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Jean Paul: Die unsichtbare Loge. Bd. 2. Berlin, 1793.

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Mit der hohen Fluth der Traurigkeit entschuldi¬
ge man es, daß Gustav, der bisher immer die Pa¬
roxismen seiner Empfindungen zum Besten des an¬
dern versteckte, sie hier auf Kosten eines andern her¬
vorbrechen ließ. Sein Schmerz gieng so weit, daß
er vom Vater den Altagsrock und Hut des Seligen
statt seines Kniestückes begehrte: er fühlte wie ich,
daß Altagskleider die besten Schattenrisse, Gipsab¬
güsse und Pasten eines Menschen sind, den man lieb
gehabt und der aus ihnen und den Körper heraus ist.
-- Die Antwort des Doktors lautet so:


"Ich habe mich oft an die Polster meines medi¬
zinischen Wagens gelehnt und mir vorgestellt und
vorgenommen, wenn ich einmal graue Augenbraunen
und Kopfhaare oder gar keine mehr habe -- wenn mir
alle Jahrszeiten immer kürzer und alle Nächte darin
immer länger vorkommen, welches vor der Annähe¬
rung der längsten vorausgeht -- wenn ich dann in
den ersten Frühlingstage ins stille Land hinausgehe
um meinen kalten interpolirten Körper zu sonnen --
wenn ich dann aussen die klebenden treiberden Knos¬
pen sehe, unter denen ein ganzer Sommer steckt,
und in mir innen das ewige Abblättern und Umbeu¬

Mit der hohen Fluth der Traurigkeit entſchuldi¬
ge man es, daß Guſtav, der bisher immer die Pa¬
roxiſmen ſeiner Empfindungen zum Beſten des an¬
dern verſteckte, ſie hier auf Koſten eines andern her¬
vorbrechen ließ. Sein Schmerz gieng ſo weit, daß
er vom Vater den Altagsrock und Hut des Seligen
ſtatt ſeines Knieſtuͤckes begehrte: er fuͤhlte wie ich,
daß Altagskleider die beſten Schattenriſſe, Gipsab¬
guͤſſe und Paſten eines Menſchen ſind, den man lieb
gehabt und der aus ihnen und den Koͤrper heraus iſt.
— Die Antwort des Doktors lautet ſo:


„Ich habe mich oft an die Polſter meines medi¬
ziniſchen Wagens gelehnt und mir vorgeſtellt und
vorgenommen, wenn ich einmal graue Augenbraunen
und Kopfhaare oder gar keine mehr habe — wenn mir
alle Jahrszeiten immer kuͤrzer und alle Naͤchte darin
immer laͤnger vorkommen, welches vor der Annaͤhe¬
rung der laͤngſten vorausgeht — wenn ich dann in
den erſten Fruͤhlingstage ins ſtille Land hinausgehe
um meinen kalten interpolirten Koͤrper zu ſonnen —
wenn ich dann auſſen die klebenden treiberden Knoſ¬
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[104/0114] Mit der hohen Fluth der Traurigkeit entſchuldi¬ ge man es, daß Guſtav, der bisher immer die Pa¬ roxiſmen ſeiner Empfindungen zum Beſten des an¬ dern verſteckte, ſie hier auf Koſten eines andern her¬ vorbrechen ließ. Sein Schmerz gieng ſo weit, daß er vom Vater den Altagsrock und Hut des Seligen ſtatt ſeines Knieſtuͤckes begehrte: er fuͤhlte wie ich, daß Altagskleider die beſten Schattenriſſe, Gipsab¬ guͤſſe und Paſten eines Menſchen ſind, den man lieb gehabt und der aus ihnen und den Koͤrper heraus iſt. — Die Antwort des Doktors lautet ſo: „Ich habe mich oft an die Polſter meines medi¬ ziniſchen Wagens gelehnt und mir vorgeſtellt und vorgenommen, wenn ich einmal graue Augenbraunen und Kopfhaare oder gar keine mehr habe — wenn mir alle Jahrszeiten immer kuͤrzer und alle Naͤchte darin immer laͤnger vorkommen, welches vor der Annaͤhe¬ rung der laͤngſten vorausgeht — wenn ich dann in den erſten Fruͤhlingstage ins ſtille Land hinausgehe um meinen kalten interpolirten Koͤrper zu ſonnen — wenn ich dann auſſen die klebenden treiberden Knoſ¬ pen ſehe, unter denen ein ganzer Sommer ſteckt, und in mir innen das ewige Abblaͤttern und Umbeu¬

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Zitationshilfe: Jean Paul: Die unsichtbare Loge. Bd. 2. Berlin, 1793, S. 104. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/paul_loge02_1793/114>, abgerufen am 21.11.2024.