gegen unsere Lieblinge zu gut und gegen unsere An¬ tipoden zu hart. Als nun Viktor in dieser bittern Laune neben einem Spieltisch zusah und über die ganze Assemblee sich innerliche Vorlesungen hielt, lectures upon heads*), wo er sich statt der Köpfe aus Pappendeckel bloß mit dickern behalf: so fiel durch die Erinnerung an die stille Menschenduldung, womit Klotilde sich in eben diese Menschen ihren Eltern zu Liebe bequemet hatte, der ganze Eispanzer, der sich um sein Herz wie um eine Blume gelegt hatte, zerflossen herab und sein erwärmtes Herz sagte mit der ersten heutigen Freude: "Warum hass' ich "denn diese eben so gequälten als quälenden Gestal¬ "ten so hart? Sind sie nur meinetwegen, haben sie "nicht auch ihr Ich? Müssen sie sich mit diesem "mangelhaften, gepeinigten Selbst nicht durch die "ganze Ewigkeit schleppen? Wird nicht jeder von "irgend einer fremden Seele noch geliebt, warum "willst denn du nur Stof zum Abscheu an ihnen "sehen und aus jeder Mine, aus jedem Laute Säure "ziehen? -- Nein, ich will die Menschen bloß "lieben, weil sie Menschen sind." -- Ja wohl! die Freundschaft kann Vorzüge begehren, aber die Menschenliebe bloß Menschengestalt. Da¬ her haben wir eben alle eine so kalte, eine so wech¬
*) So nannte Steevens sein satirisches Kollegienlesen über Köpfe aus Pappendeckel, dem halb London zulief.
gegen unſere Lieblinge zu gut und gegen unſere An¬ tipoden zu hart. Als nun Viktor in dieſer bittern Laune neben einem Spieltiſch zuſah und uͤber die ganze Aſſemblee ſich innerliche Vorleſungen hielt, lectures upon heads*), wo er ſich ſtatt der Koͤpfe aus Pappendeckel bloß mit dickern behalf: ſo fiel durch die Erinnerung an die ſtille Menſchenduldung, womit Klotilde ſich in eben dieſe Menſchen ihren Eltern zu Liebe bequemet hatte, der ganze Eispanzer, der ſich um ſein Herz wie um eine Blume gelegt hatte, zerfloſſen herab und ſein erwaͤrmtes Herz ſagte mit der erſten heutigen Freude: »Warum haſſ' ich »denn dieſe eben ſo gequaͤlten als quaͤlenden Geſtal¬ »ten ſo hart? Sind ſie nur meinetwegen, haben ſie »nicht auch ihr Ich? Muͤſſen ſie ſich mit dieſem »mangelhaften, gepeinigten Selbſt nicht durch die »ganze Ewigkeit ſchleppen? Wird nicht jeder von »irgend einer fremden Seele noch geliebt, warum »willſt denn du nur Stof zum Abſcheu an ihnen »ſehen und aus jeder Mine, aus jedem Laute Saͤure »ziehen? — Nein, ich will die Menſchen bloß »lieben, weil ſie Menſchen ſind.« — Ja wohl! die Freundſchaft kann Vorzuͤge begehren, aber die Menſchenliebe bloß Menſchengeſtalt. Da¬ her haben wir eben alle eine ſo kalte, eine ſo wech¬
*) So nannte Steevens ſein ſatiriſches Kollegienleſen uͤber Köpfe aus Pappendeckel, dem halb London zulief.
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gegen unſere Lieblinge zu gut und gegen unſere An¬
tipoden zu hart. Als nun Viktor in dieſer bittern
Laune neben einem Spieltiſch zuſah und uͤber die
ganze Aſſemblee ſich innerliche Vorleſungen hielt,
lectures upon heads *), wo er ſich ſtatt der Koͤpfe
aus Pappendeckel bloß mit dickern behalf: ſo fiel
durch die Erinnerung an die ſtille Menſchenduldung,
womit Klotilde ſich in eben dieſe Menſchen ihren
Eltern zu Liebe bequemet hatte, der ganze Eispanzer,
der ſich um ſein Herz wie um eine Blume gelegt
hatte, zerfloſſen herab und ſein erwaͤrmtes Herz ſagte
mit der erſten heutigen Freude: »Warum haſſ' ich
»denn dieſe eben ſo gequaͤlten als quaͤlenden Geſtal¬
»ten ſo hart? Sind ſie nur meinetwegen, haben ſie
»nicht auch ihr Ich? Muͤſſen ſie ſich mit dieſem
»mangelhaften, gepeinigten Selbſt nicht durch die
»ganze Ewigkeit ſchleppen? Wird nicht jeder von
»irgend einer fremden Seele noch geliebt, warum
»willſt denn du nur Stof zum Abſcheu an ihnen
»ſehen und aus jeder Mine, aus jedem Laute Saͤure
»ziehen? — Nein, ich will die Menſchen bloß
»lieben, weil ſie Menſchen ſind.« — Ja
wohl! die Freundſchaft kann Vorzuͤge begehren,
aber die Menſchenliebe bloß Menſchengeſtalt. Da¬
her haben wir eben alle eine ſo kalte, eine ſo wech¬
*) So nannte Steevens ſein ſatiriſches Kollegienleſen uͤber
Köpfe aus Pappendeckel, dem halb London zulief.
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Jean Paul: Hesperus, oder 45 Hundsposttage. Drittes Heftlein. Berlin, 1795, S. 242. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/paul_hesperus03_1795/252>, abgerufen am 23.11.2024.
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