Balken, unter dem man in prophetischen Näch¬ ten hinaus horchen muß, um die Wolkengestalten der Zukunft zu sehen und zu hören. Und wahrhaf¬ tig ich sah im eigentlichen Sinn was der Aberglau¬ be sehen will -- ich sah wie er, Särge auf Dä¬ chern und Leichengefolge an der einen Thüre und Hochzeitgäste und Brautkranz an der andern, und das Menschen-Jahr zog durch das Dorf und hielt an seiner rechten Mutterbrust die kleinen Freuden, die mit dem Menschen spielen, und an seiner lin¬ ken die Schmerzen, die auf ihn anbellen; es wollte beide nähren, aber sie fielen sterbend ab und so oft ein Schmerz oder eine Freude abwelkte so oft schlug einer von den zwei Klöppeln zum Zei¬ chen an die Thurmglocken an. . . . Ich sah nach dem weißen Wald hinüber, hinter dem die Woh¬ nungen meiner Freunde liegen: o junges Jahr, sagt' ich, zieh zu meinen Freunden hin und leg ihnen in ihre Arme die Freuden aus deinen und nimm die zurückgebliebnen zähen Schmerzen des alten mit, die nicht sterben wollen! Geh' in alle vier Weltstraßen und vertheile die Säuglinge dei¬ ner rechten Brust und mir laße nur einen -- die Gesundheit! -- --
Die
Balken, unter dem man in prophetiſchen Naͤch¬ ten hinaus horchen muß, um die Wolkengeſtalten der Zukunft zu ſehen und zu hoͤren. Und wahrhaf¬ tig ich ſah im eigentlichen Sinn was der Aberglau¬ be ſehen will — ich ſah wie er, Saͤrge auf Daͤ¬ chern und Leichengefolge an der einen Thuͤre und Hochzeitgaͤſte und Brautkranz an der andern, und das Menſchen-Jahr zog durch das Dorf und hielt an ſeiner rechten Mutterbruſt die kleinen Freuden, die mit dem Menſchen ſpielen, und an ſeiner lin¬ ken die Schmerzen, die auf ihn anbellen; es wollte beide naͤhren, aber ſie fielen ſterbend ab und ſo oft ein Schmerz oder eine Freude abwelkte ſo oft ſchlug einer von den zwei Kloͤppeln zum Zei¬ chen an die Thurmglocken an. . . . Ich ſah nach dem weißen Wald hinuͤber, hinter dem die Woh¬ nungen meiner Freunde liegen: o junges Jahr, ſagt' ich, zieh zu meinen Freunden hin und leg ihnen in ihre Arme die Freuden aus deinen und nimm die zuruͤckgebliebnen zaͤhen Schmerzen des alten mit, die nicht ſterben wollen! Geh' in alle vier Weltſtraßen und vertheile die Saͤuglinge dei¬ ner rechten Bruſt und mir laße nur einen — die Geſundheit! — —
Die
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Balken, unter dem man in prophetiſchen Naͤch¬
ten hinaus horchen muß, um die Wolkengeſtalten
der Zukunft zu ſehen und zu hoͤren. Und wahrhaf¬
tig ich ſah im eigentlichen Sinn was der Aberglau¬
be ſehen will — ich ſah wie er, Saͤrge auf Daͤ¬
chern und Leichengefolge an der einen Thuͤre und
Hochzeitgaͤſte und Brautkranz an der andern, und
das Menſchen-Jahr zog durch das Dorf und hielt
an ſeiner rechten Mutterbruſt die kleinen Freuden,
die mit dem Menſchen ſpielen, und an ſeiner lin¬
ken die Schmerzen, die auf ihn anbellen; es
wollte beide naͤhren, aber ſie fielen ſterbend ab
und ſo oft ein Schmerz oder eine Freude abwelkte
ſo oft ſchlug einer von den zwei Kloͤppeln zum Zei¬
chen an die Thurmglocken an. . . . Ich ſah nach
dem weißen Wald hinuͤber, hinter dem die Woh¬
nungen meiner Freunde liegen: o junges Jahr,
ſagt' ich, zieh zu meinen Freunden hin und leg
ihnen in ihre Arme die Freuden aus deinen und
nimm die zuruͤckgebliebnen zaͤhen Schmerzen des
alten mit, die nicht ſterben wollen! Geh' in alle
vier Weltſtraßen und vertheile die Saͤuglinge dei¬
ner rechten Bruſt und mir laße nur einen — die
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Jean Paul: Die unsichtbare Loge. Bd. 2. Berlin, 1793, S. 239. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/paul_loge02_1793/249>, abgerufen am 21.11.2024.
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