Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Jean Paul: Die unsichtbare Loge. Bd. 1. Berlin, 1793.

Bild:
<< vorherige Seite

ist's in diesem deutschen und belgischen Leben nicht
möglich zu machen, daß der Mensch über 5 oder
6male zum erstenmale küsse. Später sieht er alle¬
zeit in seine Sachdefinition, die er von einem
Kusse im Kopfe hat, ordentlich hinein und zitirt
den Paragraphen wo's steht; der ganze Inhalt des
dummen Paragraphen ist aber der, das ganze Ding
sei ein Zusammenplätten rother Häute. Warlich
ein sentimentalischer Autor kann sich nicht nieder¬
setzen und bedenken, daß ein Kuß eines von den
wenigen Dingen ist, die nur genossen werden wenn
unter dem Geistigen das Körperliche nicht vorschmeckt
-- ohne daß ein solcher sentimentalischer Autor (es ist
niemand als ich) die ausfilzet, die nicht soviel Ver¬
stand haben wie er -- er filzet nicht bloß die Her¬
ren Veit Weber und Kotzebue, in deren
Schriften zuviele Küsse stehen, sondern auch andre
Leute aus, in deren Leben zuviele sind, nament¬
lich ganze Pickenicks, die einander nach dem Tisch¬
gebet die Wangen mit den Lippen abbürsten und
anschröpfen. Kömmts gar so weit, daß diese schö¬
ne Lippenblüte unsers Gesichts sich an Häuten von
Schaafen und von Seidenraupen, an Handsanda¬
len zerknüllen muß: so will ein Autor von so viel

iſt's in dieſem deutſchen und belgiſchen Leben nicht
moͤglich zu machen, daß der Menſch uͤber 5 oder
6male zum erſtenmale kuͤſſe. Spaͤter ſieht er alle¬
zeit in ſeine Sachdefinition, die er von einem
Kuſſe im Kopfe hat, ordentlich hinein und zitirt
den Paragraphen wo's ſteht; der ganze Inhalt des
dummen Paragraphen iſt aber der, das ganze Ding
ſei ein Zuſammenplaͤtten rother Haͤute. Warlich
ein ſentimentaliſcher Autor kann ſich nicht nieder¬
ſetzen und bedenken, daß ein Kuß eines von den
wenigen Dingen iſt, die nur genoſſen werden wenn
unter dem Geiſtigen das Koͤrperliche nicht vorſchmeckt
— ohne daß ein ſolcher ſentimentaliſcher Autor (es iſt
niemand als ich) die ausfilzet, die nicht ſoviel Ver¬
ſtand haben wie er — er filzet nicht bloß die Her¬
ren Veit Weber und Kotzebue, in deren
Schriften zuviele Kuͤſſe ſtehen, ſondern auch andre
Leute aus, in deren Leben zuviele ſind, nament¬
lich ganze Pickenicks, die einander nach dem Tiſch¬
gebet die Wangen mit den Lippen abbuͤrſten und
anſchroͤpfen. Koͤmmts gar ſo weit, daß dieſe ſchoͤ¬
ne Lippenbluͤte unſers Geſichts ſich an Haͤuten von
Schaafen und von Seidenraupen, an Handſanda¬
len zerknuͤllen muß: ſo will ein Autor von ſo viel

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0253" n="217"/>
i&#x017F;t's in die&#x017F;em deut&#x017F;chen und belgi&#x017F;chen Leben nicht<lb/>
mo&#x0364;glich zu machen, daß der Men&#x017F;ch u&#x0364;ber 5 oder<lb/>
6male zum er&#x017F;tenmale ku&#x0364;&#x017F;&#x017F;e. Spa&#x0364;ter &#x017F;ieht er alle¬<lb/>
zeit in &#x017F;eine Sachdefinition, die er von einem<lb/>
Ku&#x017F;&#x017F;e im Kopfe hat, ordentlich hinein und zitirt<lb/>
den Paragraphen wo's &#x017F;teht; der ganze Inhalt des<lb/>
dummen Paragraphen i&#x017F;t aber der, das ganze Ding<lb/>
&#x017F;ei ein Zu&#x017F;ammenpla&#x0364;tten rother Ha&#x0364;ute. Warlich<lb/>
ein &#x017F;entimentali&#x017F;cher Autor kann &#x017F;ich nicht nieder¬<lb/>
&#x017F;etzen und bedenken, daß ein Kuß eines von den<lb/>
wenigen Dingen i&#x017F;t, die nur geno&#x017F;&#x017F;en werden wenn<lb/>
unter dem Gei&#x017F;tigen das Ko&#x0364;rperliche nicht vor&#x017F;chmeckt<lb/>
&#x2014; ohne daß ein &#x017F;olcher &#x017F;entimentali&#x017F;cher Autor (es i&#x017F;t<lb/>
niemand als ich) die ausfilzet, die nicht &#x017F;oviel Ver¬<lb/>
&#x017F;tand haben wie er &#x2014; er filzet nicht bloß die Her¬<lb/>
ren <hi rendition="#g">Veit Weber</hi> und <hi rendition="#g">Kotzebue</hi>, in deren<lb/>
Schriften zuviele Ku&#x0364;&#x017F;&#x017F;e &#x017F;tehen, &#x017F;ondern auch andre<lb/>
Leute aus, in deren Leben zuviele &#x017F;ind, nament¬<lb/>
lich ganze Pickenicks, die einander nach dem Ti&#x017F;ch¬<lb/>
gebet die Wangen mit den Lippen abbu&#x0364;r&#x017F;ten und<lb/>
an&#x017F;chro&#x0364;pfen. Ko&#x0364;mmts gar &#x017F;o weit, daß die&#x017F;e &#x017F;cho&#x0364;¬<lb/>
ne Lippenblu&#x0364;te un&#x017F;ers Ge&#x017F;ichts &#x017F;ich an Ha&#x0364;uten von<lb/>
Schaafen und von Seidenraupen, an Hand&#x017F;anda¬<lb/>
len zerknu&#x0364;llen muß: &#x017F;o will ein Autor von &#x017F;o viel<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[217/0253] iſt's in dieſem deutſchen und belgiſchen Leben nicht moͤglich zu machen, daß der Menſch uͤber 5 oder 6male zum erſtenmale kuͤſſe. Spaͤter ſieht er alle¬ zeit in ſeine Sachdefinition, die er von einem Kuſſe im Kopfe hat, ordentlich hinein und zitirt den Paragraphen wo's ſteht; der ganze Inhalt des dummen Paragraphen iſt aber der, das ganze Ding ſei ein Zuſammenplaͤtten rother Haͤute. Warlich ein ſentimentaliſcher Autor kann ſich nicht nieder¬ ſetzen und bedenken, daß ein Kuß eines von den wenigen Dingen iſt, die nur genoſſen werden wenn unter dem Geiſtigen das Koͤrperliche nicht vorſchmeckt — ohne daß ein ſolcher ſentimentaliſcher Autor (es iſt niemand als ich) die ausfilzet, die nicht ſoviel Ver¬ ſtand haben wie er — er filzet nicht bloß die Her¬ ren Veit Weber und Kotzebue, in deren Schriften zuviele Kuͤſſe ſtehen, ſondern auch andre Leute aus, in deren Leben zuviele ſind, nament¬ lich ganze Pickenicks, die einander nach dem Tiſch¬ gebet die Wangen mit den Lippen abbuͤrſten und anſchroͤpfen. Koͤmmts gar ſo weit, daß dieſe ſchoͤ¬ ne Lippenbluͤte unſers Geſichts ſich an Haͤuten von Schaafen und von Seidenraupen, an Handſanda¬ len zerknuͤllen muß: ſo will ein Autor von ſo viel

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/paul_loge01_1793
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/paul_loge01_1793/253
Zitationshilfe: Jean Paul: Die unsichtbare Loge. Bd. 1. Berlin, 1793, S. 217. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/paul_loge01_1793/253>, abgerufen am 22.11.2024.