Pappenheim, Bertha u. a.: Zur Lage der jüdischen Bevölkerung in Galizien. Reise-Eindrücke und Vorschläge zur Besserung der Verhältnisse. Frankfurt (Main), 1904.seinen Gläubiger - natürlich für einen Spottpreis - verkaufen. Geschäfte dieser Art wickeln sich häufig ab und ruinieren eine Anzahl von jüdischen Händlern, die, da sie sich ihr ganzes Leben lang nur dem Handel gewidmet haben, ohne Hilfe von außen für jeden anderen Beruf unfähig sind. Diesem Übel suchen die Leihkassen des J. C. A. zu begegnen, indem sie den Juden billigen Kredit (6 %) gewähren. Überall wird von der Ehrlichkeit und Pünktlichkeit der Schuldner berichtet, die meistens kleine jüdische Handwerker und Händler sind. Leider gibt es nach dem Berichte der J. C. A. vom Jahre 1903 in ganz Galizien nur sechs solche Leihkassen, deren Vermehrung dringend zu wünschen wäre. Die Schaffung billiger Kreditmittel würde dazu beitragen, die jüdischen Händler den Ränken der Wucherer zu entreißen, und der jüdische Handel würde dadurch einen sichereren Charakter erhalten, eine Besserung, die auf die ganze Lebensweise der jüdischen Händlerklasse günstig einwirken würde. Neben dem Handel finden die Juden in den Städten Galiziens in Industrie und Handwerksbetrieben Beschäftigung. Hier sind die Juden sehr stark vertreten, sofern sie nicht von antisemitischen Betriebsleitern zurückgedrängt werden. Dieser Punkt darf nicht unberücksichtigt bleiben; so erfuhr ich von einer Sassower Papierfabrik, aus der alle jüdischen Arbeiter entlassen wurden, nachdem der Fabrikbesitzer, ein Jude, zum Christentum übergetreten war. In Borislaw erzählte man mir, daß christliche Besitzer von Naphtha-Gruben keine jüdischen Arbeiter aufnehmen u. s. w. Dagegen gibt es andere Betriebe, in denen aus religiösen Gründen nur Juden als Arbeiter angestellt werden können, so die Sephorim- und die Talessimfabriken. In den Talessimfabriken, die ich in Galizien kennen gelernt habe, fand ich einen sehr tüchtigen, sittlich und intellektuell hochstehenden jüdischen Arbeiterstand, der durchaus keiner Unterstützung seitens der Philanthropie bedarf. Die jüdischen Arbeiter und Arbeiterinnen in der Porzellanmalerei bei Brody und die Kerzenarbeiter in Kolomea stehen sozial und geistig viel niedriger als die vorerwähnten; ihre Lage läßt sich aber durch philanthropische Unternehmen nicht verbessern. seinen Gläubiger – natürlich für einen Spottpreis – verkaufen. Geschäfte dieser Art wickeln sich häufig ab und ruinieren eine Anzahl von jüdischen Händlern, die, da sie sich ihr ganzes Leben lang nur dem Handel gewidmet haben, ohne Hilfe von außen für jeden anderen Beruf unfähig sind. Diesem Übel suchen die Leihkassen des J. C. A. zu begegnen, indem sie den Juden billigen Kredit (6 %) gewähren. Überall wird von der Ehrlichkeit und Pünktlichkeit der Schuldner berichtet, die meistens kleine jüdische Handwerker und Händler sind. Leider gibt es nach dem Berichte der J. C. A. vom Jahre 1903 in ganz Galizien nur sechs solche Leihkassen, deren Vermehrung dringend zu wünschen wäre. Die Schaffung billiger Kreditmittel würde dazu beitragen, die jüdischen Händler den Ränken der Wucherer zu entreißen, und der jüdische Handel würde dadurch einen sichereren Charakter erhalten, eine Besserung, die auf die ganze Lebensweise der jüdischen Händlerklasse günstig einwirken würde. Neben dem Handel finden die Juden in den Städten Galiziens in Industrie und Handwerksbetrieben Beschäftigung. Hier sind die Juden sehr stark vertreten, sofern sie nicht von antisemitischen Betriebsleitern zurückgedrängt werden. Dieser Punkt darf nicht unberücksichtigt bleiben; so erfuhr ich von einer Sassower Papierfabrik, aus der alle jüdischen Arbeiter entlassen wurden, nachdem der Fabrikbesitzer, ein Jude, zum Christentum übergetreten war. In Borislaw erzählte man mir, daß christliche Besitzer von Naphtha-Gruben keine jüdischen Arbeiter aufnehmen u. s. w. Dagegen gibt es andere Betriebe, in denen aus religiösen Gründen nur Juden als Arbeiter angestellt werden können, so die Sephorim- und die Talessimfabriken. In den Talessimfabriken, die ich in Galizien kennen gelernt habe, fand ich einen sehr tüchtigen, sittlich und intellektuell hochstehenden jüdischen Arbeiterstand, der durchaus keiner Unterstützung seitens der Philanthropie bedarf. Die jüdischen Arbeiter und Arbeiterinnen in der Porzellanmalerei bei Brody und die Kerzenarbeiter in Kolomea stehen sozial und geistig viel niedriger als die vorerwähnten; ihre Lage läßt sich aber durch philanthropische Unternehmen nicht verbessern. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0073" n="73"/> seinen Gläubiger – natürlich für einen Spottpreis – verkaufen. Geschäfte dieser Art wickeln sich häufig ab und ruinieren eine Anzahl von jüdischen Händlern, die, da sie sich ihr ganzes Leben lang nur dem Handel gewidmet haben, ohne Hilfe von außen für jeden anderen Beruf unfähig sind.</p> <p>Diesem Übel suchen die Leihkassen des J. C. A. zu begegnen, indem sie den Juden billigen Kredit (6 %) gewähren. Überall wird von der Ehrlichkeit und Pünktlichkeit der Schuldner berichtet, die meistens kleine jüdische Handwerker und Händler sind.</p> <p>Leider gibt es nach dem Berichte der J. C. A. vom Jahre 1903 in ganz Galizien nur sechs solche Leihkassen, deren Vermehrung dringend zu wünschen wäre.</p> <p>Die Schaffung billiger Kreditmittel würde dazu beitragen, die jüdischen Händler den Ränken der Wucherer zu entreißen, und der jüdische Handel würde dadurch einen sichereren Charakter erhalten, eine Besserung, die auf die ganze Lebensweise der jüdischen Händlerklasse günstig einwirken würde.</p> <p>Neben dem Handel finden die Juden in den Städten Galiziens in Industrie und Handwerksbetrieben Beschäftigung. Hier sind die Juden sehr stark vertreten, sofern sie nicht von antisemitischen Betriebsleitern zurückgedrängt werden.</p> <p>Dieser Punkt darf nicht unberücksichtigt bleiben; so erfuhr ich von einer Sassower Papierfabrik, aus der alle jüdischen Arbeiter entlassen wurden, nachdem der Fabrikbesitzer, ein Jude, zum Christentum übergetreten war. In Borislaw erzählte man mir, daß christliche Besitzer von Naphtha-Gruben keine jüdischen Arbeiter aufnehmen u. s. w.</p> <p>Dagegen gibt es andere Betriebe, in denen aus religiösen Gründen nur Juden als Arbeiter angestellt werden können, so die Sephorim- und die Talessimfabriken. In den Talessimfabriken, die ich in Galizien kennen gelernt habe, fand ich einen sehr tüchtigen, sittlich und intellektuell hochstehenden jüdischen Arbeiterstand, der durchaus keiner Unterstützung seitens der Philanthropie bedarf.</p> <p>Die jüdischen Arbeiter und Arbeiterinnen in der Porzellanmalerei bei Brody und die Kerzenarbeiter in Kolomea stehen sozial und geistig viel niedriger als die vorerwähnten; ihre Lage läßt sich aber durch philanthropische Unternehmen nicht verbessern.</p> </div> </body> </text> </TEI> [73/0073]
seinen Gläubiger – natürlich für einen Spottpreis – verkaufen. Geschäfte dieser Art wickeln sich häufig ab und ruinieren eine Anzahl von jüdischen Händlern, die, da sie sich ihr ganzes Leben lang nur dem Handel gewidmet haben, ohne Hilfe von außen für jeden anderen Beruf unfähig sind.
Diesem Übel suchen die Leihkassen des J. C. A. zu begegnen, indem sie den Juden billigen Kredit (6 %) gewähren. Überall wird von der Ehrlichkeit und Pünktlichkeit der Schuldner berichtet, die meistens kleine jüdische Handwerker und Händler sind.
Leider gibt es nach dem Berichte der J. C. A. vom Jahre 1903 in ganz Galizien nur sechs solche Leihkassen, deren Vermehrung dringend zu wünschen wäre.
Die Schaffung billiger Kreditmittel würde dazu beitragen, die jüdischen Händler den Ränken der Wucherer zu entreißen, und der jüdische Handel würde dadurch einen sichereren Charakter erhalten, eine Besserung, die auf die ganze Lebensweise der jüdischen Händlerklasse günstig einwirken würde.
Neben dem Handel finden die Juden in den Städten Galiziens in Industrie und Handwerksbetrieben Beschäftigung. Hier sind die Juden sehr stark vertreten, sofern sie nicht von antisemitischen Betriebsleitern zurückgedrängt werden.
Dieser Punkt darf nicht unberücksichtigt bleiben; so erfuhr ich von einer Sassower Papierfabrik, aus der alle jüdischen Arbeiter entlassen wurden, nachdem der Fabrikbesitzer, ein Jude, zum Christentum übergetreten war. In Borislaw erzählte man mir, daß christliche Besitzer von Naphtha-Gruben keine jüdischen Arbeiter aufnehmen u. s. w.
Dagegen gibt es andere Betriebe, in denen aus religiösen Gründen nur Juden als Arbeiter angestellt werden können, so die Sephorim- und die Talessimfabriken. In den Talessimfabriken, die ich in Galizien kennen gelernt habe, fand ich einen sehr tüchtigen, sittlich und intellektuell hochstehenden jüdischen Arbeiterstand, der durchaus keiner Unterstützung seitens der Philanthropie bedarf.
Die jüdischen Arbeiter und Arbeiterinnen in der Porzellanmalerei bei Brody und die Kerzenarbeiter in Kolomea stehen sozial und geistig viel niedriger als die vorerwähnten; ihre Lage läßt sich aber durch philanthropische Unternehmen nicht verbessern.
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