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Jean Paul: Flegeljahre. Bd. 1. Tübingen, 1804.

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der zweite Krebs. In der That hatte schon in
der Bergstadt Elterlein bei Annaberg seine Sehn¬
sucht nach dem gleichnahmigen Geburtsdorf an¬
gefangen und zugenommen auf allen Gassen;
schon ein gleichnamiger Mensch, wie vielmehr ein
gleichnamiger Ort drängt sich warm ins Herz.
Auf der lebendigen Haslauer Straße -- die ein
verlängerter Markt schien -- nahm er seine Flöte
heraus und warf allen Passagiers durch Flöten¬
ansäze Konzertansäze entgegen und nach, schnapp¬
te aber häufig in guten Koloraturen und in bö¬
sen Dissonanzen ab und suchte sein Schnupftuch,
oder sah sich ruhig um. Die Landschaft stieg
bald rüstig auf und ab, bald zerlief sie in ein
breites ebenes Grasmeer, worinn Kornfluren und
Raine die Wellen vorstellten und Baumklumpen
die Schiffe. Rechts in Osten lief wie eine hohe
Nebelküste, die ferne Bergkette von Pestiz mit,
links in Abend flos die Welt eben hinab, gleich¬
sam den Abendröthen nach.

Da Vult erst Nachts anzulangen brauchte,
so hielt er sich überall auf. Seine Sanduhr der
JuliusTagszeiten waren die gemähten Wiesen,

der zweite Krebs. In der That hatte ſchon in
der Bergſtadt Elterlein bei Annaberg ſeine Sehn¬
ſucht nach dem gleichnahmigen Geburtsdorf an¬
gefangen und zugenommen auf allen Gaſſen;
ſchon ein gleichnamiger Menſch, wie vielmehr ein
gleichnamiger Ort draͤngt ſich warm ins Herz.
Auf der lebendigen Haslauer Straße — die ein
verlaͤngerter Markt ſchien — nahm er ſeine Floͤte
heraus und warf allen Paſſagiers durch Floͤten¬
anſaͤze Konzertanſaͤze entgegen und nach, ſchnapp¬
te aber haͤufig in guten Koloraturen und in boͤ¬
ſen Diſſonanzen ab und ſuchte ſein Schnupftuch,
oder ſah ſich ruhig um. Die Landſchaft ſtieg
bald ruͤſtig auf und ab, bald zerlief ſie in ein
breites ebenes Grasmeer, worinn Kornfluren und
Raine die Wellen vorſtellten und Baumklumpen
die Schiffe. Rechts in Oſten lief wie eine hohe
Nebelkuͤſte, die ferne Bergkette von Peſtiz mit,
links in Abend flos die Welt eben hinab, gleich¬
ſam den Abendroͤthen nach.

Da Vult erſt Nachts anzulangen brauchte,
ſo hielt er ſich uͤberall auf. Seine Sanduhr der
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[77/0087] der zweite Krebs. In der That hatte ſchon in der Bergſtadt Elterlein bei Annaberg ſeine Sehn¬ ſucht nach dem gleichnahmigen Geburtsdorf an¬ gefangen und zugenommen auf allen Gaſſen; ſchon ein gleichnamiger Menſch, wie vielmehr ein gleichnamiger Ort draͤngt ſich warm ins Herz. Auf der lebendigen Haslauer Straße — die ein verlaͤngerter Markt ſchien — nahm er ſeine Floͤte heraus und warf allen Paſſagiers durch Floͤten¬ anſaͤze Konzertanſaͤze entgegen und nach, ſchnapp¬ te aber haͤufig in guten Koloraturen und in boͤ¬ ſen Diſſonanzen ab und ſuchte ſein Schnupftuch, oder ſah ſich ruhig um. Die Landſchaft ſtieg bald ruͤſtig auf und ab, bald zerlief ſie in ein breites ebenes Grasmeer, worinn Kornfluren und Raine die Wellen vorſtellten und Baumklumpen die Schiffe. Rechts in Oſten lief wie eine hohe Nebelkuͤſte, die ferne Bergkette von Peſtiz mit, links in Abend flos die Welt eben hinab, gleich¬ ſam den Abendroͤthen nach. Da Vult erſt Nachts anzulangen brauchte, ſo hielt er ſich uͤberall auf. Seine Sanduhr der JuliusTagszeiten waren die gemaͤhten Wieſen,

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Zitationshilfe: Jean Paul: Flegeljahre. Bd. 1. Tübingen, 1804, S. 77. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/paul_flegeljahre01_1804/87>, abgerufen am 24.11.2024.