Parthey, Gustav: Jugenderinnerungen. Bd. 2. Berlin, [1871].Ausbildung aller Kräfte kann uns dem unerreichbaren Ziele der Vollkommenheit entgegen führen. Später fand ich in der Neuen Berlinischen Monatschrift von Biester (1. Bd. 1799, p. 83-110) einen Auszug aus dieser Franklinschen Tugendübung, in der zuletzt der Stolz als der am schwersten zu überwindende Fehler aufgestellt wird. Mein Vater war äußerst wohlthätig, aber es kam beinahe nie vor, daß er einem Straßenbettler ein Almosen reichte, weil er die richtige Ueberzeugung hegte, daß dadurch in großen Städten viel mehr der Müßiggang befördert, als die wahre Noth der Armen gelindert werde. Dagegen ging er sehr oft persönlich zu denjenigen, die sich um Unterstützung an ihn wandten, überzeugte sich von ihren Zuständen, und gewährte reichliche Abhülfe. Es gehörte hiezu eine heroische Selbstüberwindung, die mir gänzlich versagt war. Ich begleitete ihn einmal auf einem solchen Ausfluge in ein entferntes Haus der Vorstadt; er mochte es mir wohl anmerken, welch' ein körperlich niederdrückendes Gefühl ich empfand, als wir zur Winterszeit eine schmutzige, von erstickendem Torfqualm erfüllte Stube betraten, in der ein armer Handwerker bei der Arbeit saß, während 3 oder 4 Kinder mit verbundenen Köpfen das Bett der kranken Mutter umstanden. Auf dem Rückwege konnte ich nicht aufhören zu weinen, obgleich mir, seitdem ich herangewachsen war, die Thränen nicht nahe kamen; mehrere Tage war ich trostlos bei dem Gedanken, daß es so viel Elend in der Welt gebe, und mein Vater setzte seine Armenbesuche allein fort. Später habe ich während meines ganzen Lebens durch Beisteuern aller Art zur Linderung der allgemeinen Noth beigetragen, aber der Besuch von Krankenstuben, Hospi- Ausbildung aller Kräfte kann uns dem unerreichbaren Ziele der Vollkommenheit entgegen führen. Später fand ich in der Neuen Berlinischen Monatschrift von Biester (1. Bd. 1799, p. 83–110) einen Auszug aus dieser Franklinschen Tugendübung, in der zuletzt der Stolz als der am schwersten zu überwindende Fehler aufgestellt wird. Mein Vater war äußerst wohlthätig, aber es kam beinahe nie vor, daß er einem Straßenbettler ein Almosen reichte, weil er die richtige Ueberzeugung hegte, daß dadurch in großen Städten viel mehr der Müßiggang befördert, als die wahre Noth der Armen gelindert werde. Dagegen ging er sehr oft persönlich zu denjenigen, die sich um Unterstützung an ihn wandten, überzeugte sich von ihren Zuständen, und gewährte reichliche Abhülfe. Es gehörte hiezu eine heroische Selbstüberwindung, die mir gänzlich versagt war. Ich begleitete ihn einmal auf einem solchen Ausfluge in ein entferntes Haus der Vorstadt; er mochte es mir wohl anmerken, welch’ ein körperlich niederdrückendes Gefühl ich empfand, als wir zur Winterszeit eine schmutzige, von erstickendem Torfqualm erfüllte Stube betraten, in der ein armer Handwerker bei der Arbeit saß, während 3 oder 4 Kinder mit verbundenen Köpfen das Bett der kranken Mutter umstanden. Auf dem Rückwege konnte ich nicht aufhören zu weinen, obgleich mir, seitdem ich herangewachsen war, die Thränen nicht nahe kamen; mehrere Tage war ich trostlos bei dem Gedanken, daß es so viel Elend in der Welt gebe, und mein Vater setzte seine Armenbesuche allein fort. Später habe ich während meines ganzen Lebens durch Beisteuern aller Art zur Linderung der allgemeinen Noth beigetragen, aber der Besuch von Krankenstuben, Hospi- <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0184" n="176"/> Ausbildung aller Kräfte kann uns dem unerreichbaren Ziele der Vollkommenheit entgegen führen. Später fand ich in der Neuen Berlinischen Monatschrift von Biester (1. Bd. 1799, p. 83–110) einen Auszug aus dieser Franklinschen Tugendübung, in der zuletzt der Stolz als der am schwersten zu überwindende Fehler aufgestellt wird. </p><lb/> <p>Mein Vater war äußerst wohlthätig, aber es kam beinahe nie vor, daß er einem Straßenbettler ein Almosen reichte, weil er die richtige Ueberzeugung hegte, daß dadurch in großen Städten viel mehr der Müßiggang befördert, als die wahre Noth der Armen gelindert werde. Dagegen ging er sehr oft persönlich zu denjenigen, die sich um Unterstützung an ihn wandten, überzeugte sich von ihren Zuständen, und gewährte reichliche Abhülfe. Es gehörte hiezu eine heroische Selbstüberwindung, die mir gänzlich versagt war. Ich begleitete ihn einmal auf einem solchen Ausfluge in ein entferntes Haus der Vorstadt; er mochte es mir wohl anmerken, welch’ ein körperlich niederdrückendes Gefühl ich empfand, als wir zur Winterszeit eine schmutzige, von erstickendem Torfqualm erfüllte Stube betraten, in der ein armer Handwerker bei der Arbeit saß, während 3 oder 4 Kinder mit verbundenen Köpfen das Bett der kranken Mutter umstanden. Auf dem Rückwege konnte ich nicht aufhören zu weinen, obgleich mir, seitdem ich herangewachsen war, die Thränen nicht nahe kamen; mehrere Tage war ich trostlos bei dem Gedanken, daß es so viel Elend in der Welt gebe, und mein Vater setzte seine Armenbesuche allein fort. Später habe ich während meines ganzen Lebens durch Beisteuern aller Art zur Linderung der allgemeinen Noth beigetragen, aber der Besuch von Krankenstuben, Hospi- </p> </div> </body> </text> </TEI> [176/0184]
Ausbildung aller Kräfte kann uns dem unerreichbaren Ziele der Vollkommenheit entgegen führen. Später fand ich in der Neuen Berlinischen Monatschrift von Biester (1. Bd. 1799, p. 83–110) einen Auszug aus dieser Franklinschen Tugendübung, in der zuletzt der Stolz als der am schwersten zu überwindende Fehler aufgestellt wird.
Mein Vater war äußerst wohlthätig, aber es kam beinahe nie vor, daß er einem Straßenbettler ein Almosen reichte, weil er die richtige Ueberzeugung hegte, daß dadurch in großen Städten viel mehr der Müßiggang befördert, als die wahre Noth der Armen gelindert werde. Dagegen ging er sehr oft persönlich zu denjenigen, die sich um Unterstützung an ihn wandten, überzeugte sich von ihren Zuständen, und gewährte reichliche Abhülfe. Es gehörte hiezu eine heroische Selbstüberwindung, die mir gänzlich versagt war. Ich begleitete ihn einmal auf einem solchen Ausfluge in ein entferntes Haus der Vorstadt; er mochte es mir wohl anmerken, welch’ ein körperlich niederdrückendes Gefühl ich empfand, als wir zur Winterszeit eine schmutzige, von erstickendem Torfqualm erfüllte Stube betraten, in der ein armer Handwerker bei der Arbeit saß, während 3 oder 4 Kinder mit verbundenen Köpfen das Bett der kranken Mutter umstanden. Auf dem Rückwege konnte ich nicht aufhören zu weinen, obgleich mir, seitdem ich herangewachsen war, die Thränen nicht nahe kamen; mehrere Tage war ich trostlos bei dem Gedanken, daß es so viel Elend in der Welt gebe, und mein Vater setzte seine Armenbesuche allein fort. Später habe ich während meines ganzen Lebens durch Beisteuern aller Art zur Linderung der allgemeinen Noth beigetragen, aber der Besuch von Krankenstuben, Hospi-
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Zitationshilfe: | Parthey, Gustav: Jugenderinnerungen. Bd. 2. Berlin, [1871], S. 176. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/parthey_jugenderinnerungen02_1871/184>, abgerufen am 16.02.2025. |