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Jean Paul: Flegeljahre. Bd. 4. Tübingen, 1805.

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für eine wahre Nachtigall. Ein unmerklicher Irr¬
thum, da die Philomele, die uns singt, eigent¬
lich doch nirgends sitzt und nistet als in unserer
Brust! Schnell, wie von einem Zauberer, wur¬
den die steilen Felsenwände seiner Lage umher mit
Epheu und mit Blümchen überzogen. Der Mond
kam heller herein und Walt stand und ging mit¬
ten in seinem leisen Glanze träumend betend, es
war ihm als höben und hielten ihn die geraden
Strahlen und als habe er jeden gemeinen Gegen¬
stand im Zimmer oder auf der Gasse mit Festta¬
peten zu verhüllen, damit der Himmel nur Himm¬
lisches auch auf der Erde berühre. "So war es ge¬
rade einst," sang er mehrmals, auf jenen Abend deu¬
tend, wo er neben Wina's Zimmer mondstill auf und
ab ging. Ja er improvisirte singend den Polymeter:

"Liebst du mich", fragte der Jüngling die
Geliebte jeden Morgen; aber sie sah erröthet nie¬
der und schwieg. Sie wurde bleicher und er fragte
wieder, aber sie wurde roth und schwieg. Einst
als sie im Sterben war, kam er wieder und fragte,
aber nur aus Schmerz: "liebst du mich nicht?"
-- und sie sagte Ja und starb.

fuͤr eine wahre Nachtigall. Ein unmerklicher Irr¬
thum, da die Philomele, die uns ſingt, eigent¬
lich doch nirgends ſitzt und niſtet als in unſerer
Bruſt! Schnell, wie von einem Zauberer, wur¬
den die ſteilen Felſenwaͤnde ſeiner Lage umher mit
Epheu und mit Bluͤmchen uͤberzogen. Der Mond
kam heller herein und Walt ſtand und ging mit¬
ten in ſeinem leiſen Glanze traͤumend betend, es
war ihm als hoͤben und hielten ihn die geraden
Strahlen und als habe er jeden gemeinen Gegen¬
ſtand im Zimmer oder auf der Gaſſe mit Feſtta¬
peten zu verhuͤllen, damit der Himmel nur Himm¬
liſches auch auf der Erde beruͤhre. „So war es ge¬
rade einſt,“ ſang er mehrmals, auf jenen Abend deu¬
tend, wo er neben Wina's Zimmer mondſtill auf und
ab ging. Ja er improviſirte ſingend den Polymeter:

„Liebſt du mich“, fragte der Juͤngling die
Geliebte jeden Morgen; aber ſie ſah erroͤthet nie¬
der und ſchwieg. Sie wurde bleicher und er fragte
wieder, aber ſie wurde roth und ſchwieg. Einſt
als ſie im Sterben war, kam er wieder und fragte,
aber nur aus Schmerz: „liebſt du mich nicht?“
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[163/0169] fuͤr eine wahre Nachtigall. Ein unmerklicher Irr¬ thum, da die Philomele, die uns ſingt, eigent¬ lich doch nirgends ſitzt und niſtet als in unſerer Bruſt! Schnell, wie von einem Zauberer, wur¬ den die ſteilen Felſenwaͤnde ſeiner Lage umher mit Epheu und mit Bluͤmchen uͤberzogen. Der Mond kam heller herein und Walt ſtand und ging mit¬ ten in ſeinem leiſen Glanze traͤumend betend, es war ihm als hoͤben und hielten ihn die geraden Strahlen und als habe er jeden gemeinen Gegen¬ ſtand im Zimmer oder auf der Gaſſe mit Feſtta¬ peten zu verhuͤllen, damit der Himmel nur Himm¬ liſches auch auf der Erde beruͤhre. „So war es ge¬ rade einſt,“ ſang er mehrmals, auf jenen Abend deu¬ tend, wo er neben Wina's Zimmer mondſtill auf und ab ging. Ja er improviſirte ſingend den Polymeter: „Liebſt du mich“, fragte der Juͤngling die Geliebte jeden Morgen; aber ſie ſah erroͤthet nie¬ der und ſchwieg. Sie wurde bleicher und er fragte wieder, aber ſie wurde roth und ſchwieg. Einſt als ſie im Sterben war, kam er wieder und fragte, aber nur aus Schmerz: „liebſt du mich nicht?“ — und ſie ſagte Ja und ſtarb.

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Zitationshilfe: Jean Paul: Flegeljahre. Bd. 4. Tübingen, 1805, S. 163. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/paul_flegeljahre04_1805/169>, abgerufen am 25.11.2024.