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Pappenheim, Bertha u. a.: Zur Lage der jüdischen Bevölkerung in Galizien. Reise-Eindrücke und Vorschläge zur Besserung der Verhältnisse. Frankfurt (Main), 1904.

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Begriffe. Da sie nicht wissen, ob nicht Amerika eine Stadt in der Nähe von London ist, da sie nicht wissen, in welcher Zeit irgend ein Ort erreicht werden kann, da sie weder schreiben noch lesen können, also Briefe und direkte Nachrichten gar nicht erwarten und bezüglich ihrer Echtheit kontrollieren können, so ist jedes Mädchen, das auswandert, d. h. das seinen Heimatsort verläßt, auch noch innerhalb des Landes allen Zufällen und Böswilligkeiten preisgegeben.

Ihre Unlust und Unfähigkeit gleichmäßig zu arbeiten, die Unkenntnis irgend einer Sprache außer Jargon und schlechtem Polnisch, hindert die Mädchen direkt, in eine gute Arbeitsstelle einzutreten. Das Hausier- und Kellnerinnengewerbe und geringe Verkäuferinnenstellen, die zulassen, gewisse ungeregelte Lebensgewohnheiten beizubehalten, locken sie am meisten, und damit sind sie jeder Aufsicht und jedem anständigen Familienanschluß entzogen.

Der Auswanderung die größte Aufmerksamkeit zuzuwenden, dürfte der Kardinalpunkt einer jeden Bekämpfung des Mädchenhandels sein.

In dieser Beziehung ist es sehr wichtig, daß die "freundschaftliche Warnung" mit Adressen von Auskunftsstellen für allein reisende Mädchen, die wir an manchen Orten vorzeigten, überall wo wir sie zur Kenntnis brachten, von größter Wirkung war. Leider reichte unser Vorrat nicht, so viel davon zur Verteilung zu bringen, wie man von uns erbat. Wir konnten aber überall beobachten, welchen tiefen Eindruck die wenigen warnenden und aufklärenden Worte, die das Blatt enthält, auf die Kreise machte, für die sie berechnet sind.

Über einen sehr wichtigen Punkt in der Sittlichkeitsfrage, den Alkoholmißbrauch, bin ich zu meinem Bedauern gar nicht in der Lage, aus eigener Beobachtung etwas mitteilen zu können, da wir, um Schänken und Wirtshäuser zu besuchen, einer besonderen Führung bedurft hätten, über die wir auf dieser Reise nicht verfügten. Auf der Straße habe ich nie betrunkene Juden gesehen mit Ausnahme eines Bettlers in Dukla, der mir aber hauptsächlich dadurch auffiel, daß sein aus Fetzen und Lumpen in allen Farben bestehender Kaftan einen Grundstoff nicht mehr erkennen ließ. Der Mann, wie er über die Straße schwankte, war eine der Erscheinungen,

Begriffe. Da sie nicht wissen, ob nicht Amerika eine Stadt in der Nähe von London ist, da sie nicht wissen, in welcher Zeit irgend ein Ort erreicht werden kann, da sie weder schreiben noch lesen können, also Briefe und direkte Nachrichten gar nicht erwarten und bezüglich ihrer Echtheit kontrollieren können, so ist jedes Mädchen, das auswandert, d. h. das seinen Heimatsort verläßt, auch noch innerhalb des Landes allen Zufällen und Böswilligkeiten preisgegeben.

Ihre Unlust und Unfähigkeit gleichmäßig zu arbeiten, die Unkenntnis irgend einer Sprache außer Jargon und schlechtem Polnisch, hindert die Mädchen direkt, in eine gute Arbeitsstelle einzutreten. Das Hausier- und Kellnerinnengewerbe und geringe Verkäuferinnenstellen, die zulassen, gewisse ungeregelte Lebensgewohnheiten beizubehalten, locken sie am meisten, und damit sind sie jeder Aufsicht und jedem anständigen Familienanschluß entzogen.

Der Auswanderung die größte Aufmerksamkeit zuzuwenden, dürfte der Kardinalpunkt einer jeden Bekämpfung des Mädchenhandels sein.

In dieser Beziehung ist es sehr wichtig, daß die „freundschaftliche Warnung“ mit Adressen von Auskunftsstellen für allein reisende Mädchen, die wir an manchen Orten vorzeigten, überall wo wir sie zur Kenntnis brachten, von größter Wirkung war. Leider reichte unser Vorrat nicht, so viel davon zur Verteilung zu bringen, wie man von uns erbat. Wir konnten aber überall beobachten, welchen tiefen Eindruck die wenigen warnenden und aufklärenden Worte, die das Blatt enthält, auf die Kreise machte, für die sie berechnet sind.

Über einen sehr wichtigen Punkt in der Sittlichkeitsfrage, den Alkoholmißbrauch, bin ich zu meinem Bedauern gar nicht in der Lage, aus eigener Beobachtung etwas mitteilen zu können, da wir, um Schänken und Wirtshäuser zu besuchen, einer besonderen Führung bedurft hätten, über die wir auf dieser Reise nicht verfügten. Auf der Straße habe ich nie betrunkene Juden gesehen mit Ausnahme eines Bettlers in Dukla, der mir aber hauptsächlich dadurch auffiel, daß sein aus Fetzen und Lumpen in allen Farben bestehender Kaftan einen Grundstoff nicht mehr erkennen ließ. Der Mann, wie er über die Straße schwankte, war eine der Erscheinungen,

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[50/0050] Begriffe. Da sie nicht wissen, ob nicht Amerika eine Stadt in der Nähe von London ist, da sie nicht wissen, in welcher Zeit irgend ein Ort erreicht werden kann, da sie weder schreiben noch lesen können, also Briefe und direkte Nachrichten gar nicht erwarten und bezüglich ihrer Echtheit kontrollieren können, so ist jedes Mädchen, das auswandert, d. h. das seinen Heimatsort verläßt, auch noch innerhalb des Landes allen Zufällen und Böswilligkeiten preisgegeben. Ihre Unlust und Unfähigkeit gleichmäßig zu arbeiten, die Unkenntnis irgend einer Sprache außer Jargon und schlechtem Polnisch, hindert die Mädchen direkt, in eine gute Arbeitsstelle einzutreten. Das Hausier- und Kellnerinnengewerbe und geringe Verkäuferinnenstellen, die zulassen, gewisse ungeregelte Lebensgewohnheiten beizubehalten, locken sie am meisten, und damit sind sie jeder Aufsicht und jedem anständigen Familienanschluß entzogen. Der Auswanderung die größte Aufmerksamkeit zuzuwenden, dürfte der Kardinalpunkt einer jeden Bekämpfung des Mädchenhandels sein. In dieser Beziehung ist es sehr wichtig, daß die „freundschaftliche Warnung“ mit Adressen von Auskunftsstellen für allein reisende Mädchen, die wir an manchen Orten vorzeigten, überall wo wir sie zur Kenntnis brachten, von größter Wirkung war. Leider reichte unser Vorrat nicht, so viel davon zur Verteilung zu bringen, wie man von uns erbat. Wir konnten aber überall beobachten, welchen tiefen Eindruck die wenigen warnenden und aufklärenden Worte, die das Blatt enthält, auf die Kreise machte, für die sie berechnet sind. Über einen sehr wichtigen Punkt in der Sittlichkeitsfrage, den Alkoholmißbrauch, bin ich zu meinem Bedauern gar nicht in der Lage, aus eigener Beobachtung etwas mitteilen zu können, da wir, um Schänken und Wirtshäuser zu besuchen, einer besonderen Führung bedurft hätten, über die wir auf dieser Reise nicht verfügten. Auf der Straße habe ich nie betrunkene Juden gesehen mit Ausnahme eines Bettlers in Dukla, der mir aber hauptsächlich dadurch auffiel, daß sein aus Fetzen und Lumpen in allen Farben bestehender Kaftan einen Grundstoff nicht mehr erkennen ließ. Der Mann, wie er über die Straße schwankte, war eine der Erscheinungen,

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Zitationshilfe: Pappenheim, Bertha u. a.: Zur Lage der jüdischen Bevölkerung in Galizien. Reise-Eindrücke und Vorschläge zur Besserung der Verhältnisse. Frankfurt (Main), 1904, S. 50. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/pappenheim_galizien_1904/50>, abgerufen am 28.04.2024.