er immer hinausgehen mußte, um den Schmerz hin¬ wegzunehmen, vor dem Blinden, den er um die trau¬ rigste Melodie von der Welt gebeten haben würde, satt strömen lassen können.
Als er Abends das letztemal aß und die Abend¬ glocke anfing: wurde seinem Herzen als wäre von demselben die Brust weggehoben und Eisspitzen wür¬ den darauf geweht. Er umschlang voll Liebe den Jüngling, den er nicht als den Gespielen seiner Kindheit erkennen durfte und der mit seinen Tönen mehr Entzückungen gegeben hatte als er in seiner Nacht zurückbekam; und ließ Thränen ihren Lauf, von denen Emanuel nicht die doppelte Quelle er¬ rieth. Diesen bat er noch mit einer über den Sinn hinübereilenden Stimme, ihn ein wenig zu begleiten, bis Maienthal verschwunden wäre.
In der dunkeln stillen Gegend draussen blieben alle Schmerzen in der Brust neben ihren Seufzern. "Wenn der Mond in dieses Blütenthal hereinschim¬ mert, dacht' er, hab' ich es aus lange verlassen." Bloß die Altarlichter, die Sterne, brannten im gro¬ ßen Tempel. Er wollte sich von seinem Lehrer auf dem Berge trennen, wo er sich mit ihm vereinigt hatte; aber er ging durch Umwege -- Emanuel folgte ihm gern wohin er ihn führte -- hinauf, um das Schweigen und Weinen unter dem Umwege zu überwältigen.
er immer hinausgehen mußte, um den Schmerz hin¬ wegzunehmen, vor dem Blinden, den er um die trau¬ rigſte Melodie von der Welt gebeten haben wuͤrde, ſatt ſtroͤmen laſſen koͤnnen.
Als er Abends das letztemal aß und die Abend¬ glocke anfing: wurde ſeinem Herzen als waͤre von demſelben die Bruſt weggehoben und Eisſpitzen wuͤr¬ den darauf geweht. Er umſchlang voll Liebe den Juͤngling, den er nicht als den Geſpielen ſeiner Kindheit erkennen durfte und der mit ſeinen Toͤnen mehr Entzuͤckungen gegeben hatte als er in ſeiner Nacht zuruͤckbekam; und ließ Thraͤnen ihren Lauf, von denen Emanuel nicht die doppelte Quelle er¬ rieth. Dieſen bat er noch mit einer uͤber den Sinn hinuͤbereilenden Stimme, ihn ein wenig zu begleiten, bis Maienthal verſchwunden waͤre.
In der dunkeln ſtillen Gegend drauſſen blieben alle Schmerzen in der Bruſt neben ihren Seufzern. »Wenn der Mond in dieſes Bluͤtenthal hereinſchim¬ mert, dacht' er, hab' ich es aus lange verlaſſen.« Bloß die Altarlichter, die Sterne, brannten im gro¬ ßen Tempel. Er wollte ſich von ſeinem Lehrer auf dem Berge trennen, wo er ſich mit ihm vereinigt hatte; aber er ging durch Umwege — Emanuel folgte ihm gern wohin er ihn fuͤhrte — hinauf, um das Schweigen und Weinen unter dem Umwege zu uͤberwaͤltigen.
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er immer hinausgehen mußte, um den Schmerz hin¬
wegzunehmen, vor dem Blinden, den er um die trau¬
rigſte Melodie von der Welt gebeten haben wuͤrde,
ſatt ſtroͤmen laſſen koͤnnen.
Als er Abends das letztemal aß und die Abend¬
glocke anfing: wurde ſeinem Herzen als waͤre von
demſelben die Bruſt weggehoben und Eisſpitzen wuͤr¬
den darauf geweht. Er umſchlang voll Liebe den
Juͤngling, den er nicht als den Geſpielen ſeiner
Kindheit erkennen durfte und der mit ſeinen Toͤnen
mehr Entzuͤckungen gegeben hatte als er in ſeiner
Nacht zuruͤckbekam; und ließ Thraͤnen ihren Lauf,
von denen Emanuel nicht die doppelte Quelle er¬
rieth. Dieſen bat er noch mit einer uͤber den Sinn
hinuͤbereilenden Stimme, ihn ein wenig zu begleiten,
bis Maienthal verſchwunden waͤre.
In der dunkeln ſtillen Gegend drauſſen blieben
alle Schmerzen in der Bruſt neben ihren Seufzern.
»Wenn der Mond in dieſes Bluͤtenthal hereinſchim¬
mert, dacht' er, hab' ich es aus lange verlaſſen.«
Bloß die Altarlichter, die Sterne, brannten im gro¬
ßen Tempel. Er wollte ſich von ſeinem Lehrer auf
dem Berge trennen, wo er ſich mit ihm vereinigt
hatte; aber er ging durch Umwege — Emanuel
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das Schweigen und Weinen unter dem Umwege zu
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Jean Paul: Hesperus, oder 45 Hundsposttage. Erstes Heftlein. Berlin, 1795, S. 348. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/paul_hesperus01_1795/359>, abgerufen am 22.11.2024.
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