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Jean Paul: Die unsichtbare Loge. Bd. 2. Berlin, 1793.

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nahm seine Farben von ihrem Auge und ihrer Lip¬
pe, und seine Seele von ihrem Ton und sie en¬
digte damit: "hier leidet jeder allein." Er er¬
griff im sympathetischen Enthusiasmus ihre Hand
und wiederlegte sie vielleicht durch einen leisen
Druck.

Sie ließ ihm die Hand mit der unachtsamsten
Miene; schien aber bald eine Laute neben ihnen,
die sie ergriff, zum Vorwand zu nehmen, um die
schöne Hand zurück zu führen. "Ich war nie un¬
glücklich, fuhr sie bewegt fort, so lange mein
Bruder noch lebte." Sie nahm nun das Bild des¬
selben, das sie auf ihrem schwesterlichen Busen
trug, nach einer leichten aber nothwendigen Ent¬
hüllung hervor und theilte es karg seinen Augen
mit, und freigebig den ihrigen. Ob Gustav bei
der Enthüllug so verschiedner Geheimnisse bloß auf
das gemalte Brustbild hingesehen -- das beur¬
theilt mein Konrektor und sein Fuchspelzrock am
vernünftigsten, welcher glaubt, es gebe keine schö¬
nere Ründe als der Perioden ihre, und keine
neuern Eva's Aepfel als die im Alten Bunde.
Mein Pelz-Konrektor hat gut doziren; aber Gu¬
stav, der der trauernden Residentin gegenübersitzt,

nahm ſeine Farben von ihrem Auge und ihrer Lip¬
pe, und ſeine Seele von ihrem Ton und ſie en¬
digte damit: „hier leidet jeder allein.“ Er er¬
griff im ſympathetiſchen Enthuſiaſmus ihre Hand
und wiederlegte ſie vielleicht durch einen leiſen
Druck.

Sie ließ ihm die Hand mit der unachtſamſten
Miene; ſchien aber bald eine Laute neben ihnen,
die ſie ergriff, zum Vorwand zu nehmen, um die
ſchoͤne Hand zuruͤck zu fuͤhren. „Ich war nie un¬
gluͤcklich, fuhr ſie bewegt fort, ſo lange mein
Bruder noch lebte.“ Sie nahm nun das Bild deſ¬
ſelben, das ſie auf ihrem ſchweſterlichen Buſen
trug, nach einer leichten aber nothwendigen Ent¬
huͤllung hervor und theilte es karg ſeinen Augen
mit, und freigebig den ihrigen. Ob Guſtav bei
der Enthuͤllug ſo verſchiedner Geheimniſſe bloß auf
das gemalte Bruſtbild hingeſehen — das beur¬
theilt mein Konrektor und ſein Fuchspelzrock am
vernuͤnftigſten, welcher glaubt, es gebe keine ſchoͤ¬
nere Ruͤnde als der Perioden ihre, und keine
neuern Eva's Aepfel als die im Alten Bunde.
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[219/0229] nahm ſeine Farben von ihrem Auge und ihrer Lip¬ pe, und ſeine Seele von ihrem Ton und ſie en¬ digte damit: „hier leidet jeder allein.“ Er er¬ griff im ſympathetiſchen Enthuſiaſmus ihre Hand und wiederlegte ſie vielleicht durch einen leiſen Druck. Sie ließ ihm die Hand mit der unachtſamſten Miene; ſchien aber bald eine Laute neben ihnen, die ſie ergriff, zum Vorwand zu nehmen, um die ſchoͤne Hand zuruͤck zu fuͤhren. „Ich war nie un¬ gluͤcklich, fuhr ſie bewegt fort, ſo lange mein Bruder noch lebte.“ Sie nahm nun das Bild deſ¬ ſelben, das ſie auf ihrem ſchweſterlichen Buſen trug, nach einer leichten aber nothwendigen Ent¬ huͤllung hervor und theilte es karg ſeinen Augen mit, und freigebig den ihrigen. Ob Guſtav bei der Enthuͤllug ſo verſchiedner Geheimniſſe bloß auf das gemalte Bruſtbild hingeſehen — das beur¬ theilt mein Konrektor und ſein Fuchspelzrock am vernuͤnftigſten, welcher glaubt, es gebe keine ſchoͤ¬ nere Ruͤnde als der Perioden ihre, und keine neuern Eva's Aepfel als die im Alten Bunde. Mein Pelz-Konrektor hat gut doziren; aber Gu¬ ſtav, der der trauernden Reſidentin gegenuͤberſitzt,

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Zitationshilfe: Jean Paul: Die unsichtbare Loge. Bd. 2. Berlin, 1793, S. 219. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/paul_loge02_1793/229>, abgerufen am 21.11.2024.