Zwei Tage später. Ich und mein Brief sind noch hier; aber heute reiset er auf vier Tage vor mir voraus. Ich denke ordentlich, dieses letztemal werde mir jede Blume in Maienthal und jedes Wort, das mir mein bester Lehrer sagt, noch größere und sanftere Freude machen als je, weil ich gerade aus dem Geräusche der Visiten und mit einem so melancholischen Herzen hinkomme. Am Morgen nach jener schönen Nacht des Kirchgangfestes sas ich allein in einer Laube neben dem großen Teiche und machte mich durch alles trauriger, was ich sah und dachte -- denn diesen ganzen Morgen stand wegen einem Traume meine erblichene Freundin *)in mei¬ ner Seele -- ihr Grab lag durchsichtig auf ihr und ich blickte hinein und sah diese Himmels-Lillie blaß und still darinnen liegen -- ich dachte wohl an un¬ sere Verpflanzung für die zweite Welt, da der Gärt¬ ner Blumen zugleich mit ihren Töpfen in die Erde grub, aber ich konnte doch meine Thränen nicht mehr stillen -- Vergeblich sah ich den heitern Früh¬ ling an, der jeden Tag neue Farben, neue Mücken, neue Blumen aus der Erde zieht -- ich wurde nur betrübter, da er alles vergüngt, aber den Menschen nicht -- Und als ich H. von Schleunes von wei¬
*) Sie meint die Giulia, von deren Leichnam sie der Schmerz weggetrieben hatte.
Zwei Tage ſpaͤter. Ich und mein Brief ſind noch hier; aber heute reiſet er auf vier Tage vor mir voraus. Ich denke ordentlich, dieſes letztemal werde mir jede Blume in Maienthal und jedes Wort, das mir mein beſter Lehrer ſagt, noch groͤßere und ſanftere Freude machen als je, weil ich gerade aus dem Geraͤuſche der Viſiten und mit einem ſo melancholiſchen Herzen hinkomme. Am Morgen nach jener ſchoͤnen Nacht des Kirchgangfeſtes ſas ich allein in einer Laube neben dem großen Teiche und machte mich durch alles trauriger, was ich ſah und dachte — denn dieſen ganzen Morgen ſtand wegen einem Traume meine erblichene Freundin *)in mei¬ ner Seele — ihr Grab lag durchſichtig auf ihr und ich blickte hinein und ſah dieſe Himmels-Lillie blaß und ſtill darinnen liegen — ich dachte wohl an un¬ ſere Verpflanzung fuͤr die zweite Welt, da der Gaͤrt¬ ner Blumen zugleich mit ihren Toͤpfen in die Erde grub, aber ich konnte doch meine Thraͤnen nicht mehr ſtillen — Vergeblich ſah ich den heitern Fruͤh¬ ling an, der jeden Tag neue Farben, neue Muͤcken, neue Blumen aus der Erde zieht — ich wurde nur betruͤbter, da er alles verguͤngt, aber den Menſchen nicht — Und als ich H. von Schleunes von wei¬
*) Sie meint die Giulia, von deren Leichnam ſie der Schmerz weggetrieben hatte.
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Zwei Tage ſpaͤter. Ich und mein Brief ſind
noch hier; aber heute reiſet er auf vier Tage vor
mir voraus. Ich denke ordentlich, dieſes letztemal
werde mir jede Blume in Maienthal und jedes
Wort, das mir mein beſter Lehrer ſagt, noch groͤßere
und ſanftere Freude machen als je, weil ich gerade
aus dem Geraͤuſche der Viſiten und mit einem ſo
melancholiſchen Herzen hinkomme. Am Morgen
nach jener ſchoͤnen Nacht des Kirchgangfeſtes ſas ich
allein in einer Laube neben dem großen Teiche und
machte mich durch alles trauriger, was ich ſah und
dachte — denn dieſen ganzen Morgen ſtand wegen
einem Traume meine erblichene Freundin *)in mei¬
ner Seele — ihr Grab lag durchſichtig auf ihr und
ich blickte hinein und ſah dieſe Himmels-Lillie blaß
und ſtill darinnen liegen — ich dachte wohl an un¬
ſere Verpflanzung fuͤr die zweite Welt, da der Gaͤrt¬
ner Blumen zugleich mit ihren Toͤpfen in die Erde
grub, aber ich konnte doch meine Thraͤnen nicht
mehr ſtillen — Vergeblich ſah ich den heitern Fruͤh¬
ling an, der jeden Tag neue Farben, neue Muͤcken,
neue Blumen aus der Erde zieht — ich wurde nur
betruͤbter, da er alles verguͤngt, aber den Menſchen
nicht — Und als ich H. von Schleunes von wei¬
*)
Sie meint die Giulia, von deren Leichnam ſie der Schmerz
weggetrieben hatte.
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Jean Paul: Hesperus, oder 45 Hundsposttage. Erstes Heftlein. Berlin, 1795, S. 341. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/paul_hesperus01_1795/352>, abgerufen am 22.11.2024.
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