ein Hund entgegen, dem er Brod hineingeworfen; aus jedem Fenster schrien ihm Kinder nach, die er geneckt hatte; und viele Buben, vor denen er vor¬ überlief, hielten sich für glücklich, wenn sie eine Mütze aufhatten -- sie konnten sie vor dem Herrn abnehmen. Denn sein erstes Studium in St. Lüne war die Geschichte in St. Lüne, die aus den münd¬ lichen Konduitenlisten der historischen Personen sel¬ ber und aus der Reichspostreiterin, aus der Pfarre¬ rin geschöpft werden mußte. Letztere hielt als Plu¬ tarchin allemal zwei Karaktere wie Tücher zusam¬ men; und ihr Mann las ihm nach bestem Wissen und Gewissen über die Kirchen- und Reformations¬ geschichte seines Beichtsprengels. Viktor legte sich auf diese mikrokosmische Universalhistorie aus zwei Absichten, erstlich um sie -- welches Brodstudenten auch bei der größern vorhaben -- rein wieder zu vergessen; zweitens, um im Dorfe so zu Hause zu seyn wie der Bettelvogt oder die Hebamme, woraus er den Vortheil zu ziehen hoffte, daß er betrübt wurde, wenn ein St. Lüner verstarb, und fröhlich, wenn er vorher heirathete.
-- Jetzt schreitet die Geschichte wieder von ei¬ nem Tage auf den andern fort, gleichsam auf den Steingen im Strome der Zeit. --
So schön war also der Frühling vor ihm vorü¬ bergegangen mit Sabbathswochen, mit den Pfingst¬
ein Hund entgegen, dem er Brod hineingeworfen; aus jedem Fenſter ſchrien ihm Kinder nach, die er geneckt hatte; und viele Buben, vor denen er vor¬ uͤberlief, hielten ſich fuͤr gluͤcklich, wenn ſie eine Muͤtze aufhatten — ſie konnten ſie vor dem Herrn abnehmen. Denn ſein erſtes Studium in St. Luͤne war die Geſchichte in St. Luͤne, die aus den muͤnd¬ lichen Konduitenliſten der hiſtoriſchen Perſonen ſel¬ ber und aus der Reichspoſtreiterin, aus der Pfarre¬ rin geſchoͤpft werden mußte. Letztere hielt als Plu¬ tarchin allemal zwei Karaktere wie Tuͤcher zuſam¬ men; und ihr Mann las ihm nach beſtem Wiſſen und Gewiſſen uͤber die Kirchen- und Reformations¬ geſchichte ſeines Beichtſprengels. Viktor legte ſich auf dieſe mikrokosmiſche Univerſalhiſtorie aus zwei Abſichten, erſtlich um ſie — welches Brodſtudenten auch bei der groͤßern vorhaben — rein wieder zu vergeſſen; zweitens, um im Dorfe ſo zu Hauſe zu ſeyn wie der Bettelvogt oder die Hebamme, woraus er den Vortheil zu ziehen hoffte, daß er betruͤbt wurde, wenn ein St. Luͤner verſtarb, und froͤhlich, wenn er vorher heirathete.
— Jetzt ſchreitet die Geſchichte wieder von ei¬ nem Tage auf den andern fort, gleichſam auf den Steingen im Strome der Zeit. —
So ſchoͤn war alſo der Fruͤhling vor ihm voruͤ¬ bergegangen mit Sabbathswochen, mit den Pfingſt¬
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0185"n="174"/>
ein Hund entgegen, dem er Brod hineingeworfen;<lb/>
aus jedem Fenſter ſchrien ihm Kinder nach, die er<lb/>
geneckt hatte; und viele Buben, vor denen er vor¬<lb/>
uͤberlief, hielten ſich fuͤr gluͤcklich, wenn ſie eine<lb/>
Muͤtze aufhatten —ſie konnten ſie vor dem Herrn<lb/>
abnehmen. Denn ſein erſtes Studium in St. Luͤne<lb/>
war die Geſchichte in St. Luͤne, die aus den muͤnd¬<lb/>
lichen Konduitenliſten der hiſtoriſchen Perſonen ſel¬<lb/>
ber und aus der Reichspoſtreiterin, aus der Pfarre¬<lb/>
rin geſchoͤpft werden mußte. Letztere hielt als Plu¬<lb/>
tarchin allemal zwei Karaktere wie Tuͤcher zuſam¬<lb/>
men; und ihr Mann las ihm nach beſtem Wiſſen<lb/>
und Gewiſſen uͤber die Kirchen- und Reformations¬<lb/>
geſchichte ſeines Beichtſprengels. Viktor legte ſich<lb/>
auf dieſe mikrokosmiſche Univerſalhiſtorie aus zwei<lb/>
Abſichten, erſtlich um ſie — welches Brodſtudenten<lb/>
auch bei der groͤßern vorhaben — rein wieder zu<lb/>
vergeſſen; zweitens, um im Dorfe ſo zu Hauſe zu<lb/>ſeyn wie der Bettelvogt oder die Hebamme, woraus<lb/>
er den Vortheil zu ziehen hoffte, daß er betruͤbt<lb/>
wurde, wenn ein St. Luͤner verſtarb, und froͤhlich,<lb/>
wenn er vorher heirathete.</p><lb/><p>— Jetzt ſchreitet die Geſchichte wieder von ei¬<lb/>
nem Tage auf den andern fort, gleichſam auf den<lb/>
Steingen im Strome der Zeit. —</p><lb/><p>So ſchoͤn war alſo der Fruͤhling vor ihm voruͤ¬<lb/>
bergegangen mit Sabbathswochen, mit den Pfingſt¬<lb/></p></div></body></text></TEI>
[174/0185]
ein Hund entgegen, dem er Brod hineingeworfen;
aus jedem Fenſter ſchrien ihm Kinder nach, die er
geneckt hatte; und viele Buben, vor denen er vor¬
uͤberlief, hielten ſich fuͤr gluͤcklich, wenn ſie eine
Muͤtze aufhatten — ſie konnten ſie vor dem Herrn
abnehmen. Denn ſein erſtes Studium in St. Luͤne
war die Geſchichte in St. Luͤne, die aus den muͤnd¬
lichen Konduitenliſten der hiſtoriſchen Perſonen ſel¬
ber und aus der Reichspoſtreiterin, aus der Pfarre¬
rin geſchoͤpft werden mußte. Letztere hielt als Plu¬
tarchin allemal zwei Karaktere wie Tuͤcher zuſam¬
men; und ihr Mann las ihm nach beſtem Wiſſen
und Gewiſſen uͤber die Kirchen- und Reformations¬
geſchichte ſeines Beichtſprengels. Viktor legte ſich
auf dieſe mikrokosmiſche Univerſalhiſtorie aus zwei
Abſichten, erſtlich um ſie — welches Brodſtudenten
auch bei der groͤßern vorhaben — rein wieder zu
vergeſſen; zweitens, um im Dorfe ſo zu Hauſe zu
ſeyn wie der Bettelvogt oder die Hebamme, woraus
er den Vortheil zu ziehen hoffte, daß er betruͤbt
wurde, wenn ein St. Luͤner verſtarb, und froͤhlich,
wenn er vorher heirathete.
— Jetzt ſchreitet die Geſchichte wieder von ei¬
nem Tage auf den andern fort, gleichſam auf den
Steingen im Strome der Zeit. —
So ſchoͤn war alſo der Fruͤhling vor ihm voruͤ¬
bergegangen mit Sabbathswochen, mit den Pfingſt¬
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Jean Paul: Hesperus, oder 45 Hundsposttage. Erstes Heftlein. Berlin, 1795, S. 174. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/paul_hesperus01_1795/185>, abgerufen am 23.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.