Geist, der schon damals in meinem Viktor die Flü¬ gel sah, die sich nach der andern Welt aufrichten, der schon damals mehr der Freund als der Lehrmei¬ ster seines so weichen, so wogenden, so liebevollen, so ahndungsvollen Herzens war, dieser unvergeßliche Geist wollte nicht weichen, seine Gestalt schlug den Leichenschleier zurück, fing an zu glänzen und an zu reden: "Horion, mein Horion, warst du nicht an "meiner Hand, warst du nicht an meinem Herzen? "Ach aber es ist lange, daß wir uns geliebt haben "und meine Stimme ist dir nicht mehr kenntlich, "kaum noch mein Angesicht -- ach die Zeiten der "Liebe rollen nicht zurück, sondern ewig weiter hin¬ "ab." Er lehnte sich an einen Baum und trocknete unaufhörlich das Auge, das den Weg nicht mehr fand und seine Blicke ruhten fest an den Wäldern, die nach St. Lüne gehen, und an den neblichten Bergen, die sich vor Maienthal und vor seinem zwei¬ ten Lehrer stellen. . . .
-- Kussevitz sprang vor.
Aber zu bald: seine bewegte Seele wollte noch nicht unter fremde Menschen. Es war ihm lieb, daß er an eine umgestürzte Rinne stieß, aus der Schafe Salz lecken, und an einen Zaun, der sie zu Nachts behütet, und an die Hütte auf zwei Rädern, worin ihr Wärter schläft. Er hatte eine eigne Neu¬ gierde und Vorliebe für kleine Kopien der Häuser
P 2
Geiſt, der ſchon damals in meinem Viktor die Fluͤ¬ gel ſah, die ſich nach der andern Welt aufrichten, der ſchon damals mehr der Freund als der Lehrmei¬ ſter ſeines ſo weichen, ſo wogenden, ſo liebevollen, ſo ahndungsvollen Herzens war, dieſer unvergeßliche Geiſt wollte nicht weichen, ſeine Geſtalt ſchlug den Leichenſchleier zuruͤck, fing an zu glaͤnzen und an zu reden: »Horion, mein Horion, warſt du nicht an »meiner Hand, warſt du nicht an meinem Herzen? »Ach aber es iſt lange, daß wir uns geliebt haben »und meine Stimme iſt dir nicht mehr kenntlich, »kaum noch mein Angeſicht — ach die Zeiten der »Liebe rollen nicht zuruͤck, ſondern ewig weiter hin¬ »ab.« Er lehnte ſich an einen Baum und trocknete unaufhoͤrlich das Auge, das den Weg nicht mehr fand und ſeine Blicke ruhten feſt an den Waͤldern, die nach St. Luͤne gehen, und an den neblichten Bergen, die ſich vor Maienthal und vor ſeinem zwei¬ ten Lehrer ſtellen. . . .
— Kuſſevitz ſprang vor.
Aber zu bald: ſeine bewegte Seele wollte noch nicht unter fremde Menſchen. Es war ihm lieb, daß er an eine umgeſtuͤrzte Rinne ſtieß, aus der Schafe Salz lecken, und an einen Zaun, der ſie zu Nachts behuͤtet, und an die Huͤtte auf zwei Raͤdern, worin ihr Waͤrter ſchlaͤft. Er hatte eine eigne Neu¬ gierde und Vorliebe fuͤr kleine Kopien der Haͤuſer
P 2
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0238"n="227"/>
Geiſt, der ſchon damals in meinem Viktor die Fluͤ¬<lb/>
gel ſah, die ſich nach der andern Welt aufrichten,<lb/>
der ſchon damals mehr der Freund als der Lehrmei¬<lb/>ſter ſeines ſo weichen, ſo wogenden, ſo liebevollen,<lb/>ſo ahndungsvollen Herzens war, dieſer unvergeßliche<lb/>
Geiſt wollte nicht weichen, ſeine Geſtalt ſchlug den<lb/>
Leichenſchleier zuruͤck, fing an zu glaͤnzen und an zu<lb/>
reden: »Horion, mein Horion, warſt du nicht an<lb/>
»meiner Hand, warſt du nicht an meinem Herzen?<lb/>
»Ach aber es iſt lange, daß wir uns geliebt haben<lb/>
»und meine Stimme iſt dir nicht mehr kenntlich,<lb/>
»kaum noch mein Angeſicht — ach die Zeiten der<lb/>
»Liebe rollen nicht zuruͤck, ſondern ewig weiter hin¬<lb/>
»ab.« Er lehnte ſich an einen Baum und trocknete<lb/>
unaufhoͤrlich das Auge, das den Weg nicht mehr<lb/>
fand und ſeine Blicke ruhten feſt an den Waͤldern,<lb/>
die nach St. Luͤne gehen, und an den neblichten<lb/>
Bergen, die ſich vor Maienthal und vor ſeinem zwei¬<lb/>
ten Lehrer ſtellen. . . .</p><lb/><p>— Kuſſevitz ſprang vor.</p><lb/><p>Aber zu bald: ſeine bewegte Seele wollte noch<lb/>
nicht unter fremde Menſchen. Es war ihm lieb,<lb/>
daß er an eine umgeſtuͤrzte Rinne ſtieß, aus der<lb/>
Schafe Salz lecken, und an einen Zaun, der ſie zu<lb/>
Nachts behuͤtet, und an die Huͤtte auf zwei Raͤdern,<lb/>
worin ihr Waͤrter ſchlaͤft. Er hatte eine eigne Neu¬<lb/>
gierde und Vorliebe fuͤr kleine Kopien der Haͤuſer<lb/><fwplace="bottom"type="sig">P 2<lb/></fw></p></div></body></text></TEI>
[227/0238]
Geiſt, der ſchon damals in meinem Viktor die Fluͤ¬
gel ſah, die ſich nach der andern Welt aufrichten,
der ſchon damals mehr der Freund als der Lehrmei¬
ſter ſeines ſo weichen, ſo wogenden, ſo liebevollen,
ſo ahndungsvollen Herzens war, dieſer unvergeßliche
Geiſt wollte nicht weichen, ſeine Geſtalt ſchlug den
Leichenſchleier zuruͤck, fing an zu glaͤnzen und an zu
reden: »Horion, mein Horion, warſt du nicht an
»meiner Hand, warſt du nicht an meinem Herzen?
»Ach aber es iſt lange, daß wir uns geliebt haben
»und meine Stimme iſt dir nicht mehr kenntlich,
»kaum noch mein Angeſicht — ach die Zeiten der
»Liebe rollen nicht zuruͤck, ſondern ewig weiter hin¬
»ab.« Er lehnte ſich an einen Baum und trocknete
unaufhoͤrlich das Auge, das den Weg nicht mehr
fand und ſeine Blicke ruhten feſt an den Waͤldern,
die nach St. Luͤne gehen, und an den neblichten
Bergen, die ſich vor Maienthal und vor ſeinem zwei¬
ten Lehrer ſtellen. . . .
— Kuſſevitz ſprang vor.
Aber zu bald: ſeine bewegte Seele wollte noch
nicht unter fremde Menſchen. Es war ihm lieb,
daß er an eine umgeſtuͤrzte Rinne ſtieß, aus der
Schafe Salz lecken, und an einen Zaun, der ſie zu
Nachts behuͤtet, und an die Huͤtte auf zwei Raͤdern,
worin ihr Waͤrter ſchlaͤft. Er hatte eine eigne Neu¬
gierde und Vorliebe fuͤr kleine Kopien der Haͤuſer
P 2
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Jean Paul: Hesperus, oder 45 Hundsposttage. Erstes Heftlein. Berlin, 1795, S. 227. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/paul_hesperus01_1795/238>, abgerufen am 27.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.