Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Parthey, Gustav: Jugenderinnerungen. Bd. 2. Berlin, [1871].

Bild:
<< vorherige Seite

Nicolais Schädel untersucht, fand er daran ein eminentes Organ des Ortsinnes, vermuthlich wegen Nicolais großer Reise durch Deutschland. Gall bedachte aber nicht, daß zwischen der natürlichen Fähigkeit, sich an einem fremden Orte schnell zurecht zu finden, und zwischen der Ausführung einer Reise gar kein Zusammenhang besteht, und Nicolai besaß nach Tante Jettchens Urtheil gar keinen Ortsinn. Sie hatte mit ihm die Reise nach Pyrmont mehr als einmal hin und her gemacht, und versicherte, daß Nicolai sich auf keiner der so oft besuchten Poststationen habe zurecht finden können. Sie verhehlte es nicht, daß Gall ihr immer wie ein höherer Charlatan vorgekommen sei.

Seit vielen Jahren lebte Gall in Montrouge bei Paris und erfreute sich einer starken ärztlichen Praxis. Man wußte von ihm, daß er in seiner Jugend bei den Damen großes Glück gemacht. Jetzt stand er im 62. Jahre und genoß einer sehr soliden Reputation.

Zu den Besuchern des herzoglichen Hauses, deren ich gern gedenke, gehörte auch der Marquis von Boisgelin, ein ausgesprochener aristokratischer Müßiggänger von gemäßigter politischer Gesinnung. In ihm konnte man, was das äußere Gebahren anbetrifft, das vollkomne Muster eines französischen Edelmannes erblicken. Schlank und schmächtig gebaut, von einnehmender Gesichtsbildung und ächter ungesuchter Eleganz im Anzuge, nicht mehr ein Jüngling, aber jung genug, um bei den Damen Gefallen zu finden, zeigte er in seinem Gespräche eine unbeschreibliche galante Feinheit, die durch den Karakter des französischen noch erhöht ward. Das näselnde der französischen Aussprache, das dem Fremden so schwer zu erreichen fällt, weil es als Affektation erscheint, wurde in seinem

Nicolais Schädel untersucht, fand er daran ein eminentes Organ des Ortsinnes, vermuthlich wegen Nicolais großer Reise durch Deutschland. Gall bedachte aber nicht, daß zwischen der natürlichen Fähigkeit, sich an einem fremden Orte schnell zurecht zu finden, und zwischen der Ausführung einer Reise gar kein Zusammenhang besteht, und Nicolai besaß nach Tante Jettchens Urtheil gar keinen Ortsinn. Sie hatte mit ihm die Reise nach Pyrmont mehr als einmal hin und her gemacht, und versicherte, daß Nicolai sich auf keiner der so oft besuchten Poststationen habe zurecht finden können. Sie verhehlte es nicht, daß Gall ihr immer wie ein höherer Charlatan vorgekommen sei.

Seit vielen Jahren lebte Gall in Montrouge bei Paris und erfreute sich einer starken ärztlichen Praxis. Man wußte von ihm, daß er in seiner Jugend bei den Damen großes Glück gemacht. Jetzt stand er im 62. Jahre und genoß einer sehr soliden Reputation.

Zu den Besuchern des herzoglichen Hauses, deren ich gern gedenke, gehörte auch der Marquis von Boisgelin, ein ausgesprochener aristokratischer Müßiggänger von gemäßigter politischer Gesinnung. In ihm konnte man, was das äußere Gebahren anbetrifft, das vollkomne Muster eines französischen Edelmannes erblicken. Schlank und schmächtig gebaut, von einnehmender Gesichtsbildung und ächter ungesuchter Eleganz im Anzuge, nicht mehr ein Jüngling, aber jung genug, um bei den Damen Gefallen zu finden, zeigte er in seinem Gespräche eine unbeschreibliche galante Feinheit, die durch den Karakter des französischen noch erhöht ward. Das näselnde der französischen Aussprache, das dem Fremden so schwer zu erreichen fällt, weil es als Affektation erscheint, wurde in seinem

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0431" n="423"/>
Nicolais Schädel untersucht, fand er daran ein eminentes Organ des Ortsinnes, vermuthlich wegen Nicolais großer Reise durch Deutschland. Gall bedachte aber nicht, daß zwischen der natürlichen Fähigkeit, sich an einem fremden Orte schnell zurecht zu finden, und zwischen der Ausführung einer Reise gar kein Zusammenhang besteht, und Nicolai besaß nach Tante Jettchens Urtheil gar keinen Ortsinn. Sie hatte mit ihm die Reise nach Pyrmont mehr als einmal hin und her gemacht, und versicherte, daß Nicolai sich auf keiner der so oft besuchten Poststationen habe zurecht finden können. Sie verhehlte es nicht, daß Gall ihr immer wie ein höherer Charlatan vorgekommen sei. </p><lb/>
        <p>Seit vielen Jahren lebte Gall in Montrouge bei Paris und erfreute sich einer starken ärztlichen Praxis. Man wußte von ihm, daß er in seiner Jugend bei den Damen großes Glück gemacht. Jetzt stand er im 62. Jahre und genoß einer sehr soliden Reputation. </p><lb/>
        <p>Zu den Besuchern des herzoglichen Hauses, deren ich gern gedenke, gehörte auch der Marquis von Boisgelin, ein ausgesprochener aristokratischer Müßiggänger von gemäßigter politischer Gesinnung. In ihm konnte man, was das äußere Gebahren anbetrifft, das vollkomne Muster eines französischen Edelmannes erblicken. Schlank und schmächtig gebaut, von einnehmender Gesichtsbildung und ächter ungesuchter Eleganz im Anzuge, nicht mehr ein Jüngling, aber jung genug, um bei den Damen Gefallen zu finden, zeigte er in seinem Gespräche eine unbeschreibliche galante Feinheit, die durch den Karakter des französischen noch erhöht ward. Das näselnde der französischen Aussprache, das dem Fremden so schwer zu erreichen fällt, weil es als Affektation erscheint, wurde in seinem
</p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[423/0431] Nicolais Schädel untersucht, fand er daran ein eminentes Organ des Ortsinnes, vermuthlich wegen Nicolais großer Reise durch Deutschland. Gall bedachte aber nicht, daß zwischen der natürlichen Fähigkeit, sich an einem fremden Orte schnell zurecht zu finden, und zwischen der Ausführung einer Reise gar kein Zusammenhang besteht, und Nicolai besaß nach Tante Jettchens Urtheil gar keinen Ortsinn. Sie hatte mit ihm die Reise nach Pyrmont mehr als einmal hin und her gemacht, und versicherte, daß Nicolai sich auf keiner der so oft besuchten Poststationen habe zurecht finden können. Sie verhehlte es nicht, daß Gall ihr immer wie ein höherer Charlatan vorgekommen sei. Seit vielen Jahren lebte Gall in Montrouge bei Paris und erfreute sich einer starken ärztlichen Praxis. Man wußte von ihm, daß er in seiner Jugend bei den Damen großes Glück gemacht. Jetzt stand er im 62. Jahre und genoß einer sehr soliden Reputation. Zu den Besuchern des herzoglichen Hauses, deren ich gern gedenke, gehörte auch der Marquis von Boisgelin, ein ausgesprochener aristokratischer Müßiggänger von gemäßigter politischer Gesinnung. In ihm konnte man, was das äußere Gebahren anbetrifft, das vollkomne Muster eines französischen Edelmannes erblicken. Schlank und schmächtig gebaut, von einnehmender Gesichtsbildung und ächter ungesuchter Eleganz im Anzuge, nicht mehr ein Jüngling, aber jung genug, um bei den Damen Gefallen zu finden, zeigte er in seinem Gespräche eine unbeschreibliche galante Feinheit, die durch den Karakter des französischen noch erhöht ward. Das näselnde der französischen Aussprache, das dem Fremden so schwer zu erreichen fällt, weil es als Affektation erscheint, wurde in seinem

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Wolfgang Virmond: Bereitstellung der Texttranskription. (2014-01-07T13:04:32Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Christian Thomas: Bearbeitung der digitalen Edition. (2014-01-07T13:04:32Z)
Staatsbibliothek zu Berlin – Stiftung Preußischer Kulturbesitz: Bereitstellung der Bilddigitalisate (Sign. Av 4887-1) (2014-01-07T13:04:32Z)

Weitere Informationen:

Anmerkungen zur Transkription:

  • Bogensignaturen: nicht übernommen
  • Kolumnentitel: nicht übernommen
  • Kustoden: nicht übernommen
  • langes s (ſ): als s transkribiert
  • Silbentrennung: aufgelöst
  • Zeilenumbrüche markiert: nein



Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/parthey_jugenderinnerungen02_1871
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/parthey_jugenderinnerungen02_1871/431
Zitationshilfe: Parthey, Gustav: Jugenderinnerungen. Bd. 2. Berlin, [1871], S. 423. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/parthey_jugenderinnerungen02_1871/431>, abgerufen am 02.06.2024.