standen, damit das einschneidende Schwirren jeden Bebenden zerlegte. -- Und eine hohe Gestalt, um die ein dunkles Wölkgen zog, trat auf in einem weißen Schleier und sagte melodisch: "vergehet "süßer an Tönen."
Ach! sie wären vergangen und gern vergangen an der Wehmuth der Melodie, wenn jedes Herz das Herz, nach dem es schmachtete, an seiner Brust ge¬ halten hätte; aber jeder weinte noch einsam ohne seinen Geliebten fort.
Endlich schlug die Gestalt den weißen Schleier auf und der Engel des Endes stand vor den Menschen. Das Wölkgen, das um ihn ging, war die Zeit -- so bald er das Wölkgen erreichte, so würd' er es zerdrücken und die Zeit und die Men¬ schen wären vernichtet.
Als der Engel des Endes sich entschleiert hatte: lächelte er die Menschen unbeschreiblich lieblich an, um ihr Herz durch Wonne und durch das Lächeln zu zertreiben. Und ein sanftes Licht fiel aus seinen Augen auf alle Gestalten und jeder sah die Seele vor sich stehen, die er am meisten liebte -- und als sie einander vor Liebe sterbend anschaueten und auf¬ gelöset dem Engel nachlächelten: grif er nach dem nahen Wölkgen -- aber er erreichte es nicht.
Plötzlich sah jeder neben sich noch einmal Sich -- das zweite Ich zitterte durchsichtig neben dem
ſtanden, damit das einſchneidende Schwirren jeden Bebenden zerlegte. — Und eine hohe Geſtalt, um die ein dunkles Woͤlkgen zog, trat auf in einem weißen Schleier und ſagte melodiſch: »vergehet »ſuͤßer an Toͤnen.»
Ach! ſie waͤren vergangen und gern vergangen an der Wehmuth der Melodie, wenn jedes Herz das Herz, nach dem es ſchmachtete, an ſeiner Bruſt ge¬ halten haͤtte; aber jeder weinte noch einſam ohne ſeinen Geliebten fort.
Endlich ſchlug die Geſtalt den weißen Schleier auf und der Engel des Endes ſtand vor den Menſchen. Das Woͤlkgen, das um ihn ging, war die Zeit — ſo bald er das Woͤlkgen erreichte, ſo wuͤrd' er es zerdruͤcken und die Zeit und die Men¬ ſchen waͤren vernichtet.
Als der Engel des Endes ſich entſchleiert hatte: laͤchelte er die Menſchen unbeſchreiblich lieblich an, um ihr Herz durch Wonne und durch das Laͤcheln zu zertreiben. Und ein ſanftes Licht fiel aus ſeinen Augen auf alle Geſtalten und jeder ſah die Seele vor ſich ſtehen, die er am meiſten liebte — und als ſie einander vor Liebe ſterbend anſchaueten und auf¬ geloͤſet dem Engel nachlaͤchelten: grif er nach dem nahen Woͤlkgen — aber er erreichte es nicht.
Ploͤtzlich ſah jeder neben ſich noch einmal Sich — das zweite Ich zitterte durchſichtig neben dem
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ſtanden, damit das einſchneidende Schwirren jeden
Bebenden zerlegte. — Und eine hohe Geſtalt, um
die ein dunkles Woͤlkgen zog, trat auf in einem
weißen Schleier und ſagte melodiſch: »vergehet
»ſuͤßer an Toͤnen.»
Ach! ſie waͤren vergangen und gern vergangen
an der Wehmuth der Melodie, wenn jedes Herz das
Herz, nach dem es ſchmachtete, an ſeiner Bruſt ge¬
halten haͤtte; aber jeder weinte noch einſam ohne
ſeinen Geliebten fort.
Endlich ſchlug die Geſtalt den weißen Schleier
auf und der Engel des Endes ſtand vor den
Menſchen. Das Woͤlkgen, das um ihn ging, war
die Zeit — ſo bald er das Woͤlkgen erreichte, ſo
wuͤrd' er es zerdruͤcken und die Zeit und die Men¬
ſchen waͤren vernichtet.
Als der Engel des Endes ſich entſchleiert hatte:
laͤchelte er die Menſchen unbeſchreiblich lieblich an,
um ihr Herz durch Wonne und durch das Laͤcheln
zu zertreiben. Und ein ſanftes Licht fiel aus ſeinen
Augen auf alle Geſtalten und jeder ſah die Seele
vor ſich ſtehen, die er am meiſten liebte — und als
ſie einander vor Liebe ſterbend anſchaueten und auf¬
geloͤſet dem Engel nachlaͤchelten: grif er nach dem
nahen Woͤlkgen — aber er erreichte es nicht.
Ploͤtzlich ſah jeder neben ſich noch einmal Sich
— das zweite Ich zitterte durchſichtig neben dem
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Jean Paul: Hesperus, oder 45 Hundsposttage. Drittes Heftlein. Berlin, 1795, S. 294. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/paul_hesperus03_1795/304>, abgerufen am 23.11.2024.
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