Reise war ganz anders als der zweite, dritte, acht¬ zigste. Denn am zweiten, dritten, achtzigsten war er prosaisch, humoristisch, stiptisch, d. h. er hing sich wie gehäckelter Same an jedes Menschenherz und schlug die Wurzeln seines Glücks in jedem frem¬ den Schicksal ein. Aber am ersten Tage kamen ver¬ hüllte Geister aus alten Stunden in seine Seele, welche verschwanden, wenn ein Dritter sprach -- ei¬ ne sanfte Trunkenheit, die ihm der Dunstkreis der Natur wie der eines Weinlagers mittheilte, legte sich wie eine magische Einsamkeit um seine Seele. . Warum will ich aber den ersten Tag schildern eh' ich ihn schildere.
In den ersten Stunden war er heute -- an der Ouvertüre der Reise -- frisch, froh, glücklich, aber nicht seelig; er trank noch, allein er war nicht trun¬ ken. Aber wenn er so einige Stunden mit schöpfen¬ dem Auge und saugendem Herzen gewandelt war durch Perlenschnüre bethaueter Gewebe, durch sum¬ sende Thäler, über singende Hügel, und wenn der blaulichte Himmel sich friedlich an die dampfenden Höhen und an die dunkeln wie Gärtenwände über¬ einander steigender Wälder schlos; wenn die Natur alle Röhren des Lebensstromes öfnete und wenn alle ihre Springbrunnen aufstiegen und brennend inein¬ ander spielten von der Sonne übermahlt: dann wur¬ de Viktor, der mit einem steigenden Herzen durch
Reiſe war ganz anders als der zweite, dritte, acht¬ zigſte. Denn am zweiten, dritten, achtzigſten war er proſaiſch, humoriſtiſch, ſtiptiſch, d. h. er hing ſich wie gehaͤckelter Same an jedes Menſchenherz und ſchlug die Wurzeln ſeines Gluͤcks in jedem frem¬ den Schickſal ein. Aber am erſten Tage kamen ver¬ huͤllte Geiſter aus alten Stunden in ſeine Seele, welche verſchwanden, wenn ein Dritter ſprach — ei¬ ne ſanfte Trunkenheit, die ihm der Dunſtkreis der Natur wie der eines Weinlagers mittheilte, legte ſich wie eine magiſche Einſamkeit um ſeine Seele. . Warum will ich aber den erſten Tag ſchildern eh' ich ihn ſchildere.
In den erſten Stunden war er heute — an der Ouvertuͤre der Reiſe — friſch, froh, gluͤcklich, aber nicht ſeelig; er trank noch, allein er war nicht trun¬ ken. Aber wenn er ſo einige Stunden mit ſchoͤpfen¬ dem Auge und ſaugendem Herzen gewandelt war durch Perlenſchnuͤre bethaueter Gewebe, durch ſum¬ ſende Thaͤler, uͤber ſingende Huͤgel, und wenn der blaulichte Himmel ſich friedlich an die dampfenden Hoͤhen und an die dunkeln wie Gaͤrtenwaͤnde uͤber¬ einander ſteigender Waͤlder ſchlos; wenn die Natur alle Roͤhren des Lebensſtromes oͤfnete und wenn alle ihre Springbrunnen aufſtiegen und brennend inein¬ ander ſpielten von der Sonne uͤbermahlt: dann wur¬ de Viktor, der mit einem ſteigenden Herzen durch
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Reiſe war ganz anders als der zweite, dritte, acht¬<lb/>
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Reiſe war ganz anders als der zweite, dritte, acht¬
zigſte. Denn am zweiten, dritten, achtzigſten war
er proſaiſch, humoriſtiſch, ſtiptiſch, d. h. er hing
ſich wie gehaͤckelter Same an jedes Menſchenherz
und ſchlug die Wurzeln ſeines Gluͤcks in jedem frem¬
den Schickſal ein. Aber am erſten Tage kamen ver¬
huͤllte Geiſter aus alten Stunden in ſeine Seele,
welche verſchwanden, wenn ein Dritter ſprach — ei¬
ne ſanfte Trunkenheit, die ihm der Dunſtkreis der
Natur wie der eines Weinlagers mittheilte, legte
ſich wie eine magiſche Einſamkeit um ſeine Seele. .
Warum will ich aber den erſten Tag ſchildern eh'
ich ihn ſchildere.
In den erſten Stunden war er heute — an der
Ouvertuͤre der Reiſe — friſch, froh, gluͤcklich, aber
nicht ſeelig; er trank noch, allein er war nicht trun¬
ken. Aber wenn er ſo einige Stunden mit ſchoͤpfen¬
dem Auge und ſaugendem Herzen gewandelt war
durch Perlenſchnuͤre bethaueter Gewebe, durch ſum¬
ſende Thaͤler, uͤber ſingende Huͤgel, und wenn der
blaulichte Himmel ſich friedlich an die dampfenden
Hoͤhen und an die dunkeln wie Gaͤrtenwaͤnde uͤber¬
einander ſteigender Waͤlder ſchlos; wenn die Natur
alle Roͤhren des Lebensſtromes oͤfnete und wenn alle
ihre Springbrunnen aufſtiegen und brennend inein¬
ander ſpielten von der Sonne uͤbermahlt: dann wur¬
de Viktor, der mit einem ſteigenden Herzen durch
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Jean Paul: Hesperus, oder 45 Hundsposttage. Erstes Heftlein. Berlin, 1795, S. 216. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/paul_hesperus01_1795/227>, abgerufen am 26.11.2024.
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