhänger vielfach durch den Wust des Nebensächlichen den Kern der Lehre nicht mehr zu erkennen vermögen. Das geistlose Festhalten am Ritual und, damit im Zusammenhange, die Gesetzesdeutelei sind es, die oft die haarscharfe Linie zwischen Recht und Unrecht zu verwischen drohen, und die für das Volk, das in dem furchtbaren Ringen um seine Existenz vielfach unsicher geworden ist, eine große moralische Gefahr bergen.

Das Ritual, von dem es einst hieß, es sei der Zaun, der einen herrlichen Garten einschließt, es ist Selbstzweck geworden, es ist für den größten Teil der galizischen Juden die harte Schale einer tauben Nuß.

Von morgens bis abends, von Beginn des keimenden Lebens bis zum erlöschenden Atemzuge ist das menschliche Leben von Vorschriften begleitet. Was einst deren Zweck war, in allen Lebensäußerungen Gott zu suchen und zu finden, der Seele Aufschwung zu geben vom Alltäglichen ins Unendliche, - das hängt heute wie ein Bleigewicht an dem Alltäglichen und verflacht und versumpft und erdrückt die Menschen. Nur daraus ist es erklärlich, daß in und neben dieser orthodoxen Lebensweise Zustände tiefster sittlicher Verkommenheit unter den galizischen Juden herrschen können. Sie leben meist nur im Banne des Rituals, das man aus Aberglauben und aus Furcht vor der Nachrede des Nachbars nicht abzustreifen wagt, aber sie sind nicht fromm.

Eine Art fatalistischen Gottvertrauens, das die Hände in den Schoß legen läßt und schlaff und indolent macht, ist keine Frömmigkeit in dem Sinne der Erhebung, der Befreiung und der Auslösung von Kraft, das Sittliche und Gute zu wollen.

gibt es noch zwei mächtige, rein geistige Potenzen, die, wenn man für Galizien und in dem Lande wirken will, jederzeit beachtet und bedacht werden müssen: der Chassidismus und der Zionismus.

Der Chassidismus ist als Sekte, als eine Abzweigung innerhalb des orthodoxen Judentums anzusehen. Es gehört ihm ein so großer Teil der galizischen Bevölkerung an, daß er sehr bestimmend auf dieselbe eingewirkt hat. Historisch stellte er einst eine mystisch fromme, antitalmudische Richtung dar. Heute ist es der Chassidismus, der den Geist einer reinen Gottes- und Sittenlehre so fest in Formen und Formeln gebannt hält, daß seine Anhänger vielfach durch den Wust des Nebensächlichen den Kern der Lehre nicht mehr zu erkennen vermögen. Das geistlose Festhalten am Ritual und, damit im Zusammenhange, die Gesetzesdeutelei sind es, die oft die haarscharfe Linie zwischen Recht und Unrecht zu verwischen drohen, und die für das Volk, das in dem furchtbaren Ringen um seine Existenz vielfach unsicher geworden ist, eine große moralische Gefahr bergen.

Das Ritual, von dem es einst hieß, es sei der Zaun, der einen herrlichen Garten einschließt, es ist Selbstzweck geworden, es ist für den größten Teil der galizischen Juden die harte Schale einer tauben Nuß.

Von morgens bis abends, von Beginn des keimenden Lebens bis zum erlöschenden Atemzuge ist das menschliche Leben von Vorschriften begleitet. Was einst deren Zweck war, in allen Lebensäußerungen Gott zu suchen und zu finden, der Seele Aufschwung zu geben vom Alltäglichen ins Unendliche, – das hängt heute wie ein Bleigewicht an dem Alltäglichen und verflacht und versumpft und erdrückt die Menschen. Nur daraus ist es erklärlich, daß in und neben dieser orthodoxen Lebensweise Zustände tiefster sittlicher Verkommenheit unter den galizischen Juden herrschen können. Sie leben meist nur im Banne des Rituals, das man aus Aberglauben und aus Furcht vor der Nachrede des Nachbars nicht abzustreifen wagt, aber sie sind nicht fromm.

Eine Art fatalistischen Gottvertrauens, das die Hände in den Schoß legen läßt und schlaff und indolent macht, ist keine Frömmigkeit in dem Sinne der Erhebung, der Befreiung und der Auslösung von Kraft, das Sittliche und Gute zu wollen.

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[40/0040] gibt es noch zwei mächtige, rein geistige Potenzen, die, wenn man für Galizien und in dem Lande wirken will, jederzeit beachtet und bedacht werden müssen: der Chassidismus und der Zionismus. Der Chassidismus ist als Sekte, als eine Abzweigung innerhalb des orthodoxen Judentums anzusehen. Es gehört ihm ein so großer Teil der galizischen Bevölkerung an, daß er sehr bestimmend auf dieselbe eingewirkt hat. Historisch stellte er einst eine mystisch fromme, antitalmudische Richtung dar. Heute ist es der Chassidismus, der den Geist einer reinen Gottes- und Sittenlehre so fest in Formen und Formeln gebannt hält, daß seine Anhänger vielfach durch den Wust des Nebensächlichen den Kern der Lehre nicht mehr zu erkennen vermögen. Das geistlose Festhalten am Ritual und, damit im Zusammenhange, die Gesetzesdeutelei sind es, die oft die haarscharfe Linie zwischen Recht und Unrecht zu verwischen drohen, und die für das Volk, das in dem furchtbaren Ringen um seine Existenz vielfach unsicher geworden ist, eine große moralische Gefahr bergen. Das Ritual, von dem es einst hieß, es sei der Zaun, der einen herrlichen Garten einschließt, es ist Selbstzweck geworden, es ist für den größten Teil der galizischen Juden die harte Schale einer tauben Nuß. Von morgens bis abends, von Beginn des keimenden Lebens bis zum erlöschenden Atemzuge ist das menschliche Leben von Vorschriften begleitet. Was einst deren Zweck war, in allen Lebensäußerungen Gott zu suchen und zu finden, der Seele Aufschwung zu geben vom Alltäglichen ins Unendliche, – das hängt heute wie ein Bleigewicht an dem Alltäglichen und verflacht und versumpft und erdrückt die Menschen. Nur daraus ist es erklärlich, daß in und neben dieser orthodoxen Lebensweise Zustände tiefster sittlicher Verkommenheit unter den galizischen Juden herrschen können. Sie leben meist nur im Banne des Rituals, das man aus Aberglauben und aus Furcht vor der Nachrede des Nachbars nicht abzustreifen wagt, aber sie sind nicht fromm. Eine Art fatalistischen Gottvertrauens, das die Hände in den Schoß legen läßt und schlaff und indolent macht, ist keine Frömmigkeit in dem Sinne der Erhebung, der Befreiung und der Auslösung von Kraft, das Sittliche und Gute zu wollen.

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Zitationshilfe: Pappenheim, Bertha u. a.: Zur Lage der jüdischen Bevölkerung in Galizien. Reise-Eindrücke und Vorschläge zur Besserung der Verhältnisse. Frankfurt (Main), 1904, S. 40. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/pappenheim_galizien_1904/40>, abgerufen am 28.04.2024.