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Jean Paul: Hesperus, oder 45 Hundsposttage. Drittes Heftlein. Berlin, 1795.

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"und dich du guter alter Bienenvater *) und will dir
"deine Freudenstunden Uhr zurückgeben -- -- und
"dann werd' ich genug gelebt haben."

Er fragte sich: "bin ich denn reif für die Obstkam¬
"mer des Kirchhofs? -- Aber ist denn jeder Mensch
"reif? ist er nicht im 90sten Jahr so unvollendet
"wie im 20sten?" -- Ja wol! der Tod nimmt
Kinder ab und Feuerländer; der Mensch ist Som¬
merobst, das der Himmel brechen muß, eh' es [ - 1 Zeichen fehlt]ei¬
tigt. Die andere Welt ist keine gleichgeschnittene
Allee und Orangerie, sondern die Baumschule un¬
serer hiesigen Saamenschule.

Ehe Viktor mit Küssen und Weinen vom Blin¬
den gieng: beschied er Abends vorher die arme Ma¬
rie ins Kabinett und empfahl ihr (wie dem italieni¬
schen Bedienten) die Pflege des Blinden. Aber sei¬
ne Absicht war, der zerbrochenen kraftlosen Seele
die Hoffnung einiger 100 fl. -- so viel durft' er
schon als Erbschaft von seinem bemittelten Vater
Eyman begehren -- voraus zu geben und anzukündi¬
gen. Der Eigennutz dieser Erniedrigten, der andere
kalt gemacht hätte, rührte gerade sein Innerstes:
schon längst hatt' er gesagt: "man sollte mit keinem
"Menschen Mitleid haben, der philosophisch oder
"erhaben dächte, am wenigsten mit einem Gelehr¬

*) Zeidler Lind in Kusseviz.

»und dich du guter alter Bienenvater *) und will dir
»deine Freudenſtunden Uhr zuruͤckgeben — — und
»dann werd' ich genug gelebt haben.«

Er fragte ſich: »bin ich denn reif fuͤr die Obſtkam¬
»mer des Kirchhofs? — Aber iſt denn jeder Menſch
»reif? iſt er nicht im 90ſten Jahr ſo unvollendet
»wie im 20ſten?» — Ja wol! der Tod nimmt
Kinder ab und Feuerlaͤnder; der Menſch iſt Som¬
merobſt, das der Himmel brechen muß, eh' es [ – 1 Zeichen fehlt]ei¬
tigt. Die andere Welt iſt keine gleichgeſchnittene
Allee und Orangerie, ſondern die Baumſchule un¬
ſerer hieſigen Saamenſchule.

Ehe Viktor mit Kuͤſſen und Weinen vom Blin¬
den gieng: beſchied er Abends vorher die arme Ma¬
rie ins Kabinett und empfahl ihr (wie dem italieni¬
ſchen Bedienten) die Pflege des Blinden. Aber ſei¬
ne Abſicht war, der zerbrochenen kraftloſen Seele
die Hoffnung einiger 100 fl. — ſo viel durft' er
ſchon als Erbſchaft von ſeinem bemittelten Vater
Eyman begehren — voraus zu geben und anzukuͤndi¬
gen. Der Eigennutz dieſer Erniedrigten, der andere
kalt gemacht haͤtte, ruͤhrte gerade ſein Innerſtes:
ſchon laͤngſt hatt' er geſagt: »man ſollte mit keinem
»Menſchen Mitleid haben, der philoſophiſch oder
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[365/0375] »und dich du guter alter Bienenvater *) und will dir »deine Freudenſtunden Uhr zuruͤckgeben — — und »dann werd' ich genug gelebt haben.« Er fragte ſich: »bin ich denn reif fuͤr die Obſtkam¬ »mer des Kirchhofs? — Aber iſt denn jeder Menſch »reif? iſt er nicht im 90ſten Jahr ſo unvollendet »wie im 20ſten?» — Ja wol! der Tod nimmt Kinder ab und Feuerlaͤnder; der Menſch iſt Som¬ merobſt, das der Himmel brechen muß, eh' es _ei¬ tigt. Die andere Welt iſt keine gleichgeſchnittene Allee und Orangerie, ſondern die Baumſchule un¬ ſerer hieſigen Saamenſchule. Ehe Viktor mit Kuͤſſen und Weinen vom Blin¬ den gieng: beſchied er Abends vorher die arme Ma¬ rie ins Kabinett und empfahl ihr (wie dem italieni¬ ſchen Bedienten) die Pflege des Blinden. Aber ſei¬ ne Abſicht war, der zerbrochenen kraftloſen Seele die Hoffnung einiger 100 fl. — ſo viel durft' er ſchon als Erbſchaft von ſeinem bemittelten Vater Eyman begehren — voraus zu geben und anzukuͤndi¬ gen. Der Eigennutz dieſer Erniedrigten, der andere kalt gemacht haͤtte, ruͤhrte gerade ſein Innerſtes: ſchon laͤngſt hatt' er geſagt: »man ſollte mit keinem »Menſchen Mitleid haben, der philoſophiſch oder »erhaben daͤchte, am wenigſten mit einem Gelehr¬ *) Zeidler Lind in Kuſſeviz.

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Zitationshilfe: Jean Paul: Hesperus, oder 45 Hundsposttage. Drittes Heftlein. Berlin, 1795, S. 365. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/paul_hesperus03_1795/375>, abgerufen am 23.11.2024.