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Jean Paul: Die unsichtbare Loge. Bd. 1. Berlin, 1793.

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Arm und Blumenkorb abgebrochen sind. Der gute
Hr. von Oefel ist unterdessen im alten Schlosse bei
der Residentin.

Sobald ich nicht arbeite, drückt jedes Zimmer,
jedes Haus, jedes Gesicht auf mich herein -- Und
doch, wenn ichs wieder thue -- zwar wenn trübes
Wetter ist wie vorige Woche, mach' ich mein ma¬
thematisches Reißzeug so gern wie ein Schmuckkäst¬
chen auf; aber wenn ein Flammenmorgen unter
dem Geschrei aller Vögel, sogar der gefangnen,
von den Dächern in unsere Gassen niedersinkt,
wenn der Postillon mich mit seinem Horn erinnert,
daß er aus den eckigen, spitzigen, verwitternden,
unorganisch zusammengeleimten Schutthaufen der
getödteten Natur, die eine Stadt heissen, jetzt
hinauskomme in das pulsirende, drängende, knos¬
pende Gewühl der nicht ermordeten Natur, wo ei¬
ne Wurzel die andre umklammert, wo alles mit
und in einander wächset und alle kleinere Leben sich
zu Einem großen unendlichen Leben in einander
schlingen: so tritt jeder Blutstropfen meines Her¬
zens zurück vor den Pechkränzen, Trancheekatzen
und vor den Wischkolben, womit die Artillerie un¬
sere blauen Morgenstunden ausstopfet -- dennoch

Arm und Blumenkorb abgebrochen ſind. Der gute
Hr. von Oefel iſt unterdeſſen im alten Schloſſe bei
der Reſidentin.

Sobald ich nicht arbeite, druͤckt jedes Zimmer,
jedes Haus, jedes Geſicht auf mich herein — Und
doch, wenn ichs wieder thue — zwar wenn truͤbes
Wetter iſt wie vorige Woche, mach' ich mein ma¬
thematiſches Reißzeug ſo gern wie ein Schmuckkaͤſt¬
chen auf; aber wenn ein Flammenmorgen unter
dem Geſchrei aller Voͤgel, ſogar der gefangnen,
von den Daͤchern in unſere Gaſſen niederſinkt,
wenn der Poſtillon mich mit ſeinem Horn erinnert,
daß er aus den eckigen, ſpitzigen, verwitternden,
unorganiſch zuſammengeleimten Schutthaufen der
getoͤdteten Natur, die eine Stadt heiſſen, jetzt
hinauskomme in das pulſirende, draͤngende, knoſ¬
pende Gewuͤhl der nicht ermordeten Natur, wo ei¬
ne Wurzel die andre umklammert, wo alles mit
und in einander waͤchſet und alle kleinere Leben ſich
zu Einem großen unendlichen Leben in einander
ſchlingen: ſo tritt jeder Blutstropfen meines Her¬
zens zuruͤck vor den Pechkraͤnzen, Trancheekatzen
und vor den Wiſchkolben, womit die Artillerie un¬
ſere blauen Morgenſtunden ausſtopfet — dennoch

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[299/0335] Arm und Blumenkorb abgebrochen ſind. Der gute Hr. von Oefel iſt unterdeſſen im alten Schloſſe bei der Reſidentin. Sobald ich nicht arbeite, druͤckt jedes Zimmer, jedes Haus, jedes Geſicht auf mich herein — Und doch, wenn ichs wieder thue — zwar wenn truͤbes Wetter iſt wie vorige Woche, mach' ich mein ma¬ thematiſches Reißzeug ſo gern wie ein Schmuckkaͤſt¬ chen auf; aber wenn ein Flammenmorgen unter dem Geſchrei aller Voͤgel, ſogar der gefangnen, von den Daͤchern in unſere Gaſſen niederſinkt, wenn der Poſtillon mich mit ſeinem Horn erinnert, daß er aus den eckigen, ſpitzigen, verwitternden, unorganiſch zuſammengeleimten Schutthaufen der getoͤdteten Natur, die eine Stadt heiſſen, jetzt hinauskomme in das pulſirende, draͤngende, knoſ¬ pende Gewuͤhl der nicht ermordeten Natur, wo ei¬ ne Wurzel die andre umklammert, wo alles mit und in einander waͤchſet und alle kleinere Leben ſich zu Einem großen unendlichen Leben in einander ſchlingen: ſo tritt jeder Blutstropfen meines Her¬ zens zuruͤck vor den Pechkraͤnzen, Trancheekatzen und vor den Wiſchkolben, womit die Artillerie un¬ ſere blauen Morgenſtunden ausſtopfet — dennoch

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Zitationshilfe: Jean Paul: Die unsichtbare Loge. Bd. 1. Berlin, 1793, S. 299. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/paul_loge01_1793/335>, abgerufen am 21.11.2024.