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Jean Paul: Die unsichtbare Loge. Bd. 1. Berlin, 1793.

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Gustav war jetzt in der Mitte des schönsten
und wichtigsten Jahrzehends der menschlichen Flucht
ins Grab, im zweiten nämlich. Dieses Jahrzehend
des Lebens besteht aus den längsten und heissesten
Tagen; und -- wie die heisse Zone zugleich die Größe
und den Gift der Thiere mehrt -- so kocht sich an
der Jünglingsglut zwar die Liebe reif, die Freund¬
schaft, der Wahrheits-Eifer, der Dichtergeist,
aber auch die Leidenschaften mit ihren Giftzähnen
und Giftblasen. In diesem Jahrzehend schleicht das
Mädchen aus ihren durchlachten Jahren weg und ver¬
birgt das trübere Auge unter derselben hängenden
Trauerweide, worunter der stille Jüngling seine Brust
und ihre Seufzer kühlt, die für etwas nähers steigen
als für Mond und Nachtigal. Glücklicher Jüngling!
in dieser Minute nehmen alle Grazien deine Hand,
die dichterischen, die weiblichen und die Natur selbst
und legen ihre Unsichtbarkeit ab und schliessen dich
in einen Zauberkreis von Engeln ein. Ich sagte,
selbst die Natur: denn auf ihr glühen noch höhere
Reize als die malerischen; und der Mensch, für des¬
sen Auge sie ein meilenlanges Kniestück voll Zaube¬
reien war, kann ihr ein Herz mitbringen, das aus
ihr ein Pygmalions-Gebilde macht, welches tausend

S 2

Guſtav war jetzt in der Mitte des ſchoͤnſten
und wichtigſten Jahrzehends der menſchlichen Flucht
ins Grab, im zweiten naͤmlich. Dieſes Jahrzehend
des Lebens beſteht aus den laͤngſten und heiſſeſten
Tagen; und — wie die heiſſe Zone zugleich die Groͤße
und den Gift der Thiere mehrt — ſo kocht ſich an
der Juͤnglingsglut zwar die Liebe reif, die Freund¬
ſchaft, der Wahrheits-Eifer, der Dichtergeiſt,
aber auch die Leidenſchaften mit ihren Giftzaͤhnen
und Giftblaſen. In dieſem Jahrzehend ſchleicht das
Maͤdchen aus ihren durchlachten Jahren weg und ver¬
birgt das truͤbere Auge unter derſelben haͤngenden
Trauerweide, worunter der ſtille Juͤngling ſeine Bruſt
und ihre Seufzer kuͤhlt, die fuͤr etwas naͤhers ſteigen
als fuͤr Mond und Nachtigal. Gluͤcklicher Juͤngling!
in dieſer Minute nehmen alle Grazien deine Hand,
die dichteriſchen, die weiblichen und die Natur ſelbſt
und legen ihre Unſichtbarkeit ab und ſchlieſſen dich
in einen Zauberkreis von Engeln ein. Ich ſagte,
ſelbſt die Natur: denn auf ihr gluͤhen noch hoͤhere
Reize als die maleriſchen; und der Menſch, fuͤr deſ¬
ſen Auge ſie ein meilenlanges Knieſtuͤck voll Zaube¬
reien war, kann ihr ein Herz mitbringen, das aus
ihr ein Pygmalions-Gebilde macht, welches tauſend

S 2
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[275/0311] Guſtav war jetzt in der Mitte des ſchoͤnſten und wichtigſten Jahrzehends der menſchlichen Flucht ins Grab, im zweiten naͤmlich. Dieſes Jahrzehend des Lebens beſteht aus den laͤngſten und heiſſeſten Tagen; und — wie die heiſſe Zone zugleich die Groͤße und den Gift der Thiere mehrt — ſo kocht ſich an der Juͤnglingsglut zwar die Liebe reif, die Freund¬ ſchaft, der Wahrheits-Eifer, der Dichtergeiſt, aber auch die Leidenſchaften mit ihren Giftzaͤhnen und Giftblaſen. In dieſem Jahrzehend ſchleicht das Maͤdchen aus ihren durchlachten Jahren weg und ver¬ birgt das truͤbere Auge unter derſelben haͤngenden Trauerweide, worunter der ſtille Juͤngling ſeine Bruſt und ihre Seufzer kuͤhlt, die fuͤr etwas naͤhers ſteigen als fuͤr Mond und Nachtigal. Gluͤcklicher Juͤngling! in dieſer Minute nehmen alle Grazien deine Hand, die dichteriſchen, die weiblichen und die Natur ſelbſt und legen ihre Unſichtbarkeit ab und ſchlieſſen dich in einen Zauberkreis von Engeln ein. Ich ſagte, ſelbſt die Natur: denn auf ihr gluͤhen noch hoͤhere Reize als die maleriſchen; und der Menſch, fuͤr deſ¬ ſen Auge ſie ein meilenlanges Knieſtuͤck voll Zaube¬ reien war, kann ihr ein Herz mitbringen, das aus ihr ein Pygmalions-Gebilde macht, welches tauſend S 2

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Zitationshilfe: Jean Paul: Die unsichtbare Loge. Bd. 1. Berlin, 1793, S. 275. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/paul_loge01_1793/311>, abgerufen am 21.11.2024.