Ich schliesse den längsten ernsthaften Brief, den ich seit zehn Jahren geschrieben; denn es schlägt 101/2 Uhr, und er soll durchaus noch fort. Him¬ mel aber! wo magst du jezt seyn? Vielleicht schon mehr als Wersten- weit von unserm Haslau, und erfährest nun an dir selber, wie leicht es gros¬ sen Reisen wird, den Menschen auszubälgen und umzustülpen wie einen Polypen, und was es auf sich habe, wenn Häfen und Märkte und Völker vor uns vorübergehen, oder wir, was dasselbe ist, vor ihnen -- und wie es einem ziem¬ lich schwer ankommt, nicht zu verächtlich auf Stubenhocker herab zu sehen, die vielleicht noch nie über 10 Meilen weit von ihrem Sparofen weggekrochen und für welche ein Urtheil über ein Paar Reisende, wie wir, eine Unmöglichkeit ist. Solche Menschen sollten, Freund, nur einmal an ihrer eignen Haut erfahren, wie schwer das brit¬ tische Gesez, daß Leute, die aus der Stadt kom¬ men, denen ausweichen sollen, die in selbige reisen*), manchem Weltmann moralisch zu hal¬
*) Hume's vermischte Schriften, 3. Bd.
Ich ſchlieſſe den laͤngſten ernſthaften Brief, den ich ſeit zehn Jahren geſchrieben; denn es ſchlaͤgt 10½ Uhr, und er ſoll durchaus noch fort. Him¬ mel aber! wo magſt du jezt ſeyn? Vielleicht ſchon mehr als Werſten- weit von unſerm Haslau, und erfaͤhreſt nun an dir ſelber, wie leicht es groſ¬ ſen Reiſen wird, den Menſchen auszubaͤlgen und umzuſtuͤlpen wie einen Polypen, und was es auf ſich habe, wenn Haͤfen und Maͤrkte und Voͤlker vor uns voruͤbergehen, oder wir, was daſſelbe iſt, vor ihnen — und wie es einem ziem¬ lich ſchwer ankommt, nicht zu veraͤchtlich auf Stubenhocker herab zu ſehen, die vielleicht noch nie uͤber 10 Meilen weit von ihrem Sparofen weggekrochen und fuͤr welche ein Urtheil uͤber ein Paar Reiſende, wie wir, eine Unmoͤglichkeit iſt. Solche Menſchen ſollten, Freund, nur einmal an ihrer eignen Haut erfahren, wie ſchwer das brit¬ tiſche Geſez, daß Leute, die aus der Stadt kom¬ men, denen ausweichen ſollen, die in ſelbige reiſen*), manchem Weltmann moraliſch zu hal¬
*) Hume's vermiſchte Schriften, 3. Bd.
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Ich ſchlieſſe den laͤngſten ernſthaften Brief,
den ich ſeit zehn Jahren geſchrieben; denn es ſchlaͤgt
10½ Uhr, und er ſoll durchaus noch fort. Him¬
mel aber! wo magſt du jezt ſeyn? Vielleicht ſchon
mehr als Werſten- weit von unſerm Haslau, und
erfaͤhreſt nun an dir ſelber, wie leicht es groſ¬
ſen Reiſen wird, den Menſchen auszubaͤlgen
und umzuſtuͤlpen wie einen Polypen, und was
es auf ſich habe, wenn Haͤfen und Maͤrkte und
Voͤlker vor uns voruͤbergehen, oder wir, was
daſſelbe iſt, vor ihnen — und wie es einem ziem¬
lich ſchwer ankommt, nicht zu veraͤchtlich auf
Stubenhocker herab zu ſehen, die vielleicht noch
nie uͤber 10 Meilen weit von ihrem Sparofen
weggekrochen und fuͤr welche ein Urtheil uͤber ein
Paar Reiſende, wie wir, eine Unmoͤglichkeit iſt.
Solche Menſchen ſollten, Freund, nur einmal an
ihrer eignen Haut erfahren, wie ſchwer das brit¬
tiſche Geſez, daß Leute, die aus der Stadt kom¬
men, denen ausweichen ſollen, die in ſelbige
reiſen *), manchem Weltmann moraliſch zu hal¬
*) Hume's vermiſchte Schriften, 3. Bd.
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Jean Paul: Flegeljahre. Bd. 3. Tübingen, 1804, S. 138. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/paul_flegeljahre03_1804/146>, abgerufen am 17.02.2025.
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