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Jean Paul: Die unsichtbare Loge. Bd. 2. Berlin, 1793.

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die sonst bloß die Form, nie die Farbe jener um¬
laubten verbotnen Frucht errathen ließ, hat schwer
lernen.

Die wenigsten wären, wie ich und der Kon¬
rektor, im Stande gewesen, ihr das Bild eigen¬
händig wieder einzuhängen.

"Dieses Kabinett, sagte sie, lieb' ich, wenn
ich traurig bin. Hier überraschte mich mein Al¬
ban
, (Name des Bruders) da er aus London
kam -- hier schrieb er seine Briefe -- hier wollt'
er sterben, aber der Arzt ließ ihn nicht aus seinem
Zimmer." Sie ließ unbewußt einen in die Luft ver¬
sinkenden Akkord aus ihrer Laute schlüpfen. Sie blickte
Gustav träumerisch an, ihr Auge umzog sich mit
immer feuchteren Schimmer: "Ihre Schwester ist
noch glücklich!" sagte sie mit einem Trauerton,
der allmächtig ist, wenn man ihn das erstemal
von schönen und sonst lachenden Lippen hört. "Ach
ich wollte, (sagte er mit sympathetischem Kum¬
mer) ich hätte eine Schwester" -- sie sah ihn mit
einer kleinen forschenden Verwunderung an und
sagte: "auf dem Theater machten Sie heute gera¬
de die umgekehrte Rolle gegen die nämliche Person."
Dort nämlich gäb' er sich fälschlich für einen Bru¬

die ſonſt bloß die Form, nie die Farbe jener um¬
laubten verbotnen Frucht errathen ließ, hat ſchwer
lernen.

Die wenigſten waͤren, wie ich und der Kon¬
rektor, im Stande geweſen, ihr das Bild eigen¬
haͤndig wieder einzuhaͤngen.

„Dieſes Kabinett, ſagte ſie, lieb' ich, wenn
ich traurig bin. Hier uͤberraſchte mich mein Al¬
ban
, (Name des Bruders) da er aus London
kam — hier ſchrieb er ſeine Briefe — hier wollt'
er ſterben, aber der Arzt ließ ihn nicht aus ſeinem
Zimmer.” Sie ließ unbewußt einen in die Luft ver¬
ſinkenden Akkord aus ihrer Laute ſchluͤpfen. Sie blickte
Guſtav traͤumeriſch an, ihr Auge umzog ſich mit
immer feuchteren Schimmer: „Ihre Schweſter iſt
noch gluͤcklich!” ſagte ſie mit einem Trauerton,
der allmaͤchtig iſt, wenn man ihn das erſtemal
von ſchoͤnen und ſonſt lachenden Lippen hoͤrt. „Ach
ich wollte, (ſagte er mit ſympathetiſchem Kum¬
mer) ich haͤtte eine Schweſter” — ſie ſah ihn mit
einer kleinen forſchenden Verwunderung an und
ſagte: „auf dem Theater machten Sie heute gera¬
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[220/0230] die ſonſt bloß die Form, nie die Farbe jener um¬ laubten verbotnen Frucht errathen ließ, hat ſchwer lernen. Die wenigſten waͤren, wie ich und der Kon¬ rektor, im Stande geweſen, ihr das Bild eigen¬ haͤndig wieder einzuhaͤngen. „Dieſes Kabinett, ſagte ſie, lieb' ich, wenn ich traurig bin. Hier uͤberraſchte mich mein Al¬ ban, (Name des Bruders) da er aus London kam — hier ſchrieb er ſeine Briefe — hier wollt' er ſterben, aber der Arzt ließ ihn nicht aus ſeinem Zimmer.” Sie ließ unbewußt einen in die Luft ver¬ ſinkenden Akkord aus ihrer Laute ſchluͤpfen. Sie blickte Guſtav traͤumeriſch an, ihr Auge umzog ſich mit immer feuchteren Schimmer: „Ihre Schweſter iſt noch gluͤcklich!” ſagte ſie mit einem Trauerton, der allmaͤchtig iſt, wenn man ihn das erſtemal von ſchoͤnen und ſonſt lachenden Lippen hoͤrt. „Ach ich wollte, (ſagte er mit ſympathetiſchem Kum¬ mer) ich haͤtte eine Schweſter” — ſie ſah ihn mit einer kleinen forſchenden Verwunderung an und ſagte: „auf dem Theater machten Sie heute gera¬ de die umgekehrte Rolle gegen die naͤmliche Perſon.” Dort naͤmlich gaͤb' er ſich faͤlſchlich fuͤr einen Bru¬

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Zitationshilfe: Jean Paul: Die unsichtbare Loge. Bd. 2. Berlin, 1793, S. 220. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/paul_loge02_1793/230>, abgerufen am 21.11.2024.