Pappenheim, Bertha u. a.: Zur Lage der jüdischen Bevölkerung in Galizien. Reise-Eindrücke und Vorschläge zur Besserung der Verhältnisse. Frankfurt (Main), 1904.bei denen ich bedauerte, weder Stift noch Kodak in meinem Dienst zu haben. Bezüglich des Trinkens erfuhr ich nur, daß manche jungen Leute monatelang eine Mischung von Schnaps und Schnupftabak zu sich nehmen, um sich militäruntauglich zu machen, - was ihnen auch bei dauernder Schädigung ihrer Gesundheit gelingt. Trotzdem der Mädchenhandel und die Sittlichkeitsfragen Ausgang und Ziel unserer Beobachtungen auf der Reise bildeten, kann ich doch darüber im Verhältnis zu der Wichtigkeit der Materie vielleicht am wenigsten Tatsächliches berichten. Wie in dem Nervenzentrum eines Organismus sammeln sich die wichtigsten Interessenfragen eines Volkes zu Sittlichkeitsbegriffen und strahlen auch wieder aus diesen in Lebensäußerungen zurück. Die Aufnahme von Eindrücken, der Umsatz und die Abgabe in Form von mehr oder weniger sittlichen Handlungen geschieht auf so unendlich fein verästelten Wegen, daß wir sie da, wo es sich nicht um grob Sinnfälliges handelt, gar nicht immer verfolgen können. Je schwerer es aber ist, in Sittlichkeitsfragen gerecht zu sein, je schwerer die Verantwortlichkeit, um so größer, schwieriger und notwendiger ist die Aufgabe, alles heranzuziehen, was zur Beleuchtung und Beurteilung des Materials, das zu unserer Erkenntnis gelangt, dient. Auf unserer Reise hat mich das Gefühl einer großen Verantwortlichkeit nie verlassen, und nun, da ich am Ende desjenigen Teiles meiner Mitteilungen bin, die meine Erfahrungen wiedergeben, fühle ich das Unzureichende derselben. Ich muß es sagen: ich habe unendlich mehr gesehen, als ich erzählen kann, unendlich mehr empfunden, als ich ausdrücken darf, um so objektiv zu bleiben, wie es mir möglich ist. Nun ich dem Bericht verlasse, um zu sachlichen Vorschlägen überzugehen, geschieht dies um so zaghafter, als ich mir wohl bewußt bin, daß meine Vorschläge keine erschütternden, die Lage der Dinge plötzlich verändernden sein werden: nicht Revolution, sondern Evolution braucht das Land. Aber das Land ist nicht schwach, es ist nur geschwächt, es kann bei denen ich bedauerte, weder Stift noch Kodak in meinem Dienst zu haben. Bezüglich des Trinkens erfuhr ich nur, daß manche jungen Leute monatelang eine Mischung von Schnaps und Schnupftabak zu sich nehmen, um sich militäruntauglich zu machen, – was ihnen auch bei dauernder Schädigung ihrer Gesundheit gelingt. Trotzdem der Mädchenhandel und die Sittlichkeitsfragen Ausgang und Ziel unserer Beobachtungen auf der Reise bildeten, kann ich doch darüber im Verhältnis zu der Wichtigkeit der Materie vielleicht am wenigsten Tatsächliches berichten. Wie in dem Nervenzentrum eines Organismus sammeln sich die wichtigsten Interessenfragen eines Volkes zu Sittlichkeitsbegriffen und strahlen auch wieder aus diesen in Lebensäußerungen zurück. Die Aufnahme von Eindrücken, der Umsatz und die Abgabe in Form von mehr oder weniger sittlichen Handlungen geschieht auf so unendlich fein verästelten Wegen, daß wir sie da, wo es sich nicht um grob Sinnfälliges handelt, gar nicht immer verfolgen können. Je schwerer es aber ist, in Sittlichkeitsfragen gerecht zu sein, je schwerer die Verantwortlichkeit, um so größer, schwieriger und notwendiger ist die Aufgabe, alles heranzuziehen, was zur Beleuchtung und Beurteilung des Materials, das zu unserer Erkenntnis gelangt, dient. Auf unserer Reise hat mich das Gefühl einer großen Verantwortlichkeit nie verlassen, und nun, da ich am Ende desjenigen Teiles meiner Mitteilungen bin, die meine Erfahrungen wiedergeben, fühle ich das Unzureichende derselben. Ich muß es sagen: ich habe unendlich mehr gesehen, als ich erzählen kann, unendlich mehr empfunden, als ich ausdrücken darf, um so objektiv zu bleiben, wie es mir möglich ist. Nun ich dem Bericht verlasse, um zu sachlichen Vorschlägen überzugehen, geschieht dies um so zaghafter, als ich mir wohl bewußt bin, daß meine Vorschläge keine erschütternden, die Lage der Dinge plötzlich verändernden sein werden: nicht Revolution, sondern Evolution braucht das Land. Aber das Land ist nicht schwach, es ist nur geschwächt, es kann <TEI> <text> <body> <div> <p><pb facs="#f0051" n="51"/> bei denen ich bedauerte, weder Stift noch Kodak in meinem Dienst zu haben.</p> <p>Bezüglich des Trinkens erfuhr ich nur, daß manche jungen Leute monatelang eine Mischung von Schnaps und Schnupftabak zu sich nehmen, um sich militäruntauglich zu machen, – was ihnen auch bei dauernder Schädigung ihrer Gesundheit gelingt.</p> <p>Trotzdem der Mädchenhandel und die Sittlichkeitsfragen Ausgang und Ziel unserer Beobachtungen auf der Reise bildeten, kann ich doch darüber im Verhältnis zu der Wichtigkeit der Materie vielleicht am wenigsten Tatsächliches berichten.</p> <p>Wie in dem Nervenzentrum eines Organismus sammeln sich die wichtigsten Interessenfragen eines Volkes zu Sittlichkeitsbegriffen und strahlen auch wieder aus diesen in Lebensäußerungen zurück.</p> <p>Die Aufnahme von Eindrücken, der Umsatz und die Abgabe in Form von mehr oder weniger sittlichen Handlungen geschieht auf so unendlich fein verästelten Wegen, daß wir sie da, wo es sich nicht um grob Sinnfälliges handelt, gar nicht immer verfolgen können.</p> <p>Je schwerer es aber ist, in Sittlichkeitsfragen gerecht zu sein, je schwerer die Verantwortlichkeit, um so größer, schwieriger und notwendiger ist die Aufgabe, alles heranzuziehen, was zur Beleuchtung und Beurteilung des Materials, das zu unserer Erkenntnis gelangt, dient.</p> <p>Auf unserer Reise hat mich das Gefühl einer großen Verantwortlichkeit nie verlassen, und nun, da ich am Ende desjenigen Teiles meiner Mitteilungen bin, die meine Erfahrungen wiedergeben, fühle ich das Unzureichende derselben.</p> <p>Ich muß es sagen: ich habe unendlich mehr gesehen, als ich erzählen kann, unendlich mehr empfunden, als ich ausdrücken darf, um so objektiv zu bleiben, wie es mir möglich ist.</p> <p>Nun ich dem Bericht verlasse, um zu sachlichen Vorschlägen überzugehen, geschieht dies um so zaghafter, als ich mir wohl bewußt bin, daß meine Vorschläge keine erschütternden, die Lage der Dinge plötzlich verändernden sein werden: nicht Revolution, sondern Evolution braucht das Land.</p> <p>Aber das Land ist nicht schwach, es ist nur geschwächt, es kann </p> </div> </body> </text> </TEI> [51/0051]
bei denen ich bedauerte, weder Stift noch Kodak in meinem Dienst zu haben.
Bezüglich des Trinkens erfuhr ich nur, daß manche jungen Leute monatelang eine Mischung von Schnaps und Schnupftabak zu sich nehmen, um sich militäruntauglich zu machen, – was ihnen auch bei dauernder Schädigung ihrer Gesundheit gelingt.
Trotzdem der Mädchenhandel und die Sittlichkeitsfragen Ausgang und Ziel unserer Beobachtungen auf der Reise bildeten, kann ich doch darüber im Verhältnis zu der Wichtigkeit der Materie vielleicht am wenigsten Tatsächliches berichten.
Wie in dem Nervenzentrum eines Organismus sammeln sich die wichtigsten Interessenfragen eines Volkes zu Sittlichkeitsbegriffen und strahlen auch wieder aus diesen in Lebensäußerungen zurück.
Die Aufnahme von Eindrücken, der Umsatz und die Abgabe in Form von mehr oder weniger sittlichen Handlungen geschieht auf so unendlich fein verästelten Wegen, daß wir sie da, wo es sich nicht um grob Sinnfälliges handelt, gar nicht immer verfolgen können.
Je schwerer es aber ist, in Sittlichkeitsfragen gerecht zu sein, je schwerer die Verantwortlichkeit, um so größer, schwieriger und notwendiger ist die Aufgabe, alles heranzuziehen, was zur Beleuchtung und Beurteilung des Materials, das zu unserer Erkenntnis gelangt, dient.
Auf unserer Reise hat mich das Gefühl einer großen Verantwortlichkeit nie verlassen, und nun, da ich am Ende desjenigen Teiles meiner Mitteilungen bin, die meine Erfahrungen wiedergeben, fühle ich das Unzureichende derselben.
Ich muß es sagen: ich habe unendlich mehr gesehen, als ich erzählen kann, unendlich mehr empfunden, als ich ausdrücken darf, um so objektiv zu bleiben, wie es mir möglich ist.
Nun ich dem Bericht verlasse, um zu sachlichen Vorschlägen überzugehen, geschieht dies um so zaghafter, als ich mir wohl bewußt bin, daß meine Vorschläge keine erschütternden, die Lage der Dinge plötzlich verändernden sein werden: nicht Revolution, sondern Evolution braucht das Land.
Aber das Land ist nicht schwach, es ist nur geschwächt, es kann
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