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Pappenheim, Bertha u. a.: Zur Lage der jüdischen Bevölkerung in Galizien. Reise-Eindrücke und Vorschläge zur Besserung der Verhältnisse. Frankfurt (Main), 1904.

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Wie solche Erscheinungen auf den Mädchenhandel zurückwirken müssen, ist klar. In einer seßhaften, wohlhabenden, arbeitsfähigen und intelligenten Bevölkerung gibt es für den Mädchenhandel keinen Raum.

Es muß aber wieder und wieder betont werden, daß diese Resultate bei proletarischen Bauernbetrieben nie erzielt werden: dort, wo alle Mitglieder der Familie auf Nebenerwerb ausgehen, ziehen auch die Mädchen in die Städte, um Arbeit zu suchen, und unter ungewohnten Lebensverhältnissen, von ihrer Familie getrennt und den schwersten Existenzkampf führend, werden sie leicht ein Opfer des Mädchenhandels und der Prostitution.

In der Stadt beschäftigen sich die galizischen Juden zum größten Teil mit dem Handel. Wenn man von kaufmännisch-kapitalistisch betriebenen Geschäften absieht, bleibt der Masse der jüdischen Händler nur der Kleinhandel übrig, der infolge mangelhafter Kreditquellen sehr unregelmäßig geführt wird. Der Wucher schleicht sich unter allen Deckmäntelchen in den Betrieb des jüdischen Kleinhändlers ein und macht ihn von dem Wucherer gänzlich abhängig. Da der Wucher zumeist mit anderen Geschäften verbunden ist, läßt er sich schwer aufdecken.

So habe ich in einer kleinen galizischen Stadt eine Form des Wuchers kennen gelernt, die mir bis dahin noch gänzlich unbekannt war: nämlich einen Wucher, der mit Juwelengeschäften verbunden ist. Wer von einem Juwelenhändler Geld leihen will, muß zunächst aus seinem Geschäfte einen Gegenstand kaufen, wobei die Preise von dem Juwelenhändler bestimmt werden. Dieser Handel bleibt aber ein nomineller. Da der angebliche Käufer nicht kaufen, sondern leihen will, muß er über den Kauf einen Wechsel ausstellen und den Gegenstand gleichzeitig in demselben Geschäfte hinterlegen, worüber er einen Pfandschein erhält.

Auf dem Papiere wird ihm nur der gesetzliche Zins berechnet, wozu noch die unkontrollierbare Rechnung für Lagergeld hinzukommt: tatsächlich hat aber der Schuldner außerdem noch doppelt soviel zu bezahlen als er bekommen hat, denn er hat nicht nur das gegen ein Pfand entliehene Geld, sondern auch den Preis des Pfandes selbst seinem Gläubiger zu bezahlen. Zwar bleibt er nach Abzahlung der ganzen Schuld im Besitze eines Schmuckgegenstandes, aber dieser ist für ihn überflüssig, und er muß ihn an

Wie solche Erscheinungen auf den Mädchenhandel zurückwirken müssen, ist klar. In einer seßhaften, wohlhabenden, arbeitsfähigen und intelligenten Bevölkerung gibt es für den Mädchenhandel keinen Raum.

Es muß aber wieder und wieder betont werden, daß diese Resultate bei proletarischen Bauernbetrieben nie erzielt werden: dort, wo alle Mitglieder der Familie auf Nebenerwerb ausgehen, ziehen auch die Mädchen in die Städte, um Arbeit zu suchen, und unter ungewohnten Lebensverhältnissen, von ihrer Familie getrennt und den schwersten Existenzkampf führend, werden sie leicht ein Opfer des Mädchenhandels und der Prostitution.

In der Stadt beschäftigen sich die galizischen Juden zum größten Teil mit dem Handel. Wenn man von kaufmännisch-kapitalistisch betriebenen Geschäften absieht, bleibt der Masse der jüdischen Händler nur der Kleinhandel übrig, der infolge mangelhafter Kreditquellen sehr unregelmäßig geführt wird. Der Wucher schleicht sich unter allen Deckmäntelchen in den Betrieb des jüdischen Kleinhändlers ein und macht ihn von dem Wucherer gänzlich abhängig. Da der Wucher zumeist mit anderen Geschäften verbunden ist, läßt er sich schwer aufdecken.

So habe ich in einer kleinen galizischen Stadt eine Form des Wuchers kennen gelernt, die mir bis dahin noch gänzlich unbekannt war: nämlich einen Wucher, der mit Juwelengeschäften verbunden ist. Wer von einem Juwelenhändler Geld leihen will, muß zunächst aus seinem Geschäfte einen Gegenstand kaufen, wobei die Preise von dem Juwelenhändler bestimmt werden. Dieser Handel bleibt aber ein nomineller. Da der angebliche Käufer nicht kaufen, sondern leihen will, muß er über den Kauf einen Wechsel ausstellen und den Gegenstand gleichzeitig in demselben Geschäfte hinterlegen, worüber er einen Pfandschein erhält.

Auf dem Papiere wird ihm nur der gesetzliche Zins berechnet, wozu noch die unkontrollierbare Rechnung für Lagergeld hinzukommt: tatsächlich hat aber der Schuldner außerdem noch doppelt soviel zu bezahlen als er bekommen hat, denn er hat nicht nur das gegen ein Pfand entliehene Geld, sondern auch den Preis des Pfandes selbst seinem Gläubiger zu bezahlen. Zwar bleibt er nach Abzahlung der ganzen Schuld im Besitze eines Schmuckgegenstandes, aber dieser ist für ihn überflüssig, und er muß ihn an

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[72/0072] Wie solche Erscheinungen auf den Mädchenhandel zurückwirken müssen, ist klar. In einer seßhaften, wohlhabenden, arbeitsfähigen und intelligenten Bevölkerung gibt es für den Mädchenhandel keinen Raum. Es muß aber wieder und wieder betont werden, daß diese Resultate bei proletarischen Bauernbetrieben nie erzielt werden: dort, wo alle Mitglieder der Familie auf Nebenerwerb ausgehen, ziehen auch die Mädchen in die Städte, um Arbeit zu suchen, und unter ungewohnten Lebensverhältnissen, von ihrer Familie getrennt und den schwersten Existenzkampf führend, werden sie leicht ein Opfer des Mädchenhandels und der Prostitution. In der Stadt beschäftigen sich die galizischen Juden zum größten Teil mit dem Handel. Wenn man von kaufmännisch-kapitalistisch betriebenen Geschäften absieht, bleibt der Masse der jüdischen Händler nur der Kleinhandel übrig, der infolge mangelhafter Kreditquellen sehr unregelmäßig geführt wird. Der Wucher schleicht sich unter allen Deckmäntelchen in den Betrieb des jüdischen Kleinhändlers ein und macht ihn von dem Wucherer gänzlich abhängig. Da der Wucher zumeist mit anderen Geschäften verbunden ist, läßt er sich schwer aufdecken. So habe ich in einer kleinen galizischen Stadt eine Form des Wuchers kennen gelernt, die mir bis dahin noch gänzlich unbekannt war: nämlich einen Wucher, der mit Juwelengeschäften verbunden ist. Wer von einem Juwelenhändler Geld leihen will, muß zunächst aus seinem Geschäfte einen Gegenstand kaufen, wobei die Preise von dem Juwelenhändler bestimmt werden. Dieser Handel bleibt aber ein nomineller. Da der angebliche Käufer nicht kaufen, sondern leihen will, muß er über den Kauf einen Wechsel ausstellen und den Gegenstand gleichzeitig in demselben Geschäfte hinterlegen, worüber er einen Pfandschein erhält. Auf dem Papiere wird ihm nur der gesetzliche Zins berechnet, wozu noch die unkontrollierbare Rechnung für Lagergeld hinzukommt: tatsächlich hat aber der Schuldner außerdem noch doppelt soviel zu bezahlen als er bekommen hat, denn er hat nicht nur das gegen ein Pfand entliehene Geld, sondern auch den Preis des Pfandes selbst seinem Gläubiger zu bezahlen. Zwar bleibt er nach Abzahlung der ganzen Schuld im Besitze eines Schmuckgegenstandes, aber dieser ist für ihn überflüssig, und er muß ihn an

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Zitationshilfe: Pappenheim, Bertha u. a.: Zur Lage der jüdischen Bevölkerung in Galizien. Reise-Eindrücke und Vorschläge zur Besserung der Verhältnisse. Frankfurt (Main), 1904, S. 72. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/pappenheim_galizien_1904/72>, abgerufen am 24.11.2024.