vor sich stehen. Jeder kindische, vergeßliche, ver¬ steinerte Alte erinnerte ihn an die Eisenhammermei¬ ster, die in ihrem Alter wie die Menschenseele ein krebsgängiges Avancement erdulden und wegen ihrer gewöhnlichen Erblindung wieder Aufgiesser -- dann Vorschmidte -- dann Hüttenjungen werden. Der gute Newton, Linnee, Swift wurden wieder Hüt¬ tenjungen der Gelehrsamkeit. Aber so sonderbar¬ furchtsam ist der Mensch, daß er, der die Seele bey der grösten vortheilhaften Abhängigkeit von den Organen doch noch für einen Selbstlauter ansieht, -- und mit Recht --, gleichwohl bey einer nachtheiligen besorgt, sie sey blos der Mitlau¬ ter des Körpers, -- und mit Unrecht -- -- --
Da ein Spaziergang um einen fremden Ort ei¬ nem Passagier die beste Naturalisazionsakte giebt -- und da Viktor nirgends fähig war, ein Fremder zu seyn: so gieng er -- ein wenig hinaus. In man¬ chen Nächten wird es nicht Nacht. Er sah draus¬ sen -- nicht weit von den Gartenstaketen des Se¬ niors, nicht des adelichen sondern des geistlichen -- ein sehr schönes Mädgen sitzen, in ein lateinisches Pfingstprogramm vertieft und daraus mit gefalteten Händen betend. Einer vereinigten Schön- und Toll¬ heit widerstand er nie: er grüste sie und wollte sie ihr lateinisches Gebetbuch nicht aufrollen und einste¬
vor ſich ſtehen. Jeder kindiſche, vergeßliche, ver¬ ſteinerte Alte erinnerte ihn an die Eiſenhammermei¬ ſter, die in ihrem Alter wie die Menſchenſeele ein krebsgaͤngiges Avancement erdulden und wegen ihrer gewoͤhnlichen Erblindung wieder Aufgieſſer — dann Vorſchmidte — dann Huͤttenjungen werden. Der gute Newton, Linnee, Swift wurden wieder Huͤt¬ tenjungen der Gelehrſamkeit. Aber ſo ſonderbar¬ furchtſam iſt der Menſch, daß er, der die Seele bey der groͤſten vortheilhaften Abhaͤngigkeit von den Organen doch noch fuͤr einen Selbſtlauter anſieht, — und mit Recht —, gleichwohl bey einer nachtheiligen beſorgt, ſie ſey blos der Mitlau¬ ter des Koͤrpers, — und mit Unrecht — — —
Da ein Spaziergang um einen fremden Ort ei¬ nem Paſſagier die beſte Naturaliſazionsakte giebt — und da Viktor nirgends faͤhig war, ein Fremder zu ſeyn: ſo gieng er — ein wenig hinaus. In man¬ chen Naͤchten wird es nicht Nacht. Er ſah drauſ¬ ſen — nicht weit von den Gartenſtaketen des Se¬ niors, nicht des adelichen ſondern des geiſtlichen — ein ſehr ſchoͤnes Maͤdgen ſitzen, in ein lateiniſches Pfingſtprogramm vertieft und daraus mit gefalteten Haͤnden betend. Einer vereinigten Schoͤn- und Toll¬ heit widerſtand er nie: er gruͤſte ſie und wollte ſie ihr lateiniſches Gebetbuch nicht aufrollen und einſte¬
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vor ſich ſtehen. Jeder kindiſche, vergeßliche, ver¬
ſteinerte Alte erinnerte ihn an die Eiſenhammermei¬
ſter, die in ihrem Alter wie die Menſchenſeele ein
krebsgaͤngiges Avancement erdulden und wegen ihrer
gewoͤhnlichen Erblindung wieder Aufgieſſer — dann
Vorſchmidte — dann Huͤttenjungen werden. Der
gute Newton, Linnee, Swift wurden wieder Huͤt¬
tenjungen der Gelehrſamkeit. Aber ſo ſonderbar¬
furchtſam iſt der Menſch, daß er, der die Seele
bey der groͤſten vortheilhaften Abhaͤngigkeit von
den Organen doch noch fuͤr einen Selbſtlauter
anſieht, — und mit Recht —, gleichwohl bey einer
nachtheiligen beſorgt, ſie ſey blos der Mitlau¬
ter des Koͤrpers, — und mit Unrecht — — —
Da ein Spaziergang um einen fremden Ort ei¬
nem Paſſagier die beſte Naturaliſazionsakte giebt —
und da Viktor nirgends faͤhig war, ein Fremder zu
ſeyn: ſo gieng er — ein wenig hinaus. In man¬
chen Naͤchten wird es nicht Nacht. Er ſah drauſ¬
ſen — nicht weit von den Gartenſtaketen des Se¬
niors, nicht des adelichen ſondern des geiſtlichen —
ein ſehr ſchoͤnes Maͤdgen ſitzen, in ein lateiniſches
Pfingſtprogramm vertieft und daraus mit gefalteten
Haͤnden betend. Einer vereinigten Schoͤn- und Toll¬
heit widerſtand er nie: er gruͤſte ſie und wollte ſie
ihr lateiniſches Gebetbuch nicht aufrollen und einſte¬
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Jean Paul: Hesperus, oder 45 Hundsposttage. Erstes Heftlein. Berlin, 1795, S. 236. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/paul_hesperus01_1795/247>, abgerufen am 23.11.2024.
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